Efeu - Die Kulturrundschau

Das Schöne sei der Glanz des Wahren

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07.01.2021. Die taz bewundert auf Netflix die unorthodoxe Energie von Kornél Mundruczós "Pieces of a Woman". Die SZ empfiehl Heiner Goebbels' neues, auf Gedichten von Henri Michaux basierendes Hörspiel "Gegenwärtig lebe ich allein..." Die FAZ sorgt sich um die deutsche Spieloper, die niemand mehr aufführen will. In der Zeit ermuntert Holger Noltze von der digitalen Plattform takt1, das Netz als Ding eigener Art zu begreifen und nicht nur als drögen Abspielort. Die FAZ  bestaunt die Muskulosität der neuen John-Cranko-Ballett-Schule.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.01.2021 finden Sie hier

Film

Durchlässige Präsenz im ästhetischen Schutzraum: Vanessa Kirby in "Pieces of a Woman" (Netflix)

Offenbar ziemlich intensiv geraten ist Kornél Mundruczós neuer, auf Netflix gezeigter Film "Pieces of a Woman", der erst den Stress einer Geburt detailliert und gefilmt in einer einzigen Einstellung schildert, dann aber die Mutter das Kind nur einen Moment lang lebend in Händen halten lässt. In dieser Rolle entwickelt Vanessa Kirby "eine unorthodoxe Energie", schreibt Anke Leweke in der taz. "Unbewusst scheint ihre Figur zu ahnen, dass es für die Trauerarbeit keine vorgefertigten Konzepte gibt", die Schauspielerin verleiht ihr "durchlässige Präsenz. ... Diese Heldin soll nicht auch noch durch die filmische Form bedrängt werden. Wohl deshalb verzichtet Mundruzcó auf extreme Nahaufnahmen. Bevorzugt arbeitet er mit der Halbtotalen, dabei ist seine Kamera ständig in fließender Bewegung. Es entsteht eine Art ästhetischer Schutzraum, in dem sich Martha ihrer Trauer nach und nach bewusst werden kann."

SZ-Kritikerin Johanna Adorján ist davon nicht ganz so ergriffen: "Man könnte etwas undiplomatisch sagen, der Regisseur weidet sich am Leid seiner Protagonisten. Auf jeden Fall lebt der Film von Schmerz. Und bei aller Schauspielkunst, die da versammelt ist, kommt es dabei leider zu ungewollt komischen Momenten" voller "erschütternd banaler Symbolik". Für ZeitOnline hat Patrick Heidmann mit Vanessa Kirby gesprochen.

Weiteres: In der taz dankt Ekkehard Knörer DVD-Labels wie Pidax, die zwar unkuratiert und völlig querbeet in erster Linie Masse veröffentlichen, dabei aber auch immer wieder filmhistorisch Relevantes auflesen - im aktuellen Fall etwa Julien Duviviers Kammerspiel "Marie-Octobre" von 1959 mit Lino Ventura und Bernard Blier. Dunja Bialas empfiehlt im Tagesspiegel die Online-Werkschau Philip Scheffner des Kinos Arsenal (mehr dazu bereits hier). Urs Bühler berichtet in der NZZ über die Online-Pläne des Solothurner Filmfestivals, das am 20. Januar beginnt. Claudius Seidl schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schauspielerin Tanya Roberts, deren Tod nach einigem Hin und Her nun final bestätigt wurde.

Besprochen werden George C. Wolfes Blues-Drama "Ma Rainey's Black Bottom" (taz), die Netflix-Serie "Die Geschichte der Schimpfwörter" mit Nicolas Cage (ZeitOnline) und die Netflix-Serie "Bridgerton" (Presse).
Archiv: Film

Architektur

Die neue John Cranko Ballettschule. Foto: Burger Rudacs Architekten

Manchmal macht die öffentliche Hand auch einfach mal was richtig, gibt Matthias Alexander zu, der in der FAZ die neue John Cranko Schule von Burger Rudacs Architekten in Stuttgart bewundert. "Die Architekten beschreiben ihren stark gegliederten und zugleich monolithischen Bau, der durch seine Lage eine enorme Präsenz im Stadtbild hat, als 'skulptural'. 'Körperlich' träfe es besser. Es ist eine harte, asketische Anmutung von klar definierter Muskulosität, die der - durch die Zugabe von Titandioxid gefällig aufgehellte - Sichtbeton als vorherrschendes Fassadenmaterial ausstrahlt. Sie passt gut zur harten Arbeit am eigenen Leib, den der Besuch einer Ballettschule bedeutet. Deshalb ist es nur logisch, dass der aufwendig verarbeitete Sichtbeton auch für das Innere als vorherrschendes Material genutzt wird und nur hier und da durch schwarze Fensterrahmen und dunkelgrau gebeizte Kiefernholzelemente sowie weiße Einbaumöbel kontrastiert wird. Kein Dekor, nirgends, stattdessen Konzentration auf das Wesentliche".

In der NZZ berichtet Sabine von Fischer, welche Folgen Trumps Präsidentschaft für die Architektur in den USA hat. Nicht nur hat Trump verfügt, für Regierungsbauten künftig klassizistische und traditionelle Architekturformen zu bevorzugen und die entsprechenden Verwaltungsstellen mit Neoklassizisten besetzt. Es sollen außerdem "die bestehenden Bauwerke aus der Moderne, die gemäß der neuen Verfügung nicht mehr als schön gelten dürfen", abgerissen werden. "Zum Appell, diesen und viele weitere 'unschöne' Bauten zum Abriss freizugeben, liefert das Papier des Präsidenten Definitionen zu verschiedensten Begriffen, von 'classical architecture' bis eben 'brutalist' (man bemerke: die ungeliebten Stilprädikate stehen isoliert)." Fischer hofft, dass mit Trump auch diese Verfügung bald im Orkus verschwindet, die immerhin ein Gutes hatte: "So viele Bekenntnisse zu den vielfältigen Architekturformen der Moderne wie in den doch zahlreichen Reaktionen gab es seit langem nicht mehr aufs Mal zu lesen."
Archiv: Architektur

Literatur

Der SWR hat Heiner Goebbels' neues, auf Gedichten von Henri Michaux basierendes Hörspiel "Gegenwärtig lebe ich allein..." online gestellt. Ein "befremdliches", aber auch "ungemein fesselndes" Hörstück, das Literatur und eigens dafür komponierte Musik verbindet, schreibt Stefan Fischer in der SZ: "Es gibt viele Kratz- und Wetz- und Schabegeräusche, metallisches Klirren, oft scharf und kantig - mechanisch erzeugt, elektronisch abgenommen und oft noch nachträglich bearbeitet. An einer Stelle vermischen sich Geräusche des Blätterns und des Regens, bis nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es ein Knistern oder Plätschern ist, ob absolute Nässe oder absolute Trockenheit herrscht. David Bennents Stimme korrespondiert mit diesem Sound. Kann selbst schneidend sein, eckig, aber auch flirrend. Am Ende des Stücks verzerrt Goebbels sie so stark, dass sie endgültig zu einem Instrument wird."

Auch tazlerin Gaby Hartel ist hingerissen: Michauxs "poetische Weltkritik entfaltet sich in der interessant brüchigen Stimme von David Bennett, die gerade wegen ihrer materiellen Beschaffenheit etwas suggestiv Durchlässiges, vom Bild des Schauspielers Losgelöstes hat. Als eigenständiges Ganzes wird sie zum geschmeidigen Gedankenträger, der sich durch die tiefen, teils vielschichtigen, teils flächigen und linearen Hörräume von Heiner Goebbels bewegt."

Weiteres: Für die NZZ hat Ulrich M. Schmid ein Interview mit Dostojewski zur Lage Russlands collagiert. Nora Gomringer fehlt die Lesebühne, schreibt die Dichterin in der SZ-Reihe mit Kulturschaffenden zur Coronakrise: "Ich bin - es ist Erkenntnis - ein Wesen, das nur strahlt, wenn angeleuchtet."

Besprochen werden unter anderem ein von Stefan Litt herausgegebener Band mit Stefan Zweigs "Briefen zum Judentum" (FR), Deborah Levys "Der Mann, der alles sah" (SZ), Hallie Rubenholds Studie "The Five" über die Opfer von Jack the Ripper (FR), Katharina Hartwells Silbermeer-Saga (Tagesspiegel) und Leonardo Sciascias erstmals auf Deutsch vorliegender Band "Ein Sizilianer von festen Prinzipien" mit essayistischen Erzählungen (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

An den Opernhäusern verkümmert ein ganzer Repertoirezweig: Die deutsche Spieloper findet einfach keine Regisseure mehr, bedauert Gerard Felber in der FAZ. Wann sah man zuletzt Albert Lortzings "Zar und Zimmermann", Webers "Freischütz" oder Flotows "Martha"? Die Gründe sind vielfältig, gibt er zu. Aber auch Vorurteile mögen eine Rolle spielen. Felber ermuntert zum nochmaligen Hingucken, zum Beispiel beim "Zar und Zimmermann": "Ethische Verwahrlosung im Namen der Welt- oder wenigstens Stadtgesellschaftsrettung: Kennt man das nicht gerade wieder allzu gut und keineswegs nur aus alten Mären? Das Biedermeier, in dem die deutsche Spieloper zu voller Blüte aufwuchs, mag in Teilen eine frustriert-verdruckste Ära gewesen sein - aber vielleicht genau deshalb wohl qualifiziert zum Beobachten zeitloser menschlicher Abgründe; für eine ambitionierte Repertoire-Neusichtung scheint da vieles möglich."

Weitere Artikel: Dorion Weickmann sieht sich für die SZ die Premiere von "Paradigma" des Bayerischen Staatsballetts auf Video an. In der nachtkritik überlegt die Dramaturgin Anna Volkland, wie das Theater von morgen aussehen könnte: diverser, besser ausgestattet, demokratischer - vielleicht könnte man das Publikum sogar über Spielpläne abstimmen lassen? Manuel Brug guckt für die Welt online Ballett. Und Mateusz Szymanówka, Kurator der Tanztage Berlin, erklärt im Interview mit der taz sein online-Konzept.
Archiv: Bühne

Kunst

Banner-Trousers (2020), artists: Miao, Tina; Dudou (2020), artists: Miao Mothers Temple, Adan, Momoblast, foto: Wolfgang Günzel
Der Frankfurter Kunstraum Synnika zeigt in einer Schaufensterinstallation "Mothers of Ultra", eine Ausstellung der chinesischen Künstlerin Miao. Katharina J. Cichosch hat sich das für die taz angesehen: "Dramaturgisch betrachtet lässt sich 'Mothers of Ultra' als Fortsetzung einer vorangegangenen Arbeit beschreiben. Im August 2019 war Miao schon einmal zu Gast im Projektraum Synnika, diesmal als Teil des Offspaces SoengJoengToi (SJT) aus dem südchinesischen Guangzhou, in einer Art Kunstkollektiv-Austausch. Damals ließ die hochschwangere Künstlerin den Frankfurter Stadtraum mit Anzeigen plakatieren: 'HEIRATE MICH DOCH!!!!!' stand dort über ihrem Porträt geschrieben, darüber eine ausführliche Erklärung der Dringlichkeit ihres Vorhabens, ausgehend von dem Satz 'Ich bin schwanger und kann mit einer Geldstrafe rechnen, wenn ich ein nichteheliches Kind in China bekomme'. In der für sie zuständigen Regierung in einer besonders konservativen Provinz des Landes befürchtete Miao Repressalien". Dazu kam es offenbar nicht. Jetzt lebt Miao auf dem Land und arbeitet mit einer Gruppe lokaler Näherinnen zusammen, erfahren wir.

Weiteres: Birgit Rieger macht für den Tagesspiegel einen Avatar-Rundgang durch die Ausstellung "Kunst kann" im Berliner Haus am Lützowplatz. Besprochen wird der Bildband "Homes & Studios" über die mondänen Wohnsitze des amerikanischen Malers Cy Twombly (Tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Einfach nur digitale Konzertkonserven ins Netz zu stellen, das kann nicht der digitalen Weisheit letzter Schluss sein, schreibt Holger Noltze, Leiter der digitalen Plattform takt1, in der Zeit. Gerade in der Coronakrise plädiert er für anhaltende Neugier, was das Netz für Möglichkeiten bietet: Denn "das Digitale ist nicht die Prothese des Analogen, ist kein Ersatz, sondern ein Ding eigener Art. Finden wir also den Weg zwischen idiotischer Digital-Aversion und ebenso idiotischer Digital-Euphorie: Was kann die Wunderkammer des Internets leisten, wenn der Maßstab zuallererst die Qualität einer ästhetischen Erfahrung ist?" und "wie wäre es, wenn wir uns vom Einfallsreichtum, von der Formenvielfalt, vom Überraschungsmoment der Kunst inspirieren lassen für einen einfallsreicheren Umgang mit der Musik im Netz?" Schließlich sei "selbst gewählte digitale Doofheit auch keine Option."

Weitere Artikel: Im VAN-Magazin spricht Michael Adick über die schwierige Lage des privatwirtschaftlich auftretenden Mahler Chamber Orchestras. Nach Bob Dylan hat nun auch Neil Young zumindest einen Teil der Rechte an seinen Songs für eine nicht näher genannte Summe an einen Konzern abgetreten, meldet dpa (zu den Hintergründen des momentanen großen Rechte-Einkaufs mehr an dieser Stelle). Man kann klassische Musik auch ganz gut ohne Beethoven genießen, schreibt Volker Hagedorn in seiner VAN-Kolumne. Im VAN-Gespräch lässt sich Jeffrey Arlo Brown vom Pianisten Graham Johnson Schubert erklären. Die Tickets für die großen Popfestivals im Sommer sind schon ausverkauft, die Headliner stehen auch schon fest - nur ob und wie die Festivals überhaupt stattfinden können, ist derzeit noch unklar, schreibt Nadine Lange im Tagesspiegel. Samir H. Köck spricht in der Presse mit dem Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, dessen erstes Klezmer-Album gerade neu aufgelegt wurde. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Peggy Glanville-Hicks.

Besprochen werden der von Albrecht Riethmüller und Gregor Herzfeld herausgegebene Band "Furtwänglers Sendung. Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters" (Standard) und die Vinyl-Neuauflage von Jonathan Fischers Compilation "Down & Out - The Sad Soul of the Black South" aus dem Jahr 1998, die Standard-Kritiker Karl Fluch das Positive im Negativen sehen lässt: "Deep Soul mag Sufferer-Music sein, Leider-Musik, doch bei aller Verzweiflung trägt sie etwas grundsätzlich Lebensbejahendes in sich." Zu hören ist unter anderem dieses tolle Stück:

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