Efeu - Die Kulturrundschau

Provokation durch Brillanz

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21.07.2021. Rundum beglückt zeigen sich die KritikerInnen vom Büchnerpreis für Clemens J. Setz und huldigen seinem Interesse am Mikroskopischen, der Poesie des Nerdigen und der Überfülle an Bildlichkeit. Le Monde feiert die sizilianische Regisseurin Emma Dante, die selbst aus Palermos Müll noch Bühnenzauber entfaltet. Auch in architektonischer Hinsicht werden die Olympischen Spiele eine traurige Angelegenheit werden, fürchtet der Guardian. Als reinste Mogelpackung, aber eine grandiose lässt sich die SZ Bob Dylans Streamingkonzert "Shadow Kingdom" gefallen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.07.2021 finden Sie hier

Literatur

Der Büchnerpreis geht in diesem Jahr an den österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz - eine hervorragende Entscheidung, meinen die Literaturkritiker, aber auch eine überraschende: Schließlich ist Setz noch keine 40 Jahre alt. Setz' Literatur schöpft aus dem "Interesse am Mikroskopischen, am Outrierten, am Abseitigen", kommentiert David Hugendick auf ZeitOnline. Er "schreibt Bücher, in denen die Grenzen literarischer Wahrnehmungskonventionen ausfransen und lustvoll überschritten werden; Geschichten, die eine Überfülle an Bildlichkeit und laufend einen originellen, eigenwilligen Überschuss produzieren, den man in der zur Ökonomie dressierten deutschen Kunsthandwerksliteratur fast wie von selbst als Dissidenz empfinden kann." Setz' Strategie lautet "Provokation durch Brillanz", meint Andreas Platthaus in der FAZ, der noch immer staunt, welchen Aufstieg Setz in den letzten 11,12 Jahren hingelegt hat - wie vor ihm sonst nur Peter Handke. Setz "will neue Grammatiken lesbar machen", schreibt Paul Jandl in der NZZ.

Marie Schmidt verneigt sich in der SZ vor Setz' mit enzyklopädischem Wissen vorgehende Weltbeschreibungsfreude, die auch vor dem Erfinden neuer Wörter nicht halt macht: Ein "Weltwahrnehmungserschaffer", dessen "Perspektive dermaßen die Auflösung aller Bilder erhöht, dass winzige Regelmäßigkeiten überscharf vor Augen treten. ... Bei allen vibrierenden Sensibilitäten, die Setz in Sprache nachbaut, den merkwürdigen Geisteszuständen seiner Figuren, geht es in seinen Büchern doch auch immer um eine Medientheorie im weiten Sinne. Die Frage nach den untergründigen Kanälen, dem, was die Menschen wirklich in Verbindung bringt (und trennt), seien es ein durch Vererbung mitgeteiltes psychisches Leiden, die Speichen eines Riesenrades oder die Art, wie einem die Aufzeichnung einer flüsternden Stimme jedes Härchen auf der Haut aufstellt." Auch Judith von Sternburg  beschreibt in der FR einen Sprachhexer, der zwar "für sein hohes und ausgiebig ausgeführtes, gelegentlich zelebriertes, gelegentlich auch penetrantes Sprachbewusstsein berühmt sein mag, aber dazu noch eine gute Übersicht über menschliche Dinge hat."

Setz, Jahrgang 1982, ist ein Typus zeitgenössischer Schriftsteller, der aus dem Internet und der Gamingkultur kam, und allemal ein würdiger Preisträger, hält Gregor Dotzauer im Tagesspiegel fest: Er "reißt die Schranken zwischen Hoch- und Populärkultur auf eine Weise ein, die nicht nur abwärtskompatibel ist, sondern auch seitwärts - und das multimedial. ... Setz ist kein überragender Stilist, aber ein großer Fantast. Er kreuzt den grellen Witz von Splattermotiven mit den Kriechströmen des Schauerromans."

Welt-Kritiker Marc Reichwein sieht in dieser Auszeichnung "auch eine Entscheidung für Humor, Eigensinn und Formenreichtum im Medium Sprache und ihren netzliterarischen Nachbardisziplinen. Der studierte Mathematiker und Germanist Setz kann vom gut gesetzten Emoji bis zum Gedicht und klassisch überladenen Großroman eigentlich alles, spinnt in literarischen oder popkulturellen Referenzen, beherrscht aber auch die schiere Poesie von freakigen Figuren".

Weitere Artikel: Im Freitag spricht Michael Hametner mit dem Schriftsteller Thomas Kunst, der nicht länger ein Geheimtipp sein will: "Aber da ich ein unangepasstes Rindvieh bin, wird sich daran in meinem letzten Lebensabschnitt wohl auch nichts mehr ändern." In der taz spricht Tocotronic-Drummer Arne Zank über seinen Comic "Die Vögel - fliegen hoch". Für die Dante-Reihe der FAZ wirft Angelika Overath einen Blick darauf, wie Dante Unaussprechliches beschreibt. Erhard Schütz räumt für den Freitag Sachbücher vom Nachttisch.

Besprochen werden unter anderem Tracey Thorns "Ein anderer Planet. Eine Jugend in Suburbia" (Freitag), Ute-Christine Krupps "Punktlandung" (Tagesspiegel), Shinichi Ishizukas Manga "Blue Giant Supreme" (Tagesspiegel), Carolina Setterwalls "Betreff: Falls ich sterbe" (SZ) und Anna Haags Tagebuch der Jahre 1940 bis 1945 (FAZ).
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Architektur

Unerreichte Ikone: Kenzo Tanges Yoyogi National Gymnasium in Tokio von 1964 Foto: Olympische Spiele

Nicht nur wegen der Pandemie könnten die auf Teufel komm raus durchgedrückten Olympischen Spiele in Tokio die traurigsten aller Zeiten werden, fürchtet Rowan Moore im Guardian. Auch architektonisch sei bei den neuen Gebäuden nicht viel zu holen: "Es gibt das mit viel Holz gebaute Ariake Gymnastics Centre, ein einigermaßen kompetenter Versuch überhängender Rundung, wie man sie von früheren Olympiaden kennt. Das Aquatics Centre von Yamashita Sekkei und Paul Noritaka Tange ist eine umgekehrte Teilpyramide mit rhythmisch angelegten, schrägen Lamellen, die an eine Botschaft erinnert, wie man sie in den sechziger Jahren in den Tropen baute, oder an eine Universitätsbibliothek im Mittleren Westen der USA. Die Ariake-Arena ist eine weitere umgekehrte Teilpyramide, diesmal mit einem konkaven Dach ohne Schwung. Die Musashino Forest Sport Plaza hat ein seltsam verzogenes und aufgeschnittenes gewölbtes Dach, als ob jemand versucht hätte, das Opernhaus von Sydney nachzuahmen, aber auf halbem Weg den Mut verloren. Meist werden die alten Tropen der olympischer Zuversicht bedient. Wände neigen sich, Dächer wölben sich, Strukturen schweben, es ist ein nicht enden wollendes Bild des Fortschritts, das suggerieren soll, dass die Schwerkraft in Zukunft anders wirken wird... Vieles am Charakter dieser Gebäude wird dadurch bestimmt, dass sie von Japans mächtigen Bauunternehmen geliefert werden, denen gegenüber die Architekten die zweite Geige spielen müssen."

Weiteres: Robert Kaltenbrunner denkt in der FR über die Rolle der Achitektur für die nachhaltige Stadt nach.
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Bühne

Emma Dantes "Misericordia". Foto: Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

In Le Monde feiert Fabienne Darge die italienische Regisseurin Emma Dante, deren Stücke "Misericordia" und "Pupo di Zucchero" Darge zufolge sizilianische Archaik mit Moderne kombinieren und den absoluten Hohepunkte des Theaterfestivals von Avignon darstellen: "Emma Dante reiht sich ein in die Tradition des italienischen Neorealismus, mit einer Form des reinen Theaters, in der der Körper König ist, in der die Bühne vor Energie sprüht und in der die raue italienische Sprache, gepaart mit Dialekt, ebenso viel vom Leben erzählt wie das, was gesagt wird. Die sizilianischen Lieder, Cristian Zucaros großartige Hell-Dunkel-Beleuchtung, die Kostüme und die bunten Gegenstände, die man oft in den Mülltonnen von Palermo findet: alles ein Zeichen, ohne dass man etwas dazu tun muss."

Monsteroper: Antú Romero Nunes' "Idomeneo" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl

Mit Antú Romero Nunes' Münchner Inszenierung von Mozarts "Idomeneo" ist SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck zwar nicht gerade glücklich geworden, und auch mit dem Bühnenmonster von Phyllida Barlow kann er wenig anfangen. Aber der emotionalen Aufruhr, den Dirgent Constantinos Carydis aus dem Orchestergraben herausschleudert, hat ihn überwältigt: "Weil sich hier viel Barock mit französischer Vorrevolutionsoper und neuer klassischer Empfindsamkeit mischt, lässt Carydis eine für Mozart untypische Begleitcombo mit Theorbe und Hammerklavier, Cembalo, Barockgitarre und Cello antreten. Der Effekt ist so verblüffend wie beglückend, da die Klänge funkeln und irrlichtern und so das Gefühlschaos der Menschen auf der Bühne ideal und in jeder Sekunde einleuchtend abbilden. Aber auch sonst lässt Carydis keinen Zweifel daran, dass er und seine fabelhaften Musiker (was der Schlagwerker alles zaubert zwischen Weltuntergang, Optimismusgetön und Zärtlichkeit!) Zentrum und treibende Kraft dieses Abends sind, weit vor den Sängern und der Bühne." Das sieht Laszlo Molnar in der FAZ anders: "Die Sängerbesetzung macht rundum Freude, Stimme, Rollenprofil und Ausdruck gehen bei allen Mitwirkenden glückliche Allianzen ein."
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Kunst

Katja Meirowsky: "Heimweg Antonia",
1943. Bild: Salongalerie Die Möwe
Selbstbewussten Großstädterinnen, schönen Tierplastiken und Kartoffeln in Serie begegnet Ingeborg Ruthe in der Salongalerie "Die Möwe" und empfiehlt in der Berliner Zeitung die neue Schau, die Künstlerinnen der klassischen Moderne bis zur Gegenwart versammelt, figürlich oder abstrakt, aber immer farbstark und sinnlich: "Katja Meirowsky, die als Tochter einer Jüdin und eines Kommunisten aus Nazideutschland fliehen musste, zuvor noch Mitglieder der Widerstandsgruppe 'Rote Kapelle' unterstützte, hinterließ ein bezwingendes Frauenbildnis in düster-tonigen Farben. 'Heimweg Antonia', 1943, ist eine sinistre Mischung aus Neuer Sachlichkeit und Kubismus. 1945, zurückgekehrt aus der Illegalität, schloss sich die mit dem melancholischen 'Berlin am Meer'-Maler Werner Heldt eng Befreundete dem Westberliner Künstlerkreis um die legendären Galerien Rosen und Bremer an. Und sie war Mitglied des Kabaretts 'Badewanne', auch 'Satire auf Trümmern' genannt."

Weiteres: Den wahren Joseph Beuys lernt man nicht in Düsseldorf, sondern am Niederrhein kennen, versichert Max Florian Kühlem in der taz und empfiehlt besonders die Ausstellung "Beuys und die Schamanen" in Schloss Moyland. Karlheinz Lüdeking erinnert in der FAZ an den vor dreihundert Jahren gestorbenen franzödischen Genremaler Jean-Antoine Watteau.

