Efeu - Die Kulturrundschau

Sieben oder acht Gewehre

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02.09.2021. Pedro Almodóvar erzählt in "Madres paralelas", dem Eröffnungsfilm der Filmfestspiele in Venedig, von zwei ungeplant schwangeren Frauen: undogmatisch und erfrischend großzügig, schwärmt der Standard. Mei Wei erzählt in der nachtkritik von der Wiederaufnahme eines Propagandastücks aus den sechziger Jahren in Schanghai, bei dem die älteren Zuschauer lustvoll mitsangen. Im Van Magazin berichtet Antonia Munding vom Molyvos Festival, das in Griechenland unter dem Motto "Freiheit" wenige Kilometer vor dem türkischen Hoheitsgebiet und ebenso wenig entfernt von den Flüchtlingen im Lager Kara Tepe stattfindet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2021 finden Sie hier

Film

Szene aus Pedro Almodovars "Madres paralelas"

Mit Pedro Almodóvars "Madres paralelas" wurden gestern die Filmfestspiele von Venedig eröffnet. Der Spanier erzählt von zwei ungeplant schwangeren Frauen, gespielt von Milena Smit und Penélope Cruz. Sicher, als feministischer Film ginge das schon auch durch, schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard. Doch gleichzeitig ist dieser Film auch "ein typischer Almodóvar, der sich in keine identitätspolitische Schublade pressen lässt: zu lustvoll und ungeniert fächert er seine Themen von Mutterschaft, Herkunftssuche und Freiheitsdrang auf. ... In einer Zeit, in der man Identitätskonzepte festzurrt, wirkt Almodóvars Sicht erfrischend großzügig und undogmatisch." Doch "so klar benannt wie in 'Parallele Mütter' hat er nie, dass seine Figuren nicht einfach liberal dahinleben, sondern dass hinter den manchmal schrillbunten Fassaden eine politische Haltung steht", ergänzt Susan Vahabzadeh in der SZ. Zugleich fällt ihr auf: "Almodóvar, der einmal für den Zeitgeist stand wie kein anderer Filmemacher, entwickelt sich jetzt gegen den Strom. Alles wird immer schriller und schlichter, er aber erzählt langsamer und leiser und bedächtiger, Geschichten, an deren Ende es nie eine einfache Auflösung geben kann." Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel von den ersten Pressekonferenzen des Festivals.

Im April ist die Filmemacherin und -historikerin Nina Gladitz gestorben, wenige Monate nach der Veröffentlichung ihres Lebensprojekts, einer großen Recherche über Leni Riefenstahl (unser Resümee). Gladitz' 1982 entstandener Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" über Riefenstahls "Tiefland" liegt beim WDR im Giftschrank, wohin die Nazi-Regisseurin ihn erfolgreich weggeklagt hatte. Stattgegeben wurde ihr damals aus rein formalen Gründen, sagt Gerhard Beckmann im CrimeMag und fordert in einem offenen Brief an den WDR-Intendanten Tom Buhrow, den Dokumentarfilm endlich wieder zugänglich zu machen: "Der - formal begründete - Einwand des Karlsruher OLG-Urteils hat sich sachlich als falsch und unhaltbar erwiesen. ... An der Freigabe des Films besteht auch deswegen ein nachhaltiges Interesse, weil Nina Gladitz dort auch mit Josef Reinhardt, Offenburg, gen. 'Seppl' - einem Musiker aus der Reinhard-Sippe, mit anderen Sinti und Roma aus der näheren Verwandtschaft sowie weiteren Überlebenden Interviews über deren Schicksal namentlich in den KZs Maxglan bei Salzburg und Marzahn-Berlin geführt und verfilmt hat. Eine Archivierung und Vorführung dieser Aufnahmen ist - auch im Rahmen der Antiziganismus-Forschung relevant."

Außerdem: Im Filmdienst spricht der Filmemacher Stefan Eberlein über seinen (auf Arte gezeigten) Dokumentarfilm "Der Fall el-Masri" über einen Deutsch-Libanesen, der vom CIA nach Kabul entführt wurde. Ulrich Ladurner besucht für die Zeit das neue Museum für Federico Fellini in dessen Geburtsort Rimini.
 
Besprochen werden İlker Çataks Verfilmung von Finn-Ole Heinrichs Roman "Räuberhände" (taz, FR, Welt), Emerald Fennells "Promising Young Woman" (CrimeMag, unsere Kritik hier), die DVD von Yim Pil-sungs koreanischem Thriller "Scarlet Innocence" (taz), Detlev Bucks Verfilmung von Thomas Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann (ZeitOnline, Tagesspiegel,  mehr dazu bereits hier), die Disney-Serie "Only Murders in the Building" (taz) und der neue Marvel-Superheldenfilm "Shang-Chi" (ZeitOnline, Tagesspiegel).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Shajiabang" 1967


Die Theaterwissenschaftlerin Mei Wei schickt der nachtkritik einen Theaterbrief aus China, wo die Theater nach dem Lockdown wieder geöffnet sind. In China hat Theater immer auch einen erzieherischen, um nicht zu sagen propagandistischen Auftrag, erinnert Mei Wei. Und das klappt ziemlich gut, erklärt sie anlässlich der Wiederaufnahme eines Propagandastücks aus den sechziger Jahren durch die Peking Opern Truppe Shanghai: "'Shajiabang', eine der acht Modellopern der Kulturrevolution ... Bemerkenswert ist, dass sich die aktuelle Inszenierung des 'Shajiabang' sowie aller anderen Modellopern trotz der Anpassungen im Vergleich zum Jahre 1960 fast gar nicht verändert haben. Interessant ist darüber hinaus das Feedback der Zuschauer:innen. Als bei der Aufführung in Shanghai die Begleitmusik von Kommandant Hus Arie einsetzte, fingen viele ältere Zuschauer*innen an, den Liedtext mit dem Schauspieler mitzusingen: 'Im Gedanken an die vergangene Zeit: Meine Kolonne hat insgesamt nur ein Dutzend Personen und sieben oder acht Gewehre […]'. Während der Aufführung jubelten die älteren Zuschauer:innen beim Sieg der Guten und dem Misserfolg der Bösen. Sie nahmen die Aufführung offensichtlich aus moralischer Sicht wahr. Als die Schauspieler*innen die Reaktionen der Zuschauer*innen mitbekamen, wurde ihre Aufführung angeregter. Anhand des Feedbacks der älteren Zuschauer lässt sich vorstellen, dass sich 'Shajiabang' als ein erfolgreiches Beispiel des Propagandatheaters tief in die Erinnerung dieser Zuschauer:innen eingeprägt hat."

Weitere Artikel: In der taz annonciert Katharina Granzin die Uraufführung des Stücks "Courageux! Furchtlos!" von Amina Eisner und Atif Mohammed Nor Hussein im Ballhaus Naunynstraße in Berlin. In der Welt schreibt Manuel Brug zum 80. Geburtstag der Sopranistin Julia Varady. In vielen Theatern dürften Besucher - unter Einhaltung der 3G-Regeln - die Theater wieder voll besetzen, und das ohne Maske: Aber die meisten sind noch zurückhaltend und verlangen immer noch Maske tragen oder besetzen nur zu 60 Prozent, berichtet Christiane Lutz in der SZ. Sinem Kılıç unterhält sich beim Musikfest Berlin für die Zeit mit dem Komponisten Heiner Goebbels. Die nachtkritik streamt ab morgen 18 Uhr das Jugendtheaterstück "Bella, Boss und Bulli" von Volker Ludwig, in der Inszenierung von Robert Neumann am Grips Theater Berlin.

Besprochen werden die Eröffnung des Musikfests Berlin mit Heiner Goebbels "A House of Call" (nmz), ein Konzert mit Strawinsky und Messiaen des Concertgebouworkest Amsterdam unter Daniel Harding beim Musikfest Berlin (Tsp) und das Zürcher Theaterspektakel "Omni Toxica" (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Standard-Blog erzählt die Politikwissenschaftlerin Claudia Strate (im für diese Disziplin wohl unvermeidbaren Gutachtendeutsch) davon, wie sich europäische Transformationsprozesse in Romanen von Susanne Gregro, Nino Haratischwili und Julya Rabinowich niederschlagen und sinnlich begreiflich machen lassen. "Die sogenannte Transformationsforschung, die sich mit tiefgreifenden Veränderungen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme befasst, ist in den letzten Jahren vermehrt an die Grenzen teils unhinterfragter Vorannahmen gestoßen" Es lohne sich daher "den Blick zu öffnen für Erzählungen von Transformation, die über die Vorstellung vom klar trennbaren Vorher/Nachher und den Fokus auf wirtschaftliche und politische Institutionen und Eliten hinausgehen. Wer Zeit zum Lesen findet, begegnet in den Romanen 'Spaltkopf' von Julya Rabinowich, 'Das achte Leben (Für Brilka)' von Nino Haratischwili und 'Das letzte rote Jahr' von Susanne Gregor möglicherweise neue Perspektiven auf anhaltende Herausforderungen." Diese Romane gestatten es, "Transformation als vielschichtige und multidirektionale Prozesse zu denken, bei denen nicht ein vordefiniertes Ende im Fokus steht (liberale Demokratie und Kapitalismus als vermeintlich höchste zivilisatorische Errungenschaften), sondern die Widersprüchlichkeit gelebter Realitäten und Identitäten."

