Efeu - Die Kulturrundschau

Großes Mutterfinale

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2021. Die Theaterkritiker liegen Angela Winkler zu Füßen, die in Jan Bosses Adaption des Kracht-Romans "Eurotrash" an der Schaubühne die Crostinis fliegen lässt. Zeit Online erinnert an die Ondes Musicales des Cellisten Maurice Martenot, ein Instrument, um arabische Musik auf europäischer Klaviatur zu spielen. Die Jungle World entdeckt den subversiven Humor der Neuen Deutschen Welle. Die FAZ schreibt über den langen Schatten von Vichy in der französischen Literatur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.11.2021 finden Sie hier

Bühne

Joachim Meyerhoff und Angela Winkler in "Eurotrash". Foto: Fabian Schellhorn


In Christian Krachts Roman "Eurotrash" reisen Mutter und Sohn durch die Schweiz, an Erinnerungsorte. Am Ende steht für die alte Frau die Nervenheilanstalt in Winterthur. Jan Bosse hat das an der Berliner Schaubühne inszeniert, mit Joachim Meyerhoff und Angela Winkler in den Hauptrollen. Rasender Applaus vom Publikum und der Kritik: Was für ein Paar! Zuerst entert Meyerhoff die Bühne. "Erst als er zu erzählen beginnt, kleidete er sich langsam in Christian um", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung, "den blonden Schönling in hellblauem Designeranzug, der schon nach wenigen Sätzen mit dem Hochstaplertum seiner kaputten Familie abrechnet: dem sado-masochistischen Nazi-Großvater und dem neureichen Emporkömmling von Vater. Doch dann huscht Angela Winkler auf, in knallgelbem Kostüm, mit lila Perücke und Blutschorf an Stirn und Kinn und sofort ist sie das störrische, verletzliche, magische Zentrum des Abends. Muss Meyerhoff immer irgendetwas tun, holen, slapstickhaft verändern - tatsächlich zu viel des Aktionismus - sitzt oder steht sie meist unbeweglich an der Reling, und schaut umso intensiver aus ihren tiefschwarzen schaurig rätselhaften Augen in die fremd gewordene Welt. ... Großes Mutterfinale."

Auch Peter Richter ist in der SZ hin und weg: "Die große Angela Winkler, die immer spielt, als sei sie nie ganz in der Welt der Erwachsenen angekommen, schenkt dieser Mutterfigur bei aller Verschattung und dem unübersehbaren Wahnsinn eine Würde, eine Unschuld und den Rückzug in eine kindliche Unverletzlichkeit, die atemberaubend ist." Ins Winkler-Lob stimmen auch Dirk Peitz (Zeit online) mit ein und Christine Wahl: Hier stehe "tatsächlich auch mal eine dieser komplexen Frauenfiguren auf der Bühne, die zurzeit zu Recht allerorten eingefordert werden. Viel zu häufig erschöpfen sich diese aber in der Bühnenrealität in Parolen und Behauptungen", lobt sie im Tagesspiegel. Weitere Kritiken in taz, nachtkritik und FAZ.

Besprochen werden außerdem Johan Simons' Neuinszenierung von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" im Burgtheater (Standard, nachtkritik), Michael Heicks Inszenierung der Fernsehserie "Warten auf'n Bus" am Theater Bielefeld (nachtkritik) und Nora Schlockers Inszenierung des Kroetz-Dramas "Agnes Bernauer" am Residenztheater in München (nachtkritik).
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Literatur

In Frankfurt diskutierten Übersetzerinnen und Übersetzer im Zuge der Gorman-Debatte darüber, wer wen aufgrund divergierender Lebenserfahrungen übersetzen könne und solle. Andrea Pollmeier berichtet für die FR: Thomas Thiel von der FAZ wies Hautfarbe als Kriterium von sich, "da ganz unterschiedliche Charakteristika eines Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten relevant seien. 'Sie rennen offene Türen ein', entgegnet Esther Kinsky, Schriftstellerin und Übersetzerin. Natürlich gehöre man zu vielen Gruppen, dürfe nicht ausschließlich als Schwarz oder Weiß gesehen werden. Das Problem sei jedoch, das 'schwarz gelesene' Personen permanent in diese reduzierte Kategorie gedrängt würden. Daraus sei eine sie einende Leidensgeschichte entstanden. Thiel hakt nach, fragt, ob dies die Konsequenz haben dürfe, dass eine Gruppen nur über sich selbst sprechen dürfe."

Der französische Bücherherbst steht ganz im Zeichen der Aufarbeitung von Geschichte, schreibt Jörg Altwegg in einem online nachgereichten FAZ-Artikel: Seit Modiano habe "der lange Schatten von Vichy die französische Literatur" nicht mehr losgelassen: "Der Leser begegnet ihm nun in Philippe Jaenadas 'Frühling der Monster'. Er wird auch von Myriam Anissimov zitiert und bei Christophe Jamin zum Protagonisten der Handlung seines Romans 'Passage de l'Union'. 'Villa Wexler' von Jean-François Dupont ist eine Hommage an "Villa Triste" von Modiano. Und im neuen Roman des Nobelpreisträgers selbst, 'Chevreuse' betitelt, kehren aus dessen alten Geschichten bekannte Figuren an vertraute Orte zurück und werden in Ereignisse verwickelt, die sich zu wiederholen scheinen, ohne dass man wüsste, ob sie wirklich stattgefunden haben."

Weiteres: Für die NZZ wirft Renate Wiggershaus einen ausführlichen Blick auf Leben und Werk von George Orwell. Ein bislang unbekannter Brief von Rainer Maria Rilke und Clara Rilke-Westhoff belegt, dass sie einmal das Folkwang-Museum besucht haben, schreibt Rainer Stamm in der FAZ. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ der Schriftstellerin Margriet de Moor zum 80. Geburtstag. Nachrufe auf den Schriftsteller Oswald Wiener schreiben Ralf Leonhard (taz) und Till Briegleb (SZ) - weitere Nachrufe bereits hier.

Besprochen werden unter anderem die Neuausgabe von Octavia Butlers afrofuturistischem Klassiker "Wilde Saat" von 1980 (taz), Silvia Tschuis "Der Wod" (online nachgereicht von der FAZ),  Grégory Panacciones Comic "Mein Freund Toby" (Tagesspiegel), Alex Schulmans "Die Überlebenden" (SZ) sowie Frédéric Ciriezs und Romain Lamys Comicbiografie über Frantz Fanon (FAZ).
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Kunst

Helen Pashgian, Untitled, 2018. Courtesy Lehmann Maupin, New York. Foto: Daniel Kukla


Canada Choate spaziert fürs Artforum durch Helen Pashgians New Yorker Ausstellung "Spheres and Lenses" und lässt sich dabei von der kalifornischen Künstlerin erzählen, wie sie in den 60ern zu ihrem Material - Polyesterharze - kam und welche Bedeutung Farben für sie haben: "Manche Leute erzählen mir, dass sie, wenn das Licht sehr hoch steigt und dann wieder sinkt, wissen, dass es dieselbe Farbe sein wird, aber sie haben das Gefühl, dass sie sich selbst verändert haben, so dass sie auf eine andere Weise schauen. Manche Leute sehen, wie sich die Farbe über die ganze Wand bewegt, weil es ihre Wahrnehmung erweitert. Das Timing des Lichtzyklus gibt dem Gehirn und den Augen Zeit, sich darauf einzustellen. Eine weitere Eigenschaft der Linsen, die von allen gelobt wird, ist, dass sie so beruhigend wirken. In der hektischen, kaputten Welt, in der wir leben, in der alles schnell und digital ist, sind sie das Gegenteil. Es ist ruhig, es ist zeitlos, und es hat eine Wirkung auf die Menschen. Genau darum geht es bei Light and Space, um die Wahrnehmung und das Phänomen, wirklich eine Erfahrung zu machen, nicht nur eine Beobachtung."

Nikolaus Bernau berichtet in der Berliner Zeitung von einem Podium mit Hermann Parzinger, Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Max Hollein, Direktor des New Yorker Metropolitan Museums, bei dem Parzinger immer wieder nach Luft schnappte angesichts des Geldregens, der auf Hollein prasselt: "Es brauchte Hollein selbst, um das Staunen ein wenig kritisch zu betrachten: In der Corona-Krise seien die Vermögen seiner Stifter um ein Drittel gewachsen. Millionen Menschen, für die das Museum eigentlich da sei, seien unterdessen in die Armut gerutscht. 400 von 2500 Mitarbeitern habe man entlassen müssen." Auf die Kunst, man muss es leider sagen, wirkt sich das gut aus. 400 Millionen soll das neue Kunstmuseum von Herzog & de Meuron in Berlin kosten: "In New York steht, so Hollein, so viel Geld alleine für einen Umbau eines einzigen Museumstrakts für die moderne Kunst zur Verfügung."

Weitere Artikel: In der taz stellt Andreas Hergeth das Dieselkraftwerk in Cottbus vor, das "wohl schönste Kunstmuseum in Deutschland", wie er meint. "Mit über 42.000 Werken beherbergt es 'eine der wichtigsten Sammlungen von DDR-Kunst', sagt Ulrich Röthke, Kustos der Sammlung Malerei, Grafik und Skulptur. Es liegt im malerischen Goethepark mit alten Bäumen und einem Teich samt Enten." Im Artforum porträtiert Mark Godfrey den in Berlin lebenden kosovarischen Künstler Petrit Halilaj. Catrin Lorch berichtet in der SZ von ihrem Besuch der Art Cