Efeu - Die Kulturrundschau

Erfolglosigkeit gibt dir Freiheit

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26.04.2021. Die Oscarverleihung verlief ohne Spektakel und ohne Überraschung: Wie erwartet gewann Chloé Zhao mit ihrem Film "Nomadland", wie unter anderem Tagesspiegel und Standard berichten. In einer Ausstellung zur Arbeiterfotografie begegnet die Welt dem selbstbewussten Blick des Proletariers. Die NZZ bewundert die lockere Naivität der Malerin Rose Wylie. Und alle trauern um die große Milva, die Partisanin des italienischen Schlagers, um Christa Ludwig, eine der berückendsten Mezzosopranistinnen des 20. Jahrhunderts, und um den großen Modedesigner Alber Elbaz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2021 finden Sie hier

Film

Mit insgesamt drei Oscars - alle in den Hauptkategorien "Beste Regie", "beste Hauptdarstellerin" (Frances McDormand) und "bester Film" - ist Chloé Zhaos "Nomadland" wie zu erwarten der erfolgreichste Film dieser Verleihung gewesen (hier alle Gewinner und dort alle Preisreden auf einen Blick). Zhao ist damit die zweite Frau überhaupt, die von der Academy derart hochrangig dekoriert wird - und die zweite Person asiatischer Abstammung, hält Christiane Peitz im Tagesspiegel fest. Die Hollywoodstudios behielten beim Preisregen dann doch nochmal die Überhand gegenüber den Streamingplattformen, schreibt sie. Und wie war der Abend unter Pandemiebedingungen? Die Zeremonie "ging ohne spektakuläre Show-Höhepunkte mit etwas ungelenker Dramaturgie in gut drei Stunden über die Bühne. Regisseur Steven Soderbergh hatte eine filmische Inszenierung versprochen, von der wenig zu sehen war. Die Stars in Sitznischen und in einer Bahnhofshalle machten einen etwas verlorenen Eindruck." Ähnlich sieht es Dominik Kamalzadeh im Standard: "Ein Film wurde es zwar nicht, auch keine Show, sondern eher ein zurückgelehnter Abend wie in einem Filmclub."

Ansonsten wurden die Preise eher mit der Gießkanne verteilt, stellt Hanns-Georg Rodek in der Welt fest: "Wenn man die übliche Rechnung aufmacht, ist 'Nomadland' mit drei Statuen ein recht schwacher Sieger; vorbei die Zeiten, als 'Titanic' oder 'Herr der Ringe' elf Oscas mitnahmen. ... Unter den Doppelsiegern ist 'The Father' (Schauspieler und adaptiertes Drehbuch) der stärkste, während der zehnmal nominierte 'Mank' mit zwei Statuen für Ausstattung und Kamera abgespeist wurde. 'Mank' war die größte Hoffnung für Netflix, dem ein weiteres Jahr die größte Trophäe entging."

Wer ist eigentlich Chloé Zhao, auf deren Filme derzeit das ganze Feuilleton fliegt? Anke Leweke (ZeitOnline) und Andrey Arnold (Presse) porträtierten die Filmemacherin, für die Zeit bespricht Georg Seeßlen ihr auf Mubi gezeigtes Regiedebüt "Songs My Brothers Taught Me" und auch das Perlentaucher-Archiv gibt Aufschluss. Ihren zweiten Film "The Rider" besprach Lukas Foerster im Perlentaucher.
Archiv: Film

Kunst

Kurt Pfannschmidt: Rasur im Auto, ohne Jahresangabe. Bild: Ernst-Thormann-Archiv

Ziemlich sympathisch und überraschend witzig findet Tilman Krause in der Welt die Arbeiterfotografie, der das Berliner Bröhan Museum die Ausstellung "Der proletarische Blick" widmet, mit Bildern von Kurt Pfannschmidt, Ernst Thormann und Richard Woike. Besonders fällt ihm auf, dass sie die Armen selten in Leidenspose fotografieren: "Arbeiter, wie sie in den 'proletarischen Blick' genommen werden, erheischen kein Mitleid. 'Wir meistern unser Leben', so lautet meist die Botschaft der Bilder. Dem widerspricht nicht die Dokumentation von Armut, Schlangestehen, Stempelngehen, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise aufkommt. Aber nie wäre einem Arbeiteramateurfotografen eingefallen, jenes 'graue  Heer' der Notleidenden zu zeigen und auch keine 'amorphe Masse', die in der bürgerlichen Kunst so oft die Oberhand gewannen. Die Arbeiterschaft, wie die Arbeiterfotografie sie zeigt, besteht vielmehr aus vielen Einzelnen. Und die sind vor allem eines: aktiv. Sie versammeln sich zu Kundgebungen, demonstrieren für ihre Rechte, feiern, treiben Sport, messen sich in Wettkämpfen und tummeln sich in der Natur."

Rose Wylie: ER & ET, 2011. Bild: Museum Langmatt/Courtesy of Morten Viskum


Der Kunstmarkt dürstet im Moment nach ausgefallenen Persönlichkeiten, weiß Christian Saehrendt, freut sich in der NZZ aber trotzdem über den unwahrscheinlichen Erfolg der britischen Malerin Rose Wylie, die mit über achtzig Jahren und nach langer Pause als Hausfrau und Mutter zu Ruhm und Anerkennung gelangte. Das Museum Langmatt widmet ihr gerade eine Schau: "Was ist Rose Wylies Geheimnis für ihren späten Erfolg? Wylie malt mit einer unverstellten, lockeren Naivität, wie sie sonst eigentlich nur Kinder, junge Künstler mit einer gewissen Punk-Attitüde oder Vertreter der Outsider-Art aufweisen. Die Künstlerin muss sich in den langen Jahren des Unbeachtetseins eine völlig autarke Haltung angeeignet haben. 'Erfolglosigkeit gibt dir Freiheit', erzählte sie einmal einem Kunstmagazin, 'du kannst tun, was du willst'."

Besprochen wird die Retrospektive der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im Berliner Gropius Bau (Standard).

Archiv: Kunst

Literatur

In der Welt kommt Mara Delius auf den gerade kursierenden Offenen Brief zu sprechen, der dem Leipziger Buchmessenpreis vorwirft, eine Shortlist mit ausschließlich weißen Autorinnen und Autoren präsentiert zu haben (unser erstes Resümee): "Diese Sätze mögen aufklärerisch und progressiv klingen", meint Delius, sie "verkennen aber das Wesen von Literatur und vermischen die Diskussion über Repräsentation und Sichtbarkeit mit der von Urteilskraft der Kritik. Und das ist gefährlich. Denn was sich 'verfestigt' ist nicht 'ein eindimensionales Konzept von Literatur', sondern, in der letzten Konsequenz, die Forderung nach einem Listenführer- und Literaturbeamten-Kritikertum, das immer erst nach der möglichst korrekten Abbildung einer unmittelbaren Gegenwart fragt."

Auch Gerrit Bartels findet die Kritik im Tagesspiegel nicht fair: Er hat "schon auch den Eindruck, dass der Literaturbetrieb sich um den Einschluss schwarzer Autorinnen und Autoren bemüht, solchen of colour, zumal gerade in diesem und dem vergangenen Jahr. So viele deutschsprachige Bücher, die von unterschiedlichsten Herkünftsbereichen und Lebensläufen erzählen und auch prominent in den Programmen platziert und vermarktet wurden, auch im Sachbuchbereich, hat es bei den einschlägigen Verlagen vermutlich noch nie gegeben, etwa auch von Cihan Acar, Ronya Othmann, Olivia Wenzel oder Emilia Roig."

Außerdem: Ekkehard Knörer schwärmt in der taz von seiner überhaupt erst jetzt entdeckten Leidenschaft für Hörbücher - wobei er insbesondere Peter Matićs Einlesung von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" empfiehlt (derzeit häppchenweise beim RBB - und die ersten Lieferungen sind auch schon wieder offline - oder auf einen Satz bei Eichendorff21 erhältlich). Ulrich van Loyen erinnert im Freitag an den italienischen Krimiautor Leonardo Sciascia, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Simon Stålenhags illustrierter Science-Fiction-Roman "Things from the Flood" (Freitag), Laila Lalamis "Die Anderen" (Tagesspiegel), Ulrike Edschmids "Levys Testament" (Tagesspiegel) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Zoran Drvenkars "Pandekraska Pampernella" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Martin Lüdke über Sergej Jessenins "In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern":

"In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern,
Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen.
Ich laß die Kate Kate sein, bin fern
..."
Archiv: Literatur

Bühne

In der FAZ schreibt Jürgen Kesting zum Tod der Opern- und Liedsängerin Christa Ludwig, einer der ganz großen Diven der Nachkriegszeit: "Über die Wirkung ihres Singens schwärmte Leonard Bernstein: 'Ich dachte immer, dass Christa Ludwig die größte Brahms-Sängerin ist, aber das war sie, bis ich sie Strauss singen hörte. Wieder musste ich ihr einen neuen Thron zuweisen. Dann hörte ich sie Wagner singen, und wieder erlebte ich dasselbe. Und als ich sie jüngst hörte, mit ihrer unglaublichen Interpretation der Old Lady in meinem Musical 'Candide', da musste ich aufgeben. Sie ist einfach die Beste.'" Nachrufe schreiben auch Julia Spinola (SZ), Daniel J. Wakin (New York Times) Norman Lebrecht (The Slipped Disc) und Thomas Baltensweiler (NZZ).

Sie konnte auch Bach:



Und als Liedsängerin, mit dem großartigen Gerald Moore:


Weiteres: In der Nachtkritik diskutiert Esther Slevogt ausführlich die Rassismusvorwürfe am Düsseldorfer Schauspielhaus und die Frage, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Tom Mustroph berichtet in der taz, wie Puppen- und Objekttheater die Auszeit sinnvoll fü Recherchen und Studien nutzen. Besprochen werden Antú Romero Nunes' "auf den Kern verdichtete" Adaption von Herman Melvilles Roman "Moby Dick" am Theater Basel (Nachtkritik), Dušan David Pařízeks Inszenierung von Ibsens "Peer gynt" im Stream am Bochumer Schauspielhaus (Nachtkritik) und Richard Strauss' "Intermezzo" für fünfzig Zuschauer im Basler Opernhaus (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

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Der Designer Alber Elbaz ist mit 59 Jahren an Covid19 gestorben. Claire Beerman schreibt einen Nachruf im ZeitMagazin: Elbaz, der unter anderem für Yves Saint Laurent und Lanvin gearbeitet hatte, war "nicht bloß einer der erfolgreichsten Modeschöpfer seiner Generation", sondern er "war auch ein Mann, der Menschen, vor allem Frauen, durchschauen konnte. Er war Therapeut und Designer zugleich; er verstand es, ihnen mit seinen Kleidern Sicherheit und Selbstbewusstsein zu geben. Meryl Streep, die ihm 2015 in New York einen Modepreis überreichte, sagte damals: 'Wenn Sie mit dem Gefühl, das Sie mir mit Ihren Kleidern geben, auch das Leben so vieler anderer Frauen verbessert haben, dann sollten Sie diesen Preis jedes Jahr bekommen.'"

Erst im Januar war Elbaz nach einer mehrjährigen Auszeit - Lanvin hatte ihn 2015 entlassen - mit einer neuen Kollektion und einem neuen Label zurückgekehrt. Ende März hatte Claire Beermann noch ein großes Gespräch mit ihm im ZeitMagazin. Über sein langes Sabbatical sagt er: "Ich vertraute der Modewelt nicht mehr. ... Der Rhythmus der Modeindustrie, der Druck, der Zeitmangel, die Tatsache, dass man immer mehr und mehr produzieren und immer billigere Arbeitskräfte finden und immer größer denken muss - all das fand ich furchtbar. Ich fragte meine Kollegen, ob sie eigentlich glücklich seien. Das sollten Sie Designer mal in Interviews fragen! Die Antwort ist, sie sind unglücklich. Das Problem ist, dass man in der Modewelt von heute als Kreativer auch Manager sein muss. Creative Director ist ein komplexer Titel. In dieser Position soll man kreativ sein, muss sich aber gleichzeitig mit jedem Problem des Unternehmens befassen. Dabei geht viel Energie verloren."
Archiv: Design

Musik

Große Trauer um die italienische Sängerin Milva, die 81-jährig gestorben ist. "Milva - das war immer ein eigener Planet", seufzt Jan Feddersen in der taz. In Deutschland wurde sie 1968 mit ihren Tango-Interpretationen bekannt: Das "war der Sound der Stunde, und auf diesem Album sang sie einige Tangolieder hinreißend scharf, entschieden, ohne auch nur eine Prise misslicher Sentimentalität. Ihre Vokalisen waren von delikatester Kraft im eher dunklen Bereich. Piepsigkeit, balladeske Übersanftmut war mit ihr offenbar nicht zu haben." Und sie "war immer Sozialistin, eine beherzte, bis zur Wütigkeit entschiedene Kämpferin für die antifaschistische Allianz, und dies weit über Benito Mussolinis Tod hinaus." Hier ihr Tango-Album:



"Die roten Haare. Flammengleich. Dazu der grell geschminkte Mund - wie eine offene Wunde", schwärmt Manuel Brug in der Welt: "Die italienische Sirene mit der gellenden, schnarrenden Stimme, die aber auch so wunderbar flehen wie flüstern konnte. Von herausfordernder Erotik, selbstbestimmt, mit ihrer offensiv ausgestellten Sexualität spielend. ... 'Ganz Frau und trotzdem frei zu sein', das war schnell irgendwie auch ihr Motto - und mehr noch das ihrer zahlreichen Anhängerinnen. Die selbstständige Frau, die ihre weiblichen Attribute nicht versteckt. Ein Idealbild im beginnenden Geschlechterkampf der BRD: Schlager als Abbild gesellschaftlicher Veränderungen. Und Milva mittendrin!" Hier ihr Stück "Zusammenleben", das sie 1978 gemeinsam mit Mikis Theodorakis sang und dem die von Brug genannte Zeile entspringt:



Weitere Nachrufe in der NZZ, FAZ und im Tagesspiegel.

Außerdem: Für die FAS spricht Helena Raspe mit Danger Dan über seinen "Kunstfreiheit"-Song. Besprochen werden Nils Frahms bereits 2009 aufgenommenes, aber erst jetzt erschienenes Album "Graz" (taz), Girl in Reds Debütalbum "If I could make it quiet" (taz) und Stephanie Nilles' Album "I Pledge Allegiance To The Flag - The White Flag", auf dem die Sängerin und Pianistin Musik von Charles Mingus bearbeitet (NZZ). Hier ihre Version von "Goodbye Pork Pie Hat":

Archiv: Musik