Weiteres: Ulrich Noller spricht für das CrimeMag mit der Schriftstellerin Frauke Buchholz über einen Highway in Kanada, rund um den in den vergangenen Jahren zahlreiche indigene Frauen verschwunden sind, worüber sie auch in ihrem aktuellen Roman schreibt. Alf Mayer knackt fürs CrimeMag den irischen Krimi-Schriftsteller Ken Bruen, der sonst sehr sparsam umgeht mit Worten, hier aber einen wahren Redefluss hinlegt. Außerdem denkt Alf Mayer im CrimeMag über den Niederschlag des Mordes an der "Schwarzen Dahlie" in Kunst und Literatur nach (alle weitere Kolumnen, Rubriken, Rezensionen, Gespräche und Essays des aktuellen CrimeMag finden Sie in dieser Übersicht). In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Tilman Krause daran, wie Reinhold Schneider einst die Hohenzollern aufsuchte, damit sie Deutschland vor den Nazis retten mögen. Hilmar Klute schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Hermann Kinder.

Besprochen werden unter anderem Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" (taz), Ioana Parvulescus "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen" (NZZ), ein Sammelband mit Jacques Tardis Comicadaptionen von Léo Malets Krimis (Tagesspiegel), Matthias Senkels "Winkel der Welt" (ZeitOnline), Krimis von Javier Cercas, Christoffer Carlsson und Jurica Pavičić (CrimeMag), Tomer Gardis "Eine runde Sache" (FR), Angelika Klüssendorfs "Vierunddreißigster September" (SZ) und der von Guram Odischaria und Roin Agrba herausgegebene Band "Der Feigenbaum" mit abchasischen und georgischen Erzählungen (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Auf der Place de l'Etoile in Paris wird gerade die noch von Christo und Jeanne Claude initiierte Verhüllung des Arc de Triomphe vorbereitet, berichtet Peter Kropmanns in der NZZ. "Der in Falten geworfene, eng anliegende, gleichsam figurbetonende, aber zugleich flottierende Stoff wird die Vertikalen, Horizontalen und Vorsprünge aus erhabenen Bauteilen, wie etwa Gesimse, nachzeichnen. Wie die Volumen im Einzelnen und die Silhouette insgesamt ausfallen - Christo hat bis zuletzt nachjustiert -, wird auch vom wechselnden Wetter abhängen. Man mag dabei an die Gemäldeserien des Impressionisten Claude Monet denken. Hier aber wird nicht nur der Himmel bei Tages- und Nachtzeit, sondern auch der Wind mitbestimmen. Er kann an dem exponierten Platz durchaus stark wehen. Dem Künstlerduo jedenfalls schwebte ein sinnlich erfahrbares, durch Licht und Luft 'zum Leben erwecktes Objekt' vor, so Christo, das 'den Leuten Lust macht, es zu berühren'."

Weiteres: Alexander Stumm berichtet in der taz vom Umbau der Saalecker Werkstätten in eine Design Akademie. Besprochen wird die Biennale für Augmented Reality im NRW-Forum in Düsseldorf (Zeit).
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Musik

Antonia Munding berichtet im VAN Magazin vom Molyvos Festival, das in Griechenland unter dem Motto "Freiheit" wenige Kilometer vor dem türkischen Hoheitsgebiet und ebenso wenige Kilometer entfernt von den Flüchtlingen im Lager Kara Tepe stattfindet: "Vor sieben Jahren konnten sie Geflüchtete noch zu den Konzerten einladen, erzählt Kiveli Dörken. Einen ihrer Musical Moments hatten sie direkt im damaligen Lager Moria veranstaltet. Heute sei das nicht mehr möglich. Zu viele bürokratische Hürden, die den Enthusiasmus ausbremsen. Die Geflüchteten dürfen das Lager zwar verlassen, um bei Lidl einzukaufen - in die Konzerte kommen sie (trotz des Wunsches der Gründerinnen) nicht. ... Viele Freiheitsmelodien wurden für das Festival ausgegraben, neu arrangiert, sogar frisch komponiert. Musik, die nicht nur den griechischen Freiheitskampf illustriert, wie der erste Satz Revolution aus Nikos Astrinidis Symphonie 1821. Ein Werk, das man selten in Konzertsälen hört. In Molyvos wird es zum musikalisch-emotionalen Höhepunkt in der ehemaligen Moschee." Hier daraus der vierte Satz, "Revolution".



Weitere Artikel: "Alles mit Vibrato spielen ist furchtbar, alles ohne Vibrato zu spielen ist auch furchtbar", sagt der Dirigent Manfred Honeck im VAN-Gespräch zu Hartmut Welscher. Für VAN spricht Merle Krefeld mit der vielbeschäftigen Pianistin Tamara Stefanovich. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen in dieser Woche Mary Jeanne van Appledorn. Das französische Städtchen La Côte Saint-André feiert Hector Berlioz, berichtet Anja-Rosa Thöming in der FAZ. Ebenfalls in der FAZ berichtet Wolfgang Jean Stock froh vom termingemäß verlaufendem Bau des Ersatzkonzerthauses für die Philharmoniker in München.

Besprochen werden ein auf Disney+ gezeigter Konzertfilm von Billie Eilish (Presse), ein Abend beim Lucerne Festival mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Daniel Harding (NZZ) und Alli Neumanns Album "Madonna Whore Komplex" (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik