Efeu - Die Kulturrundschau

Je dichter das Komposit

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24.03.2021. Hyperallergic feiert den Einzug der Mlle Bourgeoise Noire ins Brooklyn Museum. Die Nachtkritik möchte von den Theatern lieber keine Nachhilfe zum besseren Verständnis der Stücke bekommen. Die taz erkennt die Hybris der Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss, die ihren Dokumentarfilm "Lovemobil" etwas authentischer als die Wirklichkeit machen wollte. Und der Tagesspiegel ruft den Rednecks zu: Country war nie nur weiß.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Lorraine O'Grady: "Mlle Bourgeoise Noire Costume" (1980). Bild: Brooklyn Museum, 2021

Hin und weg ist Alexandra M. Thomas auf Hyperallergic von der Retrospektive, die das Brooklyn Museum der Konzeptkünstlerin Lorraine O'Grady widmet. Besonders freut sich Thomas (ganz ohne Sinn für Ironie), dass O'Grady endlich in der Kunstwelt ankommt, gegen deren elitären Konformismus sie fünfzig Jahre rebelliert hat: "Ihre Loyaliät und Solidarität hielten sie nicht davon ab, auch die schwarze Kunstwelt kritisch zu betrachten. Aufs Podest gehoben ist ein Relikt ihrer Performance von 1980 - das Kleid der Mlle Bourgoise Noire aus weißen Handschuhen. 1980 stolzierte O'Grady in die Just Above Midtown Gallery, als schwarze Schönheitskönigin und verlangte: 'Schwarze Kunst muss mehr Risiken eingehen' 'Jetzt kommt die Invasion'. Das Kleid - ganz aus weißen Handschuhen gefertigt und einer braunen Modepuppe angezogen - symbolisiert O'Gradys radikale Kritik an Elitismus und Komplizenschaft in der Kunstwelt und ihre eigenen relativ privilegierte Herkunft aus der Mittelschicht."

Besprochen werden der Auftakt der Doppelausstellung "Gruppendynamik" im Lenbachhaus, die den Blauen Reiter in Bezug zum globalen Kunstgeschehen und zu anderen Kunstkollektiven der Moderne setzen möchte (SZ), die Ausstellung "Resistant Faces" in der Münchner Pinakothek der Moderne, die den Einfluss der Algorithmen auf die Fotografie untersucht ("Je dichter das Komposit, desto dünner das Ergebnis", lernt FAZ-Kritiker Victor Sattler) und die Ausstellung "Rembrandts Orient" im Museum Barberini in Potsdam (FAZ).
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Film

Der NDR hat die von ihm mitproduzierte Kino-Doku "Lovemobil" über migrantische Sexarbeiterinnen aus der Mediathek genommen, nachdem die (ebenfalls beim NDR beheimatete) Redaktion STRG_F herausgefunden hatte, dass der Film über weite Strecken Schauspieler in inszenierten Szenen zeigt (hier arbeitet der Sender den Vorfall vorbildlich transparent auf). Die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss räumt dies zwar ein, beteuert aber in einem ersten Statement, in den Szenen ihre langjährigen Recherchen umgesetzt und "eine viel authentischere Realität" gezeigt zu haben. "Aber wie konnte ein zu großen Teilen inszeniertes Werk überhaupt als 'Dokumentarfilm' Sender und Fachwelt passieren", fragt Peter Weissenburger in der taz. "Alles an 'Lovemobil' wirkt im Lichte der Enthüllung zu idealtypisch. Die Figuren zu reflektiert. ... Was die Figuren im Film darstellen, kann real sein und ist gewiss Sexarbeiterinnen so passiert. Gewalt, Ausbeutung, Trafficking, Hilflosigkeit. Aber ist es authentisch - sogar authentischer -, wenn alle denkbaren negativen Sexarbeiterfahrungen in zwei Figuren gestopft werden? Fiktion darf das. Im Dokfilm hat es was von Hybris."

Außerdem: Lucas Barwenczik versenkt sich für den Filmdienst in Barbet Schroeders "Trilogie des Bösen", deren Abschluss noch bis Ende des Monats auf Arte zu sehen ist. Lena Bopp porträtiert in der FAZ den libanesischen Schauspieler Roger Azar, der in "Copilot" einen Terroristen vom 11. September spielt.

Besprochen werden Johanne Hoppes filmhistorische Studie "Von Kanonen und Spatzen. Die Diskursgeschichte der nach 1945 verbotenen NS-Filme" (Filmdienst), Pablo Agüeros Hexenverfolgungsfilm "Tanz der Unschuldigen" (SZ) und Chloé Zhaos "Nomadland" (critic.de).
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Literatur

Leila Essa umkreist in einem Essay für ZeitOnline (dem der Perlentaucher mit einem lakonischen Augenzwinkern den Texteinstieg geliefert hat) Asal Dardans Essayband "Betrachtungen einer Barbarin" und Mithu M. Sanyals Roman "Identitti" und untersucht beide Veröffentlichungen im Hinblick auf Zugehörigkeitsgefühl, Identität und Marginalisierung und in ihrem Aufgriff der Theorien von Stuart Hall, Edward Said und Frantz Fanon. Insbesondere Sanyals Methode, Kommentare, Kritik und Ergänzungen in weiteren Auflagen ihres auf Offenheit hin angelegten Romans aufzugreifen und in den Text einzubauen, imponiert Essa: Beide Autorinnen "schaffen ein Wir, das sich weigert, von einem isolierten Ich aus zu erzählen oder das Erzählen selbst jemals als abgeschlossen anzusehen. Weder einzeln noch vollständig und fertig: Das ist Literatur, die nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrem Entstehungsprozess zu Stuart Halls Identitätsbegriff passt - und sich auch der Möglichkeit des gesellschaftlichen Zusammenkommens über diesen Gedanken des nie abgeschlossenen Werdens nähert."

Weitere Artikel: Thomas Hummitzsch spricht für Intellectures an dieser und an jener Stelle mit Karsten Singelmann, beziehungsweise Ulrich Blumenbach, die George Orwells "1984", beziehungsweise Orwells "Farm der Tiere" neuübersetzt haben. Der Literaturwissenschafler Boris Previšić meditiert in der NZZ über Wüste und Berge. Astrid Dehe erinnert in der NZZ an den einst von Goethe geförderten Publizisten Heinrich Zschokke.

Besprochen werden unter anderem Jan Koslowskis "Rabauken" (taz), Joachim Bessings "Hamburg. Sex City" (Freitag),  Christoph Ransmayrs "Der Fallmeister" (NZZ), Isaac Rosas "Glückliches Ende" (SZ) und Isabel Allendes "Was wir Frauen wollen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

In der Nachtkritik blickt Esther Slevogt recht bekümmert auf die schrumpfenden Öffentlichkeit für das Theater, der die Häuser bestimmt nicht mit einer in Betrachte gezogenen Nachhilfe für KritikerInnen beikommen werden, wie sie versichert: "Befördert eine so selbstaffirmative Maßnahme nicht eher die weitere Abspaltung der Szene von einer weiter gefassten Öffentlichkeit, als dass sie dem gegensteuert? Weil sie ihre eigene Öffentlichkeit nur noch simuliert, die im Grunde dann irgendwann nur noch aus ihr selbst besteht?"

Besprochen werden Barrie Koskys Neuinszenierung des "Rosenkavalier" an der Bayerischen Staatsoper (SZ) und Charles Gounods "Faust" mit einem brillanten Benjamin Bernheim an der Pariser Opéra Bastille (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Fabian Wolff wirft im Tagesspiegel einen Blick in die Rassismusdebatten im Country. So wollten sich die CMA-Awards vor kurzem als "no drama zone" in Szene setzen und ließ die Show vom schwarzen Country-Superstar Darius Rucker und seiner weißen Kollegin Reba McEntire präsentieren - eine Geste, die das Rassismusproblem laut Wolff tatsächlich ja offenbare. Wer da Country nun als weißes Redneck-Genre zu den Akten legt verpasse aber "nicht nur tiefe Musik über gesellschaftliche Bruchstellen und große Kämpfe, sondern ignoriert gerade die mutigen Künstler*innen, die das Genre lieben und deswegen verändern wollen", denn "Country war nie nur weiß. Schon die 'Anthology of American Folk Music' erzählte, wie nah sich Delta-Blues, Cowboy-Balladen und Songs über Flüsse und Berge als originär amerikanisches Liedgut waren, bevor die entstehende Musikindustrie segregierte Genrelabels wie 'hillbilly music' und 'race records' erfand."

Weitere Artikel: In der FAZ behauptet Jeremy Adler, dass sein Vater der rechtmäßige Besitzer des derzeit bei der Paul Sacher Stiftung liegenden Nachlasses des von den Nazis ermordeten Komponisten Viktor Ullmann sei. Max Florian Kühlem erinnert in der taz an das Plattenlabel pläne, das mit Unterstützung der DDR die Friedensbewegung der 70er und 80er mit Platten versorgte.

Besprochen werden das neue Album der Tune-Yards (ZeitOnline), eine CD-Edition mit Aufnahmen des Philadelphia Orchestras mit Eugene Ormandy (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Noga Erez' "Kids", das SZ-Kritiker Jens-Christian Rabe völlig aus den Socken haut: Zu hören gibt es auf diesem "Album der Woche der Welt" nämlich diverse "grandios funky verstolperten Indie-Hip-Hop-Wunder". Wir hören rein:

Archiv: Musik