Efeu - Die Kulturrundschau

Dieser geniale Lackierroboter

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2020. Im Neuen Deutschland analysiert Berthold Seliger, wie Hedgefonds und Private-Equity-Firmen von Steueroasen aus riesige Songrecht-Konglomerate aufbauen. Andy Warhol muss kein Mensch im Museum sehen, ruft die Zeit dem Kölner Museum Ludwig zu, druckt lieber T-Shirts. In der Berliner Zeitung stellt Kang Sunkoo klar, dass seine Statue of Limitations nicht Teil des Humboldt-Forums ist, sondern Protest dagegen. Die FAZ ahnt, dass die Öffentlichkeit noch mit jeder Rekonstruktion ihren Frieden gemacht hat. Der Freitag huldigt der Naturlyrik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Andy Warhol, Ladies and Gentlemen (Wilhelmina Ross), 1975, Privatsammlung, Italien, © 2020 The Andy Warhol Foundation

Auch die große Kölner Warhol-Ausstellung im Museum Ludwig muss geschlossen bleiben. In der Zeit stört das Jan von Brevern nicht, er glaubt eh nicht, dass man sich Andy Warhols Druckwerke unbedingt im Museum ansehen muss, denn seine Kunst war zwar Pop und Event, aber vor allem Konzept, betont Brevern: "Man wundert sich ein bisschen, dass den Kunstmuseen, deren Personal sich inzwischen aus hochambitionierten 'Curatorial Studies'-Programmen rekrutiert, zu dieser Frage so gar nichts einfällt. Sie hoffen ganz offensichtlich nach wie vor auf Betrachter, die sich artig mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor Warhols Werke stellen, ihre Aura einatmen und auf ästhetische Offenbarungen warten. Warhol hat 2.000 Maos produziert und produzieren lassen. Sich vor einen davon zu stellen und den Farbauftrag zu bewundern ist ein bisschen so, als würde man den Lack seines neuen VW Golf bestaunen. Sagenhaft, wie dieser geniale Lackierroboter das hinbekommen hat!" Genauso gut könne man sich ein T-Shirt kaufen, meint Bevern.

Kang Sunkoo, "Statue of Limitations"
Im Interview mit der Berliner Zeitung pocht der Künstler Kang Sunkoo darauf, dass seine "Statue of Limitations" gegen den Willen der Verantwortlichen im Berliner Humboldt-Forum installiert wurde: "Meine Arbeit stellt einen Fahnenmast dar mit Trauerbeflaggung auf Halbmast, ein transnationales Symbol für Anteilnahme und Respekt. Im Humboldt-Forum beginnt die Arbeit auf dem Fußboden und durchstößt die Decke, um an einem anderen Ort wieder aufzutauchen. Der Mast befindet sich exakt auf der Symmetrieachse des Gebäudes, in der gleichen Flucht wie das Kuppelkreuz. Das Humboldt-Forum ist eine Mischung von barocker Monumentalarchitektur und einer modernen, in der Tradition des Rationalismus, dessen historische italienische Vertreter mit den Faschisten kollaboriert hatten. Durch die Füllung mit den sogenannten 'außereuropäischen' Sammlungen scheint der Widerspruch zu der heutigen Bundesrepublik und der internationalen Metropole Berlin umso größer. Meine Arbeit ist ein Versuch, dem Anachronismus zu begegnen."

Weiteres: Johanna Ardojan befragt für die SZ die Künstlerin Andi Schmied, die sich als ungarische Milliardärin ausgegeben hat, um aus New Yorks neuen ultrahohen Wolkenkratzern fotografieren zu können. Verena Lueken gratuliert in der FAZ der französischen Fotografin Brigitte Lacombe zum Siebzigsten. Besprochen wird die Gruppenschau "Pleasure Activism"  in der Neue Galerie Innsbruck (Standard).
Archiv: Kunst

Musik

In einem ziemlich beeindruckenden Longread für das ND legt Berthold Seliger das Geschäft mit Musikrechten offen, das kürzlich im Falle Bob Dylans von den Feuilletons eher als eine Art Spektakel behandelt wurde. Hinter den Kulissen entstehen derweil für riesige Summen riesige Songrecht-Konglomerate, die von Hedgefonds und Private-Equity-Firmen von Steueroasen aus verwaltet werden. Der Fonds Hipgnosis etwa hat binnen drei Jahren 60.000 Songs ins Portfolio gebracht, kauft fortlaufend an und hat somit auch beim Streaming stets mit die reichweitenstärksten Pferde im Stall. Die Investoren "befinden sich gewissermaßen in einer Art Anlagenotstand. Private-Equity-Investoren verfügen über so viel Kapital wie nie zuvor, die Reichen werden bekanntlich selbst in einer globalen Pandemie noch reicher, ihr Geld will investiert sein. In dieser Situation, da viele andere Geschäftsfelder bereits abgegrast wurden, gerät das Geschäft mit Musikrechten in den Blick der privaten und institutionellen Großanleger - und deren Interesse treibt die Preise massiv nach oben. "Doch "erst die Konstruktion des 'geistigen Eigentums' und die darum herum installierten Urheber- und Leistungsschutzrechte machen Musikkataloge hochprofitabel." So bleibe schließlich auch die Frage, "ob das Urheberrecht immer weiter zugunsten der Verwertungsindustrie ausgedehnt werden soll."

Während westliche Länder, und gerade auch das derzeit ziemlich irrlichternde Deutschland, sehenden Auges in die Coronakrise stolperten, zeigt sich DJ Hans Nieswandt in der SZ sehr dankbar dafür, dass er in Seoul lebt, wo die Pandemie dank beherztem Eingreifen und zivilgesellschaftlicher Solidarität binnen kürzester Zeit unter Kontrolle gebracht wurde. Dies schuf "in einem durchschnittlich und durchgehend weitaus höherem Maß eine alltägliche Freiheit für den Einzelnen, als es in Deutschland die ganze Zeit der Fall war. So konnte ich zum Beispiel trotz allem immer wieder einen interessanten Club namens Ghetto Alive besuchen, ein Raum für Freie Musik, Jazz und Avantgarde, und mir mit Maske, mit Abstand, leider aber ohne Bier, experimentelle Konzerte anschauen. Ich konnte erstaunliche Plattenläden besuchen, ich konnte in Synthesizer-Shops herumhängen und auf diese Weise langsam, aber sicher und trotz Krise ein paar neue Kumpels finden."

Weitere Artikel: Für die SZ-Popkolumne wertet Jens-Christian Rabe die gerade wieder überall sprießenden Jahresbestlisten aus und kommt zu dem Schluss: Zumindest im Indie-Pop war es mit Spitzenpositionen für Soccer Mommy, Adrienne Lenker, Haim, Waxahatchee, U.S. Girls und Phoebe Bridgers "ein großes Jahr der Frauen". Juliane Liebert stromert für die SZ durch den bizarren Musikkosmos von 100 gecs, die sich in ihrer Musik sämtliche - und Liebert betont: wirklich sämtliche - Genres der Popmusik einverleiben und durch den Reißwolf drehen: Das Ergebnis "ist so verrückt, dass die meisten Menschen einen nach wenigen Sekunden anflehen, man möge das doch bitte ausmachen." Der Weihnachtspop ist in diesem Jahr ziemlich müde, meint Konstantin Nowotny im Freitag - lediglich Chilly Gonzales' Album "A Chilly Christmas" kann ihn überzeugen. Arte hat dazu ein Weihnachtskonzert des Pianisten online gestellt:



Besprochen werden eine Box mit Raritäen von The Kills (Standard), neue Alben von Eminem (SZ), Paul McCartney (FR), des Kronos Quartets (NZZ) und der Aeronauten (Jungle World),  sowie eine Haydn-Aufnahme der Trondheim Soloists (Presse) und Iggy Pops Covid19-Song "Ditry Little Virus" (Tagespiegel).