Besprochen werden die Schau "Neu Sehen" mit Fotografie der Zwanziger und Dreißiger im Städel Museum in Frankfurt (SZ) und André Hellers immersiv-spirituelle Ausstellung "Zeiträume" in der Burg Taggenbrunn in Kärnten (Standard).
Archiv: Kunst

Film

Der Täter als Puppe: "Anmaßung" (GMfilms)

Stefan Kolbe und Chris Wright widmen sich in ihrem Dokumentarfilm "Anmaßung" dem Bild, das wir von einem Mörder - Stefan S., der 2003 in Bayern eine junge Frau ermordet hat - haben. Weder der Täter noch die Filmemacher hatten ein Interesse daran, ihn als Protagonisten vor die Kamera zu setzen, schreibt René Martens auf ZeitOnline: Entstanden ist ein Film, der "Ambiguitätstoleranz" erfordert. "Die Regisseure entwickeln daraufhin die Idee, S. durch eine Puppe darzustellen, die von zwei Puppenspielerinnen geführt wird. Das mag auf den ersten Blick wie ein spleeniger Einfall klingen, aber relativ schnell wird deutlich, dass die Notlösung Vorteile hat: Die kindgroße Puppe mit dem hässlichen Gesicht lässt keine Faszination für das Böse entstehen. Vor allem ermöglicht sie theaterhaftes Arbeiten. ... 'Anmaßung' ist ein Film über das Filmemachen. Was oft nur für einen kleinen Kreis von Spezialisten reizvoll klingt, für den großen Rest dagegen eher akademisch, wird hier zu einem ungewöhnlichen Seherlebnis."

Außerdem: Esther Buss wirft für den Filmdienst einen Blick auf "Extreme Private Eros: Love Song 1974", ein Dokumentarfilm von Kazuo Hara über seine Partnerin Miyuki Takeda. Es gibt immer wenige gute Liebesfilme, meint Wenke Husmann auf ZeitOnline. Patrick Holzapfel gratuliert im Filmdienst Richard Leacock zum 100. Geburtstag. Besprochen wird Hanneke Schuttes Kinderfilm "Erdmännchen und Mondrakete" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Bob Dylans Streamingkonzert "Shadow Kingdom" ist eine Mogelpackung, schreibt SZ-Kritiker Joachim Hentschel: Nicht nur ist es gar kein Livekonzert, sondern vorab inszeniert und montiert, darüber hinaus soll es im Bon Bon Club in Marseille aufgenommen worden sein, den Hentschel zumindest via Google partout nicht auftreiben kann. Trotzdem ist diese Mogelpackung spektakulär gut und dank der Regie von Alma Har'el mindestens "expressionistische Filmkunst", schreibt er: "Die Szenerie ist kontrastreich schwarz-weiß, die Musizierenden tragen Masken, mehr Zorro als Corona. Nur Dylan schaut und singt in die Kamera". Die Leute im an Tischen gruppierten Publikum "saufen, rauchen, schon da wird es grandios surreal. Das Licht bricht sich im Qualm, in den irrwitzigen Wolken, die hier ausgeatmet werden. Die vornehmen Ladies und vierschrötigen Kerle beleuchten mit ihrem Gepaffe den Raum." Und dann ist der Sound auch noch grandios: "Als hätten der Meister und die Truppe die gesammelten Tanzmusiken der US-amerikanischen Prä-Pop-Ära, von Zydeco bis Rockabilly, im großen Zigarettenpapier zusammengerollt und einmal glimmend rumgehen lassen."

Besprochen werden eine von Mirga Gražinytė-Tyla dirgierte Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" bei den Salzburger Festspielen ("ein Manifest des Widerstands der Kunst gegen die Unbill der Zeit, schreibt Egbert Tholl in der SZ), neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von David Crosby ("ein alter Mann in der Form seines Lebens", schreibt Max Fellmann in der SZ-Popkolumne), und das neue Album des Rappers Vince Staples: "ein Beach Boy ohne Leichtigkeit", schreibt Christian Werthschulte in der taz. Wir hören rein:

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