Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Mann, der nicht mehr mag

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29.09.2021. Die taz porträtiert die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao, die in einem Haus für 6.000 Euro auch die Schönheit mit einpreist. Die FAZ erlebt, wie New York sich an Terence Blanchards Oper "Fire Shut Up In My Bones" berauscht. Der Tagesspiegel grübelt, was nach R. Kellys  Verurteilung mit seinen Songs auf den Musikportalen geschehen soll. Zum 450 Geburtstag hat die FR Caravaggio alles verziehen. Die Filmkritiker hatten nach dem neuen James-Bond-Film keine Zeit zu schlafen. Und die NZZ ächzt unter der angestrengten Individualität der Turnschuh-Träger.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2021 finden Sie hier

Architektur

Soziale Wohnungen von Tatiana Bilbao in Acuña, Mexiko, 2015. Foto: Iwan Baan

In der taz stellt Jacqueline Rugo die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao vor, der das Architekturzentrum Wien gerade eine Ausstellung widmet. Lateinamerikanische Architekten müssen nicht nur mit der immensen Kluft zwischen Superreich und Superarm umgehen, sondern auch mit einer sehr einfachen Bauindustrie, lernt Rugi von Bilbao: "'Es gibt meiner Meinung nach keinen Grund, in Mexiko mit unbekannten, fließenden Geometrien zu experimentieren. Gute, komplexe Architektur können wir auch mit einfachen Formen herstellen und mit den Technologien, die in Mexiko bekannt sind.' Dass das Recht auf Schönheit nicht unbedingt eine Frage des Budgets ist, bewies Bilbao mit dem Prototyp eines kostengünstigen Hauses. Als sie von der mexikanischen Regierung beauftragt wurde, ein Kleinsthaus für arme ländliche Gemeinden zu entwerfen, entwickelte sie ein Modul für weniger als 6.000 Euro. Bewährt. nachdem 2015 ein Tornado die Stadt Ciudad Acuña verwüstete, kommen Varianten ihres Hauses inzwischen landesweit zum Einsatz."

Gerhard Matzig spuckt Gift und Galle über die Entscheidung von Münchens rot-grüner Stadtregierung, die umstrittene Bebauung des Paketposthallen-Areals nachträglich zu demokratisieren. Ein Bürgerinnen-Gutachten (mehr hier) soll über den Entwurf der Architekten Herzog und de Meuron für 1.100 Wohnungen, eine öffentlich genutzte Paketposthalle und zwei 155-Meter-Türme entscheiden: "Der Masterplan hat vor allem in Form der beiden Türme zuletzt gezeigt, dass er durch immer mehr Beteiligung und immer mehr politisches Gerangel immer mehr an Qualität verliert. Der geforderte Wettbewerb wird diesen Schrumpfkurs katalysatorisch befeuern. Menschen, die glauben, dass Architektur entsteht, indem zwei Backsteine zueinander gefügt werden, können nun per Bürgergutachten mit über das Areal befinden. Die Bild-Zeitung hat sich so etwas auch mal ausgedacht vor Jahren. Damals ging es um das Einheitsmahnmal in Berlin, das demokratisiert werden sollte. Bild titelte: 'Faxen Sie uns Ihre Vorschläge!'"
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Bühne

Terence Blanchards "Fire Shut Up in My Bones". Foto: Metropolitan Opera

Völlig berauscht startete New York in die neue Saison der Metropolitan Opera, berichtet Frauke Steffens in der FAZ, mit Chamapagner, Nationalhymne aus dreitausend Kehlen und Glitzersteine an der Samt-Maske. Aber wie Steffens versichert, war es tatsächlich ein historischer Abend, denn erstmals brachte die Oper das Stück eines schwarzen Komponisten auf die Bühne: Der Jazztrompeter Terence Blanchard, der bereits viel Filmmusik für Spike Lee komponierte, hat "Fire Shut Up In My Bones" nach den Memoiren des schwarzen Journalisten Charles Blow geschrieben, mit Camille A. Brown führete ebenfalls zum ersten Mal eine schwarze Frau Regie in der Met. Themen sind Liebe, Trauer, Wut in einer schwarzen Erfahrungswelt: "Die Mutter arbeitet in einer Hähnchenfleischfabrik, um ihre fünf Söhne durchzubringen. Der Vater, die Brüder und Freunde flüchten sich in eindimensionale Männlichkeitsvorstellungen, und die Kirche spielt angesichts der eigenen gesellschaftlichen Ohnmacht eine große Rolle im Leben der Protagonisten. Charles Blow in seiner Autobiografie und Blanchard auf der Bühne zeigen eine kleine und rigide Welt, in der Charles, dargestellt von Will Liverman, aufwächst. Der Süden, singt der Chor ein ums andere Mal, das sei kein Ort 'for a boy of peculiar grace'."

Besprochen werden die Uraufführung von Bernhard Langs "Otello"-Überschreibung "Der Hetzer" an der Oper Dortmunf (taz), Simon Stones "Komplizen" am Wiener Burgtheater (das Wolfgang Kralicek in der SZ als tolles Ensemblestück lobt), Anne Lenks Inszenierung von Molières "Eingebildetem Kranken" im Schauspiel Hannover (FAZ).
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Musik

R. Kelly ist nach vielen Jahren der Vorwürfe sexuellen Missbrauchs (und einem Verfahren, das 2008 mit einem Freispruch endete) von einem Gericht schuldig gesprochen worden und sieht nun vielen Jahren im Gefängnis entgegen. Dass er "weiterhin Musik produziert, erscheint nicht vorstellbar", schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Doch wie gehen die Musikportale mit seinem bisherigen Werk um? Soll es verfügbar bleiben, jedoch nicht für Playlists ausgewählt und damit gefördert werden? Die Frage ist heikel, geht es doch darum, wie weit sich so ein Bannstrahl erstrecken soll. Ist es legitim, die Kunst eines verurteilten Sexualstraftäters aus dem Programm zu nehmen? Oder ist das schon Cancel Culture?" Das harte Urteil gegen Kelly verdeutlicht die Versäumnisse der Medien und der Branche und deren jahrzehntelange Neigung zum Wegsehen, schreibt Dirk Peitz auf ZeitOnline: "Einfach alle haben versagt."

Weitere Artikel: In der SZ-Popkolumne ärgert sich Jakob Biazza, dass das Plattenlabel Universal sich zwar einerseits nach Vergewaltigungsvorwürfen vom Rapper Samra distanziert hatte, nun aber ohne mit der Wimper zu zucken das neue Album von Olexesh veröffentlicht, der darauf schwadroniert, Jugendliche zum rabiaten Sex zu manipulieren, und Loblieder auf sein Glied singt. Oliver Hochkeppel schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Jazzsaxofonisten Pee Wee Ellis.

Besprochen werden Lil Nas X' Album "Montero" (NZZ, mehr dazu bereits hier) und ein Konzert von Marc Sinan (Tagesspiegel).
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Kunst

Caravaggio: Berufung des Hl. Matthäus. Foto: Paul Hermans / Wikimedia, gemeinfrei

Caravaggio
war kein Realist, stellt Arno Widmann in der FR zum 450. Geburtstag des italienischen Malers klar, sondern ein Dramatiker, der das Leben als Welttheater mit Scheinwerfern in Szene setzte: "Er  war ein Maler voller Anspielungen, ein Maler, dessen Kunst man als Kenner abschmecken konnte. Gleichzeitig überwältigte sie unmittelbar mit ihren dramatischen Effekten. Die Taverne, in der Jesus den Steuerbeamten Matthäus, der sein Jünger werden und seine Geschichte aufschreiben wird, 'erwählt', ist kein Aufenthaltsort für Caravaggios Auftraggeber. Aber doch einer, für den sie sich offenbar interessierten. Die Kunst erlaubte ihnen, Seiten der römischen Gesellschaft zu betrachten, die sie sich sonst vom Leibe hielten. Ihr Ehrgeiz bestand darin, es zu schaffen - für sich selbst und für ihre Nachkommen - nichts mit ihr zu tun zu haben. Bilder davon aber wollte, ja musste man haben."

Als Versagen von Kulturpolitik und Kuratoren wertet Catrin Lorch in der SZ Fälle in Kiel und Görlitz, bei denen Künstler ihre politischen Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum schaffen mussten, weil sie im Wahlkampf dafür nicht neutral genug waren: "Beschädigt ist am Ende aber nicht die Kunst oder ihre Freiheit, sondern, in beiden Fällen, sind es die Künstler, die noch am Anfang ihrer Karrieren stehen. Sie erscheinen als komplizierte, undankbare Träumer, bereit, irgendwie über die Stränge zu schlagen und zu Tretminen in den juristisch bestens austarierten Verhältnissen deutscher Fußgängerzonen und Stadtgalerien zu werden."

Besprochen werden  die seit 2017 durch Europa tourende und seitdem stetig anwachsende Schau zur Feministische Avantgarde "Female Sensitivity" im Lentos in Linz (Standard) die Ausstellung "Heimaten" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (FAZ) und eine Ausstellung zur Farbe Weiß in der Akademie der Künste in Berlin (Tsp).
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Design

Bei Joschka Fischer waren Turnschuhe noch freche Koketterie, in jedem Fall aber ein Regelverstoß. Mittlerweile haben sie alles durchsetzt, grämt sich der Schumachersohn Roman Bucheli in der NZZ: "Wenn Anne Will am Abend der Bundestagswahl in ihrer Talkshow weiße Sneakers zum graublauen Hosenanzug trägt, dann hat das nichts mehr mit Joschka Fischer zu tun, sondern allein mit einem unbekümmerten Individualismus: Schaut her, wie locker ich drauf bin! Ihr Pech: Auch Lars Klingbeil, SPD-Generalsekretär, kam mit weißen Sneakers zum blauen Anzug in die Sendung. ... Schöner hätten sie nicht vorführen können, wie heute jeder Nonkonformismus zuverlässig in die Uniformität umschlägt. Das ist das Paradoxe an der angestrengten Individualität: Weil sie von der Stange kommt, ist sie sehr viel weiter verbreitet, als der Individualist glaubt und es ihm lieb sein kann."

Sabine von Fischer schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Gestalter Robert Haussmann.
Archiv: Design

Literatur

Im taz-Interview spricht die Autorin Nicole Seifert über die Benachteiligung von Frauen im Literaturbetrieb und in den Feuilletons. "Ich kann mir das nur mit unserem erlernten Blick erklären. Das fängt in der Schule an, wo nur männliche Autoren gelesen werden. Es ist wirklich die Ausnahme, dass da mal eine Autorin vorkommt. ... In der Schule lernen Mädchen, sich in männliche Protagonisten hineinzuversetzen, ernst zu nehmen, was Männer schreiben. Andersherum wird das nicht gelernt. Die Jungs lernen nicht, sich in weibliche Protagonistinnen hineinzuversetzen und ernst zu nehmen, was Frauen schreiben. Bis heute kann von Gleichberechtigung keine Rede sein. Das Kreisen um Männerthemen hat Folgen für unsere Gesellschaft. Und zwar keine guten."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Benjamin Quaderer berichtet in der FAZ davon, wie es ist, als Schriftsteller morgens am Frühstückstisch mit Kind auf dem Arm die FAZ zu lesen. Norbert Frei (SZ), Patrick Bahners (FAZ) und Peter-André Alt (Welt) gratulieren dem Verleger Wolfgang Beck zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Ariane Kochs "Die Aufdrängung" (NZZ), Nadifa Mohameds "Der Geist von Tiger Bay" (SZ), Matthias Jüglers "Die Verlassenen" (taz), Christopher Isherwoods "Nur zu Besuch" (Dlf Kultur), Fridolin Schleys "Die Verteidigung" (ZeitOnline), Herta Müllers "Der Beamte sagt" (Welt) und Angela Lehners "2001" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Keine Zeit und keine Lust: Daniel Craig zum letzten Mal als Bond

Keine Zeit zu schlafen: Nach der gestrigen Pressevorführung des neuen James-Bond-Films "Keine Zeit zu sterben" (Regie: Cary Fukunaga) überstürzen sich die Filmkritiker. Dabei bleibt alles wie gehabt, bemerkt SZ-Kritiker Tobias Kniebe zur allgemeinen Motivlage des Films - und doch registriert er Untertöne der Ermattung in diesem Film, den Hauptdarsteller Daniel Craig nach dem letzten Bond-Spektakel "Spectre" eigentlich gar nicht mehr hat drehen wollen: Mitten im Actiongetümmel tut Bond nichts, "stattdessen ist da eine Müdigkeit in Bonds Gesicht und eine Vergeblichkeit in seinem Blick, die direkt aus den Tiefen von Daniel Craigs Seele aufzusteigen scheint. Da sitzt ein Mann, der nicht mehr mag. Der darum bittet, aus der Endlosschleife der ewigen Virilität und Kampfkraft und Unbesiegbarkeit entlassen zu werden, aus der Wiederkehr des Immergleichen, die eben nicht nur das Paradies sein kann. Sondern auch die Hölle." Vielleicht spricht aus diesen Zeilen aber auch nur der Kritiker, der sich nach seinem Bett sehnt.

Der Film "wimmelt von verlorenen Seelen, der in früheren Jahrzehnten gewährte Raum für Ironie und flotte Sprüche und Pointen ist eng geworden", stellt Urs Bühler in der NZZ fest. Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek sieht daher auch nicht nur den Abschied von Daniel Craig gekommen, sondern generell auch vom Bond-Universum und seinen Mechanismen. Mehr hier, hier und hier.

Weitere Artikel: Julia Dettke porträtiert für die Frankfurter Allgemeine Quarterly die Schauspielerin Liv Lisa Fries. Hanns-Georg Rodek sprach für die Welt mit der Drehbuchautorin Laila Stieler, die nach über 30 Jahren aus dem Schatten der Regisseure tritt, die ihre Bücher umsetzen. Jürgen Schmieder besucht für die SZ das neue Academy Museum in Los Angeles.

Besprochen werden Lisa Bierwirths "Le Prince" (Tagesspiegel), die dritte Staffel der Serie "American Crime Story", die sich dem Clinton-Lewinsky-Skandal widmet (ZeitOnline, FAZ) und Joseph Garncarzs Buch "BegeisterteZuschauer. Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur" (FAZ).
Archiv: Film