Efeu - Die Kulturrundschau

Das ist dramatisch, aber nicht schlimm

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15.07.2021. Der Guardian schwärmt von der Unbekümmerheit, mit der die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp Stile, Genres und Ausdrucksmittel mischte. In Cannes sah die SZ mit Ryusuke Hamaguchis "Drive My Car" einen ersten Favoriten für die Goldene Palme. Der Tagesspiegel erstarrte in Julia Ducournaus Schocker "Titane" vor Schreck. Die NZZ diagnostiziert: Wir lesen aneinander vorbei und wendet sich dann dem fröhlichen Designerkollektiv Memphis Milano zu. Die Kunstkritiker trauern um Christian Boltanski. Auf ZeitOnline schreibt die Schriftstellern Noémi Kiss ihrem Landsmann Péter Esterházy einen traurig-zornigen Brief ins Jenseits.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2021 finden Sie hier

Kunst

Sophie Taeuber-Arp: Embroidery. c. 1920. Wool on canvas. Private collection, on loan to the Fondation Arp, Clamart, France.


Im Guardian ist Adrian Searle hin und weg von einer Ausstellung der Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp in der Tate Modern. Wie Taeuber-Arp auf die Kunst ihrer Zeit reagierte, wie unbekümmert sie Stile, Genres und Ausdrucksmittel mischte, hat ihn schwer beeindruckt: "Taeuber-Arps frühe gemalte geometrische Abstraktionen stehen in einer Reihe mit ihren zum Teil sehr kleinen Stickereien, die sich zu kleinen Säckchen aus Perlenfäden und Stoffen verzweigten und ihre Abstraktionen mit anderen Mitteln fortsetzten. 1918 schuf sie eine Serie von Marionetten für ein Theaterstück über Psychoanalyse. Die bekleideten und bemalten, gelenkigen Zylinder, Kegel und Röhren wurden zu Spielfiguren: Hirsche, Soldaten, ein Papagei, eine Figur namens Dr. Ödipuskomplex und eine andere, ein Zauberer, genannt Freudanalyticus. Ihr Erfindungsreichtum ist nach wie vor grandios. Es folgen gedrechselte dadaistische Holzköpfe. Sie starren uns an, mit schiefen Augen, stumm, aber wissend. Jeder Teil ihrer Arbeit ist miteinander verbunden. Collagen mündeten in Textilarbeiten, Textilien in Gemälde oder Innenraumgestaltungen für eine Bar in Straßburg und ein Haus mit Buntglasfenstern. Das strenge Design und die intensive Farbigkeit ihrer Glasmalerei und ihres Möbeldesigns lassen fast schon die Arbeiten der Minimalisten erahnen, aber immer ist eine Art prekäres, dynamisches Gleichgewicht im Spiel."

Christian Boltanski, Ausstellungsansicht "Danach". Foto: Lepkowski Studios Berlin, Courtesy: Christian Boltanski und Kewenig Galerie


Der französische Künstler Christian Boltanski ist gestorben. Den Nachruf schreiben in der NZZ Philipp Meier, in der SZ Till Briegleb, in der Welt Hans-Joachim Müller und im Tagesspiegel Nicola Kuhn. Christiane Meixner (Tagesspiegel) hat Boltanskis letzte, dem verstorbenen Galeristen Michael Kewenig gewidmet Ausstellung in der Galerie Kewenig gesehen. Schon vor der Tür schlägt ihr ein heftiges Wummern entgegen: "Der Herzschlag gehört dem Künstler, er hat ihn für die monumentale auditive Arbeit 'Les Archives du Coeur' aufgenommen und konserviert. Auch die anderen Arbeiten, die sich im Palais Happe auf zwei Stockwerken ausbreiten, stammen aus dem vertrauten Reservoir des 1944 geborenen Franzosen. Glühbirnen formen das Wort 'Danach', das tiefblau und feierlich im Treppenhaus des Gebäudes hängt. Weitere Lichter bedecken den Boden eines ganzen Zimmers und werden immer weniger: Boltanski lässt jeden Tag ein paar erlöschen, bis man zum Schluss seiner Ausstellung bloß noch ins Schwarze schaut. Symbolisch klingt das ziemlich überfrachtet, kollidiert jedoch auf angenehme Art mit der Einfachheit der Materialien, die der Künstler auf keinen Fall formal betrachtet wissen will."

Weiteres: Katharina Rustler unterhält sich für den Standard mit dem Musiker und Maler Parov Stelar. Stephan Hilpold berichtet im Standard über die Premiere der Gmunden Photo. Besprochen wird die Ausstellung "Becoming Feininger" in Quedlinburg (Zeit).
Archiv: Kunst

Film

"Baby, you can drive my car": Trauer bei Ryusuke Hamaguchi

In Cannes wird Ryusuke Hamaguchis "Drive My Car" als erster Palmen-Favorit gehandelt, berichtet Tobias Kniebe in der SZ: Die dreistündige Adaption einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami handelt von einem Regisseur und einem Schauspieler, die sich auf eine "Onkel Wanja"-Produktion am Theater vorbereiten und "ist ein perfektes Beispiel für die Belohnungen, die hinter den scheinbaren Leerstellen und Wiederholungsschleifen tatsächlich warten. So trauert der Regisseur etwa um seine verstorbene Frau, die ihm während dem Sex gern erotische Geschichten erzählte, die mit zunehmender Lust aus ihr heraussprudelten, als habe sie die Poesie ihres Unbewussten wunderbar angezapft. Das ist sehr erotisch, und nach den wenigen Beispielen, die man zu sehen bekommt, trauert man um diese Figur dann fast so sehr wie der Mann, der sie verloren hat."

"I'm dancing with myself": Juia Ducournaus "Titane"

Wenig Einigkeit herrschte unterdessen bei Julia Ducournaus Schocker "Titane", der das Publikum laut Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche "schwer polarisierte". Nach ihrem kannibalistischen Liebesfilm "Grave" vor ein paar Jahren ist dieser Film "noch mal ein ganz anderes Biest - aus Metall, Motorenöl und notdürftig zusammengehalten von ausgemergelter, mürber Haut, die sich allmählich zum Zerreißen spannt. Das französische Model Agathe Rousselle liefert eine Tour de Force als junge Frau, die nach einem schweren Autounfall von ihrem Vater (der Regisseur Bertrand Bonello) eine Titanplatte in den Schädel implantiert bekommen hat. Ihrer Liebe zu Autos tut das keinen Abbruch: Alexia tanzt halbnackt auf Motorhauben und hat auf dem Rücksitz eines Amischlittens Bondage-Sex mit sich selbst. Oder doch mit dem Wagen? Nebenbei schlachtet sie jeden ab, der oder die ihr zu nahe kommt."

FAZ-Kritiker Andreas Kilb zieht da eher die großen Kinodiven vor, die sich anschmachten lassen: Im Print verbeugt er sich vor Léa Seydoux, die auf dem Festival in Arnaud Desplechins "Tromperie", Ildikó Enyedis "A feleségem története" und Bruno Dumonts "France" zu sehen ist. Insbesondere bei Desplechin ist sie "eine Augenweide", schwärmt Kilb: "ihre Eleganz, ihre Lässigkeit, die fast kindliche Schönheit ihres Gesichts." Im FAZ-Blog hingegen berichtet er von einer Fragestunde mit Isabelle Huppert, die sich mal wieder in Gesten der Demut übt: "Ich glaubte ihr nichts." Ihre "Intelligenz kann Filmemacher und Produzenten verschrecken, deshalb spielt sie sie in der Öffentlichkeit herunter."

Besprochen werden Lee Isaac Chungs Migrationsdrama "Minari" (taz), der auf DVD veröffentlichte Debütfilm "Palm Springs" von Max Barbakow, dem Ekkehard Knörer in der taz eine große Karriere voraussagt (taz), Daniel Brühls Regiedebüt "Nebenan" nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann (Standard, SZ), der neue Teil der Autoaction-Reihe "Fast & Furious" (ZeitOnline, Tagesspiegel), die Dokumentarfilme "Grenzland" und "Wer wir waren" (FAZ), Gonçalo Waddingtons Missbrauchsdrama "Patrick" (taz), Baltasar Kormákurs Netflix-Serie "Katla" (taz) und die auf Sky gezeigte Serie "Paris, Police 1900" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Besprochen werden Rebbekka Kricheldorfs Aschenputtel-Variante "Der goldene Schwanz" in Kassel (FR) und "Die gestürzte Pyramide", ein Sammelband mit Essays von Jürgen Flimm (nachtkritik)
Archiv: Bühne
Stichwörter: Flimm, Jürgen

Design

Peter Shire: Sessel "Bel-Air" (1982). Foto: Vitra Design Museum


In der NZZ erinnert Gabriele Detterer an das Designerkollektiv Memphis Milano, dessen buntes Design die achtziger Jahre prägte und dem das Vitra Design Museum gerade eine Ausstellung widmet. Die Gruppe um Ettore Sottsass wollte eine Gegenposition zur "Guten Form" und Minimalismus schaffen. Kitsch, Eleganz und viel Plastiklaminat waren ihr Wahrzeichen: "Mit der locker-lässig wirkenden Entwurfspraxis, die sich um guten Geschmack nicht scherte, verband sich eine klare Ansage. So gebärdet sich auf der Einladungskarte zur Premiere der Memphis-Kollektion im September 1981 ein wildes Tier, das vor einer Gewitterfront hell zuckender Blitze das Maul weit aufreißt. Durchaus als angriffslustig wollte Memphis Milano wahrgenommen werden. Bildhaft deuten die Gewitterwolken auf eine lange aufgestaute Energie, die sich mit einem Knall entladen musste."
Archiv: Design

Architektur

SZ-Kritikerin Evelyn Vogel lernt in der Ausstellung "Taiwan ACTS!" im Münchner Architekturmuseum, wie Architektur aussehen kann, wenn gesellschaftliche Verantwortung bei der Planung im Mittelpunkt steht: "Kommunale Projekte zeigen, wie Architektur - von engagierten Laien oder Bürgerinitiativen angestoßen und umgesetzt - neu mit Leben gefüllt wird; in der Stadt wie auf dem Land. Oder wie Neubauten, selbst wenn hier mitunter das Top-Down-Prinzip zum Tragen kommt, auf bestehende Architektur reagieren und mit ihr interagieren können, ohne die Identität des Vorhandenen zu verraten. Andere Initiativen veranschaulichen, wie Architekturbüros in Taiwan ihre Autorenschaft im Entwurfsprozess neu definieren. "
Archiv: Architektur
Stichwörter: Taiwan

Literatur

Zum fünften Todestag von Péter Esterházy schreibt die Schriftstellern Noémi Kiss ihrem Landsmann auf ZeitOnline einen traurig-zornigen Brief ins Jenseits: "Warum brauchten Sie als Ungar Berlin? Das Deutsche? Das haben Sie mir nie zugeflüstert. Nur dass wir weit von hier wegfahren sollten! Dieses Land ist beschissen, doch natürlich haben Sie es insgeheim geliebt. Kommen Sie doch zurück nach Csillaghegy, Sternenhimmel, Ihren Geburtsort! Es gibt noch viele, die an Sie denken, aber es werden immer weniger… (oder sollte ich lieber nicht ehrlich sein?). Die Welt ist beschissen. Ein Scheißhaufen. Mit Plastikfolie verhüllt. ... Unser Leben ist leer, Sie fehlen so sehr, wir lachen nicht. Keiner ist glücklich, weder Gräser noch Käfer. Es gibt keine Typen, keine starken Typen, Figuren. Es gibt kein Lachen, keine Humorpublizistik. Nur Blasse schreiben in Lebenundliteratur. Ein Mistkerl ist der Ministerpräsident, und Mistkerle sind seine Opposition. "

Paul Jandl kommt in der NZZ auf die Debatte um Moritz Baßlers Essay "Der neue Midcult" (unsere Resümees finden Sie hier, dort und hier), zieht dabei aber die Position des leicht amüsiert beobachtenden Zaungasts vor und hält fest, "selbst hellsichtigste Lektüren kommen ohne Umnachtung der Gefühle nicht ganz aus. Debatten darüber, bei wem die größere Dunkelheit herrscht, führen zwar nicht wirklich weiter, aber wahr ist auch: Das Komplexe in der Literatur hatte auch schon einmal mehr Fürsprecher." Alles in allem "scheint der Befund deutlich: Wir lesen aneinander vorbei. Das ist dramatisch, aber nicht schlimm."

Weitere Artikel: In der Dante-Reihe der FAZ wirft Stefana Sabin einen Blick auf Dantes Melancholie. Frankreich hat für 4,55 Millionen Euro de Sades Originalmanuskript von "Die 120 Tage von Sodom" gekauft, meldet Nicolas Freund in der SZ.

Besprochen werden unter anderem Adelheid Duvanels "Fern von hier" mit sämtlichen Erzählungen (Freitag), Mathias Énards "Das Jahresbankett der Totengräber" (online nachgereicht von der FAZ), Franziska Meiers "Besuch in der Hölle" über Dantes "Commedia" (SZ), Wendy Law-Yones "Dürrenmatt and Me" (FAZ) sowie die Ausstellung "Arbeit am Gedächtnis - Transforming Archives" zum Themenkomplex Gedächtnis, Erinnerung und Archiv in der Berliner Akademie der Künste (FAZ).
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Musik

Nadine Lange porträtiert im Tagesspiegel die Sängerin Adi Amati. Markus Ströhlein informiert sich für die Jungle World, ob Trommeln Sport ist. Die NMZ meldet via dpa, dass sich bei einem Musikfestival in Utrecht trotz Sicherheitsvorkehrungen offenbar 1000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben.

Besprochen werden eine Bach-Aufnahme von Les inAttendus mit Akkordeon (SZ), ein Baden-Badener Beethovenabend des Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin (FAZ) und das neue Album von The Go!Team (taz, mehr dazu bereits hier). Wir hören rein:

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Stichwörter: Coronavirus