Archiv: Musik

Literatur

Insbesondere für die Naturlyrik war es ein gutes Jahr, lautet Bernhard Malkmus' großes Fazit im Freitag. Insbesondere Esther Kinskys "Schiefern", Anja Utlers "kommen sehen: Lobgesang" und Marion Poschmanns "Nimbus" hebt er hervor: Kinsky buchstabiere "die Tragik des Menschseins nicht als Tragödie aus, sondern als ein unabschließbares Ringen um Sinn und Schönheit". Utler verweigere "sich dem Phantasma der Auslöschung", sondern treibe vielmehr "aus der Bereitschaft zur Zwischenmenschlichkeit, aus den in die sprechenden Körper eingravierten Horror einen Lobgesang hervor", während Poschmann "schwebend, fast sprachspielerisch, teilweise ironisch ihre feinsinnigen Gesänge über Beobachtungen anstimmt, in denen sie das kommen sieht, was Utler aus dem Futur II heraus in den Blick nimmt." Alle drei verbinde "auch und trotz aller Empathie mit dem Menschsein die erschütternde Einsicht, die Hölderlin mit seiner etwas eigenwilligen Übersetzung Sophokles in dem Mund legte: 'Vielgestaltig ist das Ungeheure, / und nichts ist ungeheurer als der Mensch.'"

Besprochen werden unter anderem Patti Smiths "Im Jahr des Affen" (Standard), die Werkausgabe Thomas Kling (NZZ), David Wagners und Ingo van Aarens "Nachtwach Berlin" (Freitag), Gabriel Josipovicis "Wohin gehst du, mein Leben?" (Zeit), Christian Berkels "Ada" (NZZ), Peter Sprengels "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1830 - 1870" (SZ) sowie Sibylle Lewitscharoffs und Heiko Michael Hartmanns "Warten auf. Gericht und Erlösung: Poetischer Streit im Jenseits" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Für FAZ Quarterly spricht Mariam Schaghagi mit der Filmemacherin Chloé Zhao über deren neuen Film "Nomadland", mit dem sie gute Chancen auf einen Oscar hat. Im Standard gratuliert Ronald Pohl Tobias Moretti zur Auszeichnung mit dem Europäischen Kulturpreis. Unter anderem die FAZ meldet den Tod des Schauspielers Claude Brasseur. Thomas Hummitzsch blickt in Intellectures aufs Heimkinojahr 2020 zurück.

Besprochen werden Christian Keßlers Buch "Gelb wie die Nacht" über den italienischen Thriller der 60er und 70er (ND), George Clooneys Netflix-SF-Film "The Midnight Sky" (FR, ZeitOnline, taz), die Netflix-Serie "Bridgerton" (taz), das Netflix-Drama "Ma Rainey's Black Bottom" (SZ) und die auf Sky gezeigte Fußballer-Doku "My name is Francesco Totti" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

In der taz empfiehlt Sabine Leucht nachdrücklich Christine Umpfenbachs Rechercheprojekt über den rechtsextremen Anschlag auf das Münchner Oktoberfest, das die Münchner Kammerspiele zwischen den Jahren online zeigen werden. Im Standard gratuliert Ronald Pohl dem Schauspieler Tobias Moretti zum Europäischen Kulturpreis.
Archiv: Bühne

Architektur

Gemessen am gesamten Baugeschehen sei die Zahl der städtebaulichen Rekonstruktionen verschwindend gering, meint Matthias Alexander in der FAZ, und nach heftigen Auseinandersetzungen unter Architekten freunde sich die Öffentlichkeit oder das Gros der Touristen ziemlich schnell mit wiederaufgebauten Quartieren an, so sei es in Frankfurt gewesen, so werde es in Berlin sein. Und was ist mit Hamburg, wo die Synagoge am Bornplatz wiederaufgebaut werden soll? "Der riesige neoromanische Bau soll nach dem Willen der Jüdischen Gemeinde äußerlich originalgetreu wiederhergestellt werden. Damit will die Gemeinde, wie der Vorstand hervorhebt, über die Absicht der Nationalsozialisten, die Spuren jüdischen Lebens zu tilgen, obsiegen. Erstmals würde eine Synagoge vollständig rekonstruiert, ohne den Bruch von 1938 baulich widerzuspiegeln. Es gibt innerhalb der Gemeinde Widerspruch gegen diese Entscheidung, doch die Befürworter sind in der Mehrheit. Bleibt es dabei, bahnt sich ein tiefer Einschnitt in die deutsche Baugeschichte an. An dem Tag, an dem die Synagoge am Bornplatz ihre Türen öffnet, wird die Nachkriegsepoche in der deutschen Architektur enden."
Archiv: Architektur