Efeu - Die Kulturrundschau

Und dann wird geklatscht. Immer.

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21.10.2021. Die FR bewundert die verteufelte Coolness, die Clint Eastwood noch als 91-Jähriger in seinem neuen Film "Cry Macho" ausstrahlt. Die FAZ begreift in Donaueschingen, dass Herrschaftskritik auch eine Strategie der Dominanzsicherung sein kann. Van fremdelt eher mit den französischen und alemannischen Algorithmusfetischisten, die die Lautsprecher knuspern lassen. Dass auch Unbestimmtheit zu menschlicher Wahrheit führen kann, lernen nachtkritik und die SZ in der Münchner Uraufführung von Anne Habermehls Stück "Frau Schmidt fährt über die Oder". Die Literaturkritiker beugen sich über den neuen Asterix-Comic, der Michel Houellebecq in die Ukraine schickt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2021 finden Sie hier

Film

Einer der letzten Helden der Kunst des 20. Jahrhunderts: Clint Eastwood in "Cry Macho"

Wenn Clint Eastwood in seinem neuen Film "Cry Macho" mit gestandenen 91 Jahren noch einmal in den Sattel steigt, schmelzen die Herzen aller Kritiker: Als Cowboy verhilft er in diesem, im Jahr 1979 spielenden Film einem mexikanischen Jungen zur Flucht. Mit dieser "herzergreifenden Geschichte" glückt Eastwood eine "faszinierende Metaebene", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR: Eastwood "überlässt die Spielfläche der Leinwandpersona, seiner Lebensgeschichte als Schauspieler, ja seiner überwirklichen Aura. Natürlich muss ein vaterloser Junge, der seinen Kampfhahn Macho nennt, so einem Mann verfallen, der mit jeder Falte ein Cowboy ist. Es ist dieselbe verteufelte Coolness, die schon Sergio Leone vor bald sechzig Jahren in diesem Gesicht entdeckt hat. ... Wir blicken auf die Kunst des vergangenen Jahrhunderts mit den Augen eines ihrer letzten Helden."

Auch FAZ-Kritiker Bert Rebhandl erblickt in diesem Film vor allem Eastwoods Gesicht und darin wiederum die Spuren der Filmgeschichte: "Für Clint Eastwood ist dieser Mike Milo eine weitere von nun schon einer ansehnlichen Reihe von letzten Rollen, denen er immer wieder noch eine weitere hinzufügt." Zwar zeige er "keinerlei Ambitionen, das Männerkino neu zu erfinden. Es geht einfach darum, den Strom von Geschichten, die sich mit dieser hageren Gestalt mit der markant hohlen Stimme verbinden, nicht abreißen zu lassen. Eastwood ist keineswegs gefeit vor den Polarisierungen, die in der amerikanischen Gesellschaft auch dazu führen, dass Männer sich ständig als richtige Männer beweisen müssen", doch "als Star, als Mann, als Erzähler transzendiert er das alles, und fast schon ein bisschen auch sich selbst." Weitere Kritiken finden sich auf ZeitOnline und in der taz.

Besprochen werden Wes Andersons "The French Dispatch" (FR, Tagesspiegel, Welt, mehr dazu hier), Dave Gordon Greens "Halloween Kills" (so "blutrünstig und sadistisch wie bisher kein anderer Teil der ohnehin nie zimperlichen Serie", stellt Rajko Burchardt im Perlentaucher beeindruckt fest), Heinz Emigholz' "The Last City" (taz, Perlentaucher Jochen Werner konstatiert "eine hochspannende neue Schaffensphase"), die Miniserie "Die Ibiza Affäre" auf Sky (taz, ZeitOnline, Presse), Janna Ji Wonders' Dokumentarfilm "Walchensee Forever" (Freitag, Tagesspiegel) und der Superheldenfilm "Venom 2" (SZ).
Archiv: Film

Kunst

Das Munch Museum in Oslo, erbaut von Herreros Arquitectos. Foto © Adrià Goula
Stefan Trinks ist für die FAZ nach Oslo gereist, zur Eröffnung des neuen Munch Museums, das er in jeder Hinsicht spektakulär findet: Der Neubau von Herreros Arquitectos ist "fünfmal größer als das alte Munch Museum", hat "himmelsstürmende zwölf Geschosse und überragt mit seinen sechzig Metern im ehemaligen Containerhafen Bjørvika seinen direkten Nachbarn, die viel fotografierte schneeweiße Norske Opera des Baubüros Snøhetta, um vieles .... Spaltet das Äußere des hochhausartigen Museums mit Knick die öffentliche Meinung, ist die Begeisterung für seinen Inhalt ungeteilt: Es ist die in dieser Fülle einmalige Quintessenz eines vollständigen Lebenswerks, das nirgends sonst in der Welt so erfahrbar ist. Da Munch die besten Bilder stets für sich behielt oder sich zumindest in den Kaufverträgen ausbedungen hat, das veräußerte Bild jederzeit zum Anfertigen einer Kopie ausleihen zu dürfen, die dann doch wieder als abgewandelte Variation ein Original wurde, kann das Museum vom allerersten Bild noch als Schüler bis zum letzten seine künstlerische Vita lückenlos abbilden."

Weiteres: In der taz ist Hans-Jürgen Hafner unzufrieden mit der neuen Sammlungspräsentation der Neuen Nationalgalerie und mit der Berufung Klaus Biesenbachs als ihrem neuen Direktor. Andrian Kreye besucht für die SZ im oberbayerischen Anzing die Künstlerin Betty Mü und unterhält sich mit ihr über immersive Kunst. In der Zeit ist Hanno Rauterberg überzeugt, dass in der Kunst die Zukunft den Kollektiven gehört. Besprochen wird eine Watteau-Ausstellung im Schloss Charlottenburg in Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

"Frau Schmidt fährt über die Oder". Foto: Julian Baumann


An den Münchner Kammerspielen hat Anne Habermehl die Uraufführung ihres Stücks "Frau Schmidt fährt über die Oder" selbst inszeniert. Es geht um eine Frau Schmidt aus der DDR, die nach der Wende im "bundesrepublikanischen Nichts" landet und schließlich im Krankenhaus stirbt, ihre Tochter, den Großvater und einen Zeitenwandler. Nachtkritikerin Anna Landefeld war mit dem Puzzle, das sich ihr bot, zwei Stunden lang mehr als glücklich: "Anne Habermehl macht den Werkraum der Kammerspiele zum Therapieraum. Ein Therapieraum für vier Menschen, die Nebenfiguren der großen Geschichte, der großen Politik sind, über die das Weltenrad hinübergerollt ist und die man vergessen hat aufzusammeln. Sie gibt ihnen eine Sprache, eine einfache wie schöne, sich immer wieder zeitlich überlappende, springende, aber sich niemals verlierende Sprache. Es ist ein spannendes Glück, dass die Autorin Habermehl auch selbst inszeniert und aus ihrem poetisch-dokumentarischen Text einen klugen, einen aufmerksamkeitsfordernden, aber auch bedrückenden Theaterabend webt."

In der SZ ist Egbert Tholl fast wider Willen beeindruckt von dem Stück: "Es ist ein Text der Spurensuche und der Mutmaßungen, bei dem vieles vage bleibt. Anne Habermehl legt den Figuren stammelnde Unsicherheit in den Mund, einige Kalauer - 'die einzige Gemeinsamkeit hier ist die Einsamkeit' -, erfindet Monologe, die teils eigentlich Dialoge sind oder umgekehrt, sie stolpert so zwischen den Zeiten umher, dass man manches gerne klarer hätte, was Habermehl aber tunlichst vermeidet. Doch: Aus dem Raunen entsteht immer wieder eine eigentümliche, menschliche Wahrheit, der man sich nicht entziehen kann, schon gar nicht dann, wenn man selbst einen Vater hatte, der lange noch vom einstigen Besitz in Schlesien träumte und in seinen letzten Lebensjahren von einer Polin und einem Polen betreut wurde."

Szene aus "La clemenza di Scipione" in Eisenach. Foto © filmwild / Sebastian Stolz


Ganz und gar hingerissen ist Roland H. Dippel in der nmz von Johann Christian Bachs "La clemenza di Scipione" am Landestheater Eisenach. Hier "fliegen nicht nur musikalisch die Fetzen. Jetzt ist der Opernbarock definitiv vorbei", schreibt Dippel über die 1778 uraufgeführte Oper. "Dominik Wilgenbus machte aus der rituell-schematischen Handlung ein kleines Welttheater für zwei Spieler*innen mit Kopfpuppen und fünf Sänger*innen über die schmerzliche Annäherung zwischen den römischen Siegern und spanischen Verlierern des Zweiten Punischen Krieges: Bewegungsintensiv, sinnlich und immer wieder anrührend. Bei den Schweinen hätte man es in dieser Evolutionsdynastie gut sein lassen sollen, lamentiert Herr Gott (Falk Pieter Ulke). Aber 'Schweine können nicht musizieren' kontert Frau Göttin (Kerstin Wiese) und dazu klappern die Mäuler der göttlichen Kopfpuppen. Dem lässt sich schwerlich etwas entgegensetzen, wenn der größere Teil des Ensembles im Theater Eisenach mindestens ebenso gefährlich schön singt wie die Sirenen und fast so herzbewegend wie sterbende Schwäne.  ... Inspiriert von Harry Mulischs Roman 'Die Entdeckung des Himmels' schrieb Wilgenbus Dialoge, welche die von Ernest Warburton für die Notenedition nachkomponierten Seccorrezitative ersetzten."

Weitere Artikel: Esther Slevogt gratuliert in der nachtkritik Elfriede Jelinek zum 75. Geburtstag. Arno Lücker unterhält sich für das Van Magazin mit Joachim Veit, dem Editionsleiter der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe, über den Komponisten. Roland Müller trifft sich für die Zeit mit Thomas Köck, dem "Dramatiker der Stunde", in der Stuttgarter Staatstheaterkantine.

Besprochen werden Stefan Herheims Neuinszenierung von Wagners "Götterdämmerung" an der Deutschen Oper Berlin (nmz, van), Hakan Savaş Micans Musiktheaterstück "Berlin Karl-Marx-Platz" in der Neuköllner Oper (taz) und eine Ballettfassung von Stendhals "Rot und Schwarz" in Paris (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Auf in die verschneite Ukraine: "Asterix und der Greif" (Les Éditions Albert René / Goscinny - Uderzo/Egmont Ehapa)

Heute erscheint das neue Asterix-Abenteuer "Asterix und der Greif". Es ist der bereits fünfte Band des neuen Teams Jean-Yves Ferri und Didier Conrad, die ihre Helden diesmal nach Ost-Europa führen und dabei auch Michel Houellebecq einen prominenten Auftritt als Geografen spendieren. Das liegt wohl vor allem an dessen Roman "Karte und Gebiet", aber wohl auch an "Ausweitung der Kampfzone", spekuliert Andreas Platthaus in der FAZ, denn in diesem Band "dringen die römischen Legionen in Regionen vor, die nie zuvor ein antiker zivilisierter Mensch gesehen hat, weshalb sie gesammelt als Barbaricum bezeichnet wurden. Natürlich werden Asterix und seine Freunde als Widerstandskämpfer gegen Rom von einem der angegriffenen barbarischen Völker zu Hilfe gerufen, konkret den Sarmaten - als Handlungsort ist damit am ehesten die Ukraine bestimmt, aber aktuelle politische Anspielungen verkneift sich Ferri."

Und taugt der Comic denn? "Die Spannung wird unerträglich, wenn durch die klirrende Nacht Grummelgrogrumm-Töne schallen, die den Römern das Blut gefrieren lassen", versichert uns jedenfalls Stefan Brändle im Standard. "Das genaue Studieren dieses Comic-Eastern lohnt sich", schreibt Martin Zips in der SZ, dem die Augen übergehen angesichts der detaillierten Zeichnungen: "Wann entdecken auch die deutschen Pinakotheken den Wert dieser Comic-Kunst?" Im Tagesspiegel bietet uns Ralph Trommer Einblicke ins multimediale Groß-Franchise, zu dem sich auch Asterix längst ausdifferenziert hat (zu erwarten sind für die nächste Zeit ein neuer Trickfilm und eine Netflix-Serie). Zudem hat Trommer bei den beiden Machern nachgefragt, wie so ein Asterix-Band eigentlich entsteht.

Außerdem: Judith von Sternburg berichtet in der FR vom Auftakt des Festivals "Open Books". Besprochen werden unter anderem William Melvin Kelleys "Ein Tropfen Geduld" (Perlentaucher), Tsitsi Dangarembgas "Überleben" (NZZ), Terézia Moras "Fleckenverlauf" (online nachgereicht von der FAZ), Stefan Schomanns "Auf der Suche nach den wilden Pferden" (Freitag), Ferdinand Schmalz' "Mein Lieblingstier heißt Winter" (FR), Andreas Pflügers Krimi "Ritchie Girl" (Presse), Bei Daos autobiografisches Buch "Das Stadttor geht auf" (SZ) und Simone de Beauvoirs "Die Unzertrennlichen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Fassungslos kommt FAZ-Kritiker Jan Brachmann von den Donaueschinger Musiktagen nach Hause. Die Krise der Neuen Musik hat sich ihm hier im vollen Umfang offenbart: "Wo ihre Material- und Verfahrensdiskurse so dramatisch an Dringlichkeit und Nachvollziehbarkeit verloren haben, macht sich die Kunst doppelt erpressbar: zum einen für politische Willfährigkeit, zum anderen für ästhetische Gefälligkeit." Vor sich her getragene edle Ansprüche wie Herrschaftskritik, gesellschaftlicher Fortschritt und offener Diskurs seien längst Feigenblätter: "Herrschaftskritik in der Neuen Musik war vor allem eine Strategie der Dominanzsicherung von Schulen, Kartellen und Einzelfiguren. Doch nun gerät der ästhetisch-monetäre Komplex, für den Donaueschingen beispielhaft steht, durch die gleichen sozialen Umbrüche in die Krise, die alle Einrichtungen der Hochkultur in Frage stellen: Opern, Theater, Rundfunkorchester oder die Kulturradios."

Harry Holt vom VAN-Magazin fühlt sich in Donaueschingen vor allem fremd: Es "werden erbittert sperrige ästhetische Haltungen und Klangvorstellungen verteidigt, jeder emotionale Reaktionen evozierende Takt als Kitsch abgewatscht und Referenzen zu anderen als den seit 100 Jahren von den immer selben (Wenigen) als 'Meister' gefeierten 'Avantgardisten' als billige Zitate beschimpft. Dabei wird noch immer gequietscht und geknarzt, französische oder alemannische Algorithmusfetischisten lassen Lautsprecher knuspern, so dass ein ungeschultes Ohr an elektronische Störungen denkt. Unfassbar guten Musiker:innen wird eine technische Akrobatik abverlangt, bei der am Ende doch nur ein hektisches Rauschen erklingt. ... Und dann wird geklatscht. Immer."

Außerdem: In der NMZ widmet sich Marco Frei dem neuen Lucerne Festival Contemporary Orchestra. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diesmal Cathy Berberian.



Besprochen werden Mayako Kubos in Berlin gezeigte Konzertperformance über John Rabe (Freitag), eine Liveaufnahme von John Coltranes "A Love Supreme" (New Yorker), die Compilation "Paura" mit italienischen Horrorsoundtracks (Standard) und das neue Album "Horizons/East" von Thrice (Standard).
Archiv: Musik