Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Quantum Trost im Algorithmen-Modus

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20.08.2021. Die Kunstkritiker feiern schon mal die Eröffnung der Neuen Nationalgalerie, die am Sonntag mit gleich drei Ausstellungen fulminant startet. Nur die FR ist unzufrieden, dass die Rolle Werner Haftmanns, Naziverbrecher und erster Direktor der Neuen Nationalgalerie, kaum thematisiert wird. Der Tagesspiegel erzählt am Beispiel einer Theatergruppe, warum selbst Afghanen, die auf deutschen Ausreiselisten stehen, nicht aus Kabul wegkommmen. Der Standard verteidigt Teodor Currentzis gegen Kritik. Die taz erliegt dem suggestiven Soundvoodoo von Fehler Kuti.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.08.2021 finden Sie hier

Bühne

Tom Mustorph erzählt im Tagesspiegel von einer unabhängigen Theatergruppe in Afghanistan, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Kabul herauszubringen versucht. Die Mitglieder der Gruppe, die anonym bleiben wollen, erklären, warum sie an den Deutschen scheitern: "Y. ist verzweifelt. Zwar war stehen die Namen aller seine Kolleginnen und Kollegen auf Evakuierungslisten des Auswärtigen Amtes. Sie sollen mit der Bundeswehr ausgeflogen werden. Aber seit Dienstag ist es nur einer Person von ihnen gelungen, ins Innere des Flughafens zu gelangen. 'Das Problem: Es gibt zwei Evakuierungszentren im Flughafen, eines von den US-Amerikanern, eines von den Briten. Sie schicken auch jeweils Soldaten ans Gate, die mit Namenslisten ausgerüstet sind und die Berechtigten einlassen. Von den deutschen Stellen vor Ort kommt aber niemand an das Tor. Niemand hat dort die Namenslisten, niemand lässt die Berechtigten durch', teilt er M. dem Tagesspiegel per WhatsApp mit."

Weitere Artikel: Tadashi Uchino beschreibt in einem Theaterbrief für die nachtkritik, wie Künstler in Japan mit Online-Theaterformaten experimentieren. Ueli Bernays unterhält sich für die NZZ mit Matthias von Hartz, dem Leiter des Zürcher Theaterspektakels, über die Folgen von Corona für die Theaterszene. Christine Dössel trifft für die SZ den Regisseur Romeo Castellucci. Die Sängerin Donatienne Michel-Dansac erzählt im Interview mit der SZ, wie sie an der Oper in Hamburg in Bernhard Langs Mono-Oper "Playing Donald Trump" Trump spielt: "Ich bin nicht Trump. Ich bin nur blond. Und es ist keine Parodie, es ist wie ein Kinderspiel, ich spiele Trump. Ein Kind kann Superman sein oder ein Boxer oder ein Trump."

Besprochen werden Christina Tscharyiskis Inszenierung von Elfriede Jelineks Text "Schwarzwasser" am Berliner Ensemble (taz, nachtkritik), Gisèle Viennes Inszenierung von Robert Walsers Kurzdrama "Der Teich / L'Étang" in der Kaserne Basel (nachtkritik).
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Kunst

Alexander Calder, Le Cagoulard, 1954. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Schenkung Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch an das Land Berlin 2010 © 2021 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York. Photo by David von Becker


Am Sonntag  eröffnet die frisch renovierte Neue Nationalgalerie und zwar "mit gleich drei Ausstellungen derart fulminant, dass es jedem Besucher wie Schuppen von den Augen fällt, was da all die vergangenen Jahre seit den MoMA- und MET-Großschauen schmerzlich gefehlt hat: ein Gravitationszentrum der Kunst des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts", schwärmt Stefan Trinks in der FAZ. "Nur konsequent ist daher, wenn mit 'Alexander Calder - Minimal/Maximal' und der Künstlerin Rosa Barba zwei der drei an diesem Wochenende eröffnenden Ausstellungen sich zuallererst mit dieser Ikone der Architektur auseinandersetzen - der angenehme Nebeneffekt ist, dass Calders spätere Werke die in der Debüt-Schau gezeigte Zeitspanne der Kunst bis in die Siebziger verlängern, von wo aus die 1972 geborene Rosa Barba, die Dritte im Bunde und Frau, den Staffelstab in die Jetztzeit trägt."

Tarsila do Amaral, Distanz, 1928. Leihgabe der Fundação José e Paulina Nemirovsky, als Dauerleihgabe in der Pinacoteca do Estado de São Paulo. Foto © Isabella Matheus


Dritte Ausstellung ist "Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945". Während Trinks sie in ihrer politischen Korrektheit etwas verklemmt findet, ist Harry Nutt in der FR höchst unzufrieden, dass sie die Rolle von Werner Haftmann, dem ersten Direktor der Neuen Nationalgalerie, nur mit einer kleinen Hinweistafel thematisiert: "Dass Haftmann dem Nationalsozialismus nicht nur gewogen, sondern aktiv an verbrecherischen Gewaltakten beteiligt war, belegte unlängst der Historiker Carlo Gentile, indem er den Nachweis erbrachte, dass dieser während seiner Kriegszeit in Italien an Erschießungen von Partisanen beteiligt war. An den Händen des so feinsinnigen Kunstverstehers klebte Blut, und keineswegs abwegig ist der Gedanke, dass der unmittelbare Aktionismus, den er in NS-Organisationen gelebt hat, auch mit seinem Verständnis von künstlerischer Modernität korrespondierte. Von all dem erfährt man in der neu konzipierten Ausstellung allein die sparsamen Daten."

Im Tagesspiegel schreibt Birgit Rieger über Barba Rosas Installation, die in dem kühlen Kabinett der Neuen Nationalgalerie "etwas fremdelt. Gerade das schärft den Blick auf das Gebäude. 'In a Perpetual Now' zeigt ein raumfüllendes Gerüst aus Stahlrahmen, in das 15 von Rosa Barbas Filmarbeiten eingebettet sind. ... Einer führt in die Mojave-Wüste und ins größte Medienarchiv der Welt, den Packard Campus nahe Washington, in dem Filmrollen in hohen Regalen aufbewahrt werden. Ein anderer Film, der eigens für die Neueröffnung entstanden ist, zeigt die gläserne Halle der Neuen Nationalgalerie in Nebel gehüllt und greift Mies' Vorstellung von der Architektur als 'neuer Lebensform' auf.

Weitere Artikel: Marcus Woeller berichtet in der Welt von neuen Kunstfestival "Sunday Open" in Berlin. Georg Imdahl besucht für die FAZ das Tinguely-Boot, das heute und morgen in Duisburg ankert (mehr hier). Silke Hohmann (monopol) schreibt den Nachruf auf die kalifornische Künstlerin Kaari Upson. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Mischa Kuball. Referenz- Räume" im Kunstmuseum Wolfsburg (taz)
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Literatur

Die Lyrikerin Esther Kinsky denkt in ihrem online nachgereichten Beitrag zur Dante-Reihe der FAZ nach über die Begegnung zwischen Dante und Odysseus, dessen Wissbegier - "ardore" - ihn in die Hölle gebracht hat. "Odysseus ist der Neugierige, der Grenzübertreter par excellence, der sich allen Gefahren um der Erfahrung willen stellt, zugleich ist er der erste große Ich-Erzähler, Autor der Ur-Autofiktion, dem - wie dem fiktiven Dante-Ich des Textes - der Gang in die Unterwelt und Zwiesprache mit den Toten gewährt war, und so ist er gewiss als Spiegel des Dichters auf seiner Wanderung zu verstehen. ... Der ardore in seiner Dringlichkeit scheint mir wie der aus der Ferne noch widerhallende Sirenenklang einer Freiheit, der die Spannung im Gegenüber der beiden Erfahrungssucher endlos weiter schwingen lässt." Der Kunsthistoriker Hans Belting beschreibt in der SZ außerdem, wie Dante antike und christliche Vorstellungen vom Leben nach dem Tod zum Bild des "lebenden Schatten" amalgamiert und damit unsere heutigen Vorstellungen davon geprägt hat.

Besprochen werden unter anderem Tomáš Radils "Ein bisschen Leben vor diesem Sterben" (NZZ), Yoshitoki Oimas Manga "A Silent Voice" (Tagesspiegel), Bryan Washingtons "Dinge, an die wir nicht glauben" (FR) und neue Hörbücher, darunter eine Box mit neun Dostojewski-Hörspielen (SZ).
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Film

Cute, geht aber weit, sehr weit: Carey Mulligan in "Promising Young Woman"

Emerald Fennell liefert mit "Promising Young Woman" - in der Hauptrolle: Carey Mulligan -  einen ziemlich wilden Beitrag zur #metoo-Debatte der letzten Jahre, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher. "Wir sehen einem geschlechterpolitischen Gegenschlag zu, der einerseits, mit einigem stilistischen Aufwand (Instragram-Cuteness, Disney-Club-Farbgebung, symmetrisch-dekorative Wes-Anderson-Interieurs, ein stilisiertes Cover von Britney Spears' 'Toxic' usw), als popfeministische Wunscherfüllungsfantasie inszeniert wird - und andererseits dank Mulligans großartig fragilem Schauspiel als Symptom einer aufgeschobenen Entwicklung gebrandmarkt ist und auf eine vergangene Traumatisierung verweist. Innen und Außen, Psychologie und Handeln passen nicht so recht zusammen, und eben deshalb sind wir neugierig darauf, zu erfahren, wie weit zu gehen Cassie auf ihren Rachefeldzug bereit ist. Ganz am Ende lernen wir: weit, sehr weit." In der FAZ bespricht Maria Wiesner den Film.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe schreibt in der SZ einen Nachruf auf den japanischen Martial-Arts-Schauspieler Sonny Chiba, der im Bahnhofskino der Siebziger als Backpflaumenverteiler vom Dienst dauerbeschäftigt war und in Tarantinos "Kill Bill" eine späte Ehrung durchs Hollywoodkino erfuhr. Warum er zu Recht als "der japanische Bruce Lee" galt, zeigt dieses Tributvideo:



Besprochen wird Viktor Kossakovskys essayistischer Ferkelfilm "Gunda" (Tagesspiegel, ZeitOnline, mehr dazu bereits hier).
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Musik

Im Standard eilt Miriam Damev Teodor Currentzis zur Hilfe, der in der FAZ für sein Pathos kritisiert wurde: "Currentzis treibt gerne das Tempo, die dynamischen Kontraste und die Phrasierung auf die Spitze - so sehr, dass es manchmal wehtut. Aber liegt nicht genau hier das Wesen der Kunst? Wo sonst darf man hemmungslos mitleiden und ungeniert verabscheuen, was einen insgeheim fasziniert? Mit seiner Musik lässt Mozart die Menschen in ihr tiefstes Inneres blicken, und dabei geht es um weit mehr als Heiterkeit, Drama und Schönklang. ... Currentzis lässt das seine Zuhörer mit jeder Note und jeder Phrase spüren, mit allen Risiken und Nebenwirkungen."

Wie verhält es sich denn jetzt eigentlich mit Fehler Kuti, der einerseits gegenüber "woken" Szenen eher Abstand markiert, aber mit seinen politischen Büchern im Grunde ja ebenfalls "woke" ist. "Kuti kontert die Verklärung von Race mit der Politisierung von Class", schreibt Klaus Walter im taz-Porträt und gibt auch ansonsten Hilfestellung, beziehungsweise "ein Quantum Trost im Algorithmen-Modus: If you like Barry White, Neu!, Shuggie Otis, Fehlfarben, William De Vaughn und Helge Schneider, und if you dir vorstellen kannst, dass ein einflussangstfreier Typ wie Fehler Kuti mit einer versierten Band aus der Münchner Notwist-Blase einen derart gemischten Referenzsalat in einen suggestiven Soundvoodoo verwandeln kann, dann you might like 'Professional People'. Hilfreich auch: keine Abwehr gegen, sondern ein Faible für Denglisch bei Songtiteln wie: 'All Ausländer Go To Heaven', oder 'The Price Of Teilhabe'." Das schauen wir uns gern genauer an:



Weitere Artikel: Julia Spinola spricht in der NZZ mit Michael Sanderling, dem neuen Chefdirigenten des Luzerner Sinfonieorchesters. Für eine ziemlich gute Idee hält es Marlen Hobrack im Freitag, dass Rammsteins Stück "Ich will" als Hymne fürs deutsche Paralympics-Team ausgewählt wurde: Dessen martialisches Pathos kippt in diesem Zusammenhang " unversehens in einen Ruf nach identitätspolitische Anerkennung von Menschen 'mit Handicap'." Jürgen Kesting berichtet in der FAZ von den "Raritäten der Klaviermusik" in Husum, wo ihn besonders wiederentdeckte Stücke von Hélène de Montgeroult, Cécile Chaminade, Cyril Scott und Arnold Bax besonders entzückten.

Besprochen werden eine Aufführung der Brandenburgischen Konzerte durch das Freiburger Barockorchester bei den Salzburger Festspielen (SZ), Alan Vegas posthum veröffentlichtes Album "Mutator" (Jungle World), das neue Album von Zahn (taz) und "Solar Power" von Feuilletonliebling Lorde (ZeitOnline, Tagesspiegel).
Archiv: Musik