Efeu - Die Kulturrundschau

Zeig deine Zähnchen, Guido

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2021. Die Theaterkritiker feiern die Rampensaukönigin der Herzen, die umwerfende Katharina Thalbach als Hercule Poirot. Im Standard schwelgt die Schriftstellerin Daniela Emminger im Dürrenmatt-Rausch. Die taz fühlt sich mit der jazzigen, bockigen Musik der Mountain Goats so pudelwohl wie in den Sümpfen Alabamas. Die FAZ blickt in Tübingen ungerührt auf ein Hologramm Marina Abramovics. Und: Die Feuilletons trauern um den großen Modefotografen F.C. Gundlach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.07.2021 finden Sie hier

Bühne

Bringt die grauen Zellen auf Trab: Katharina Thalbach als Hercule Poirot. Foto: Franziska Strauss


Katharina Thalbach hat in der Komödie am Kurfürstendamm im Schillertheater Agatha Christies "Mord im Orientexpress" als Musical inszeniert. Den Detektiv Hercule Poirot spielt sie dabei selbst. In seiner Karikaturhaftigkeit ist das ziemlich lustig, bekennt Esther Slevogt in der taz. Sie hat sich schon am Eingang amüsiert: "Begonnen hatte das Theater schon vor dem Schillertheater. Liegestühle und Schampus-Stände auf der Wiese davor. Ein roter Teppich, auf dem Fernsehpromis und anderes Theatervolk in großer Garderobe zu den Stehtischen schreiten, um den Impfstatus zu belegen und das obligate rote Armbändchen zu erhalten. Auch so was gibt's nur in der Kudamm-Komödie: hysterische Fotografenknäuel, die den posierenden Promis Regieanweisungen zubrüllen. 'Zeig deine Zähnchen, Guido', etwa dem für die umwerfenden Kostüme verantwortlichen Modedesigner und Ex-Supertalent-Juror Guido Maria Kretschmer ... Drinnen schnurrt dann swingend der melodramatische Plot um den Mord im Orientexpress als Typenkomödie über die Bretter."

Bei Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen verfängt die Inszenierung nicht so gut: Thalbach "macht aus dem intimen Stück eine große Revue, mit Tanzszenen, pantomimischen Intermezzi und Showstopper-Gesangsdarbietungen. Weil sie aber gleichzeitig auf kein einziges Detail der Story verzichten mag - obwohl die Handlung als bekannt vorausgesetzt werden kann - streckt sie den Abend so sehr, dass sie am Ende sogar satte 30 Minuten länger braucht als Sidney Lumet in seiner mehr als zweistündigen Verfilmung." Und Nachtkritiker Georg Kasch gibt sich als Thalbach-Fan zu erkennen: "Am Ende ist Theater eben auch eine kleine sympathische Frau, die sich derart virtuos in einen mäßig sympathischen Mann verwandelt, dass man vollkommen vergisst, wer hinter dieser Maske steckt. Und für diese Kunst muss man das Theater einfach lieben." In der SZ feiert Peter Laudenbach gerührt die "Rampensaukönigin der Herzen".

Besprochen werden außerdem Andreas Kriegenburgers Inszenierung von Kleists "Michael Kohlhaas" bei den Bregenzer Festspielen (nachtkritik, SZ), Max Färberböcks Inszenierung von Ferdinand von Schirachs Stück "Gott" am Residenztheater in München (nachtkritik, FAZ, SZ) und Opernaufführungen in Bayreuth (Welt) und Bregenz (Tsp).
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Design

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Der große Modefotograf F.C. Gundlach ist gestorben. "Mit hinreißendem Schwung inszenierte er die Mode als Ausdruck der Lebenslust, und die Pointe dabei war: es mochten Stars sein, die vor seiner Kamera standen, bekannt aus Film und Fernsehen, aber unnahbare Göttinnen waren sie nicht", schreibt Lothar Müller in der SZ. "Er hat das Kunststück fertiggebracht, zugleich Modefotograf und Dokumentarfotograf der Bundesrepublik in jener Epoche zu sein, in der sie aus der Nachkriegszeit heraustrat." Ab den 60ern machte sich bei Gundlach die Pop-Art bemerkbar, schreibt Bernhard Schulz im Tagesspiegel: "Die elegante Dame, das Wunschbild der fünfziger Jahre, war passé. Gundlach allerdings hatte seine Modelle immer schon mal in die raue Wirklichkeit von Hamburg oder West-Berlin gestellt, außerhalb des Studios mit seiner Dekoration."

In der FAZ erinnert sich Freddy Langer gerne an den Glamour des Jet Set, für den Gundlach unter anderem stand: "Seine Modelle ließ er über die Tragfläche eines Flugzeugs balancieren, über die Schwellen endloser Gleise stöckeln oder legte sie im geblümten Kleid in eine Blumenwiese, sodass sie darin verschwanden. Ein ums andere Mal gelang es ihm dabei mit raffinierten Einfällen die Vorgabe der Redaktion zu unterlaufen, die in überzeugter Spießigkeit festgelegt hatte: 'Brigitte ist ein braves Mädchen.' Das konnte ein Fleck weißer Haut sein, eine Narbe auf der Schulter, auch zwei Berge, die am Horizont spitz wie Brüste in den Himmel ragten." ZeitOnline bringt eine Strecke, viele weitere großartige Fotos gibt es zum Stöbern auf Instagram.
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Architektur

Besprochen wird die Ausstellung "Anything goes? Berliner Architekturen der 1980er Jahre" in der Berlinischen Galerie (SZ).
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Literatur

Im Standard erzählt die Schriftstellerin Daniela Emminger, die sich gerade eh in der Schweiz zum Schreiben befindet, wie ihr im Februar des Jahres ein Dürrenmatt-Buch in die Hände gefallen ist und wie sie sich seitdem im Dürrenmatt-Rausch befindet: "Je mehr ich Dürrenmatt lese, desto mehr werde ich zu seinen Figuren, zu seinen Orten, zu ihm selbst. ... Früher fand ich seinen Stil zu banal, zu direkt, zu moralinsauer, jetzt kommen mir sein epischer Theateransatz, seine Verfremdungen, seine tragisch-grotesken Elemente, mit denen sich Unvereinbares mühelos verbinden lässt, genau richtig vor. Was passt besser in diese (meine) Zeit, als die Mischform aus Tragödie und Komödie, die sich konsequent durch alle seine Werke zieht, oder in seinen eigenen Worten 'die einzig mögliche dramatische Form darstellt, heute das Tragische auszusagen.'"

Weitere Artikel: Die NZZ hat Daniel Ammanns Essay über Schach in Literatur und Film aus der Samstagsausgabe online nachgereicht. Hermann Unterstöger schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Latinisten Fidel Rädle.

Besprochen werden unter anderem Fatima Daas' "Die jüngste Tochter" (NZZ), Guy Delisles Comic "Lehrjahre" (Freitag), das vom SRF online gestellte Hörspiel "Il Ritorno in Patria" nach W.G. Sebald (FR), Taiyo Matsumotos Manga "GoGo Monster" (Intellectures), Silke Jellinghaus' Neuübersetzung von Olivia Mannings' "Die gefallene Stadt" (Tagesspiegel), Matthias Nawrats "Reise nach Maine" (NZZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Dolf Verroens "Traumopa" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Thomas Brose über Kurt Martis "gedicht für eine fliege":

"unzeitig
(draußen fällt Schnee)
ist in der stille
..."
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Kunst

Eher distanziert begegnet Ursula Scheer Marina Abramović, dieser "Fakirin der Kunst, unterwegs Richtung Schmerz" in der Kunsthalle Tübingen. Was bleibt vom Spirituellen dieser Kunst, wenn die Künstlerin nicht anwesend ist? "'The Life' von 2019, hier erstmals in einem Museum zu sehen, lässt sich nur mithilfe eines von schweigsamen Helferinnen in Arztkitteln gereichten (und selbstverständlich desinfizierten) Headsets erleben. Trägt man dieses nach dem pseudomedizinischen Ritual auf dem Kopf, wölbt sich vor den Augen eine transparente Brille. Wer durch sie schaut, erblickt ein dreidimensional in den realen Raum projiziertes Phantasma der Künstlerin in dem alterslosen Look, den sie schon lange kultiviert. ... Virtuelle Auferstehung nach dem Tod, ein ewiges Noli me tangere aus der Konserve: Das wirkt technisch berückend, doch performativ seltsam schal. Mit heute avancierten Methoden entsteht ein aseptisches Hologramm einer Performerin fast im Ruhemodus. Als Experiment, als Pionierleistung, ist es interessant."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung der Jugendstil-Künstlerin Ilna Ewers-Wunderwald im Horst-Janssen-Museum in Oldenburg (SZ).
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Film

Nachdem sich die Wallungen um den Dokufilm-Skandal "Lovemobil" etwas gelegt haben, hat Wenke Husmann für ZeitOnline sich bei Dokumentarfilmemachern und bei den beauftragenden Redaktionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk umgehört, wie dort derzeit die Stimmung und Arbeitskultur ist: Etwas mehr Vorsicht herrscht bei den einen Redaktionen, etwas mehr Zuversicht bei den anderen. Dass die Redaktionen noch immer besonders zugespitzte Filme verlangen, deren Ergebnis schon beim Antrag feststeht, hat sich offenbar nicht gelegt, ebenso die zutiefst prekäre Lage der Macher. "Die Filmemacherin Sandra Trostel hat aus diesem Grund ein alternatives Finanzierungsmodell ersonnen. Dabei geht sie von ihrem eigenen Selbstverständnis als Dokumentarfilmerin aus: 'Ich mache Filme über die Gesellschaft - für die Gesellschaft.' ... Weil auch die öffentlich-rechtlichen Sender einen gesellschaftlichen Auftrag haben (und von der Gesellschaft bezahlt werden), schlägt Trostel vor, zwei Prozent der Rundfunkgebühren in die Entwicklung und Realisierung von Dokumentarfilmen zu stecken, was mehr ist als bislang. Davon sollen deren Macher angemessen bezahlt und auch sozial abgesichert werden. Im Gegenzug würden die Lizenzen freigegeben und die Filme langfristig verfügbar gemacht, im Netz."

Außerdem: Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit dem Filmemacher Dominik Moll über dessen neuen Film "Die Verschwundene". Besprochen wird "Gaza mon Amour" von den Nasser-Brüdern (Standard).
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Musik

Gregor Kessler von der taz fühlt sich in der Welt von John Darnielle und dessen Band Mountain Goats einfach pudelwohl. Das neue Album "Dark in Here" knüpft an den Vorgänger "Getting Into Knifes" gut an, fällt aber "im Ambiente rauchiger, jazziger, bockiger" aus, so Kessler. "Spooner Washington, seit Jahrzehnten Teil der Fame-Hausband und Sidekick von Bob Dylan bis Neil Young, webt feine Klavier- und Keyboardfiguren ein wie Goldfäden. Nichts hier ist Dekor. Bläser, Akkordeon, E-Piano … all das ist exakt gesetzt und trägt die Songs, verziert sie nicht bloß. Und lässt sie oft genug ausschlagen. Das fantastisch düstere Titelstück baut zwei Minuten lang Spannung auf und führt sie gekonnt an der Grenze zur Eruption entlang. ... In vielen der zwölf Songs lauert etwas Ungezähmtes, Wildes, wie man es in Alabamas Sümpfen vermutet."



Weitere Artikel: Nachdem Helge Schneider am Freitag ein Strandkorb-Konzert nach einer halben Stunde (gefolgt von einem Donnerwetter auf Social Media) abgebrochen hat, weil ihn das durch die Korbgruppen laufende Gastro-Personal irritiert hatte, fragt sich Andreas Busche im Tagesspiegel-Kommentar "ob man in dieser Zeit nicht auch ein wenig Demut gegenüber den Fans zeigen sollte, die einfach mal wieder froh sind, auf ein Konzert zu gehen." Michael Stallknecht bespricht in einem online nachgereichten NZZ-Artikel vom Samstag das musikalische Programm der Salzburger Festspiele. Frederik Hanssen berichtet im Tagesspiegel vom Klassikfestival in Rheinsberg. Robert Mießner schreibt in der taz einen Nachruf auf Peter Rehberg, dessen Label Editions Mego für wagemutige Elektronik und experimentelle Vorstöße ins Ungewisse bekannt war.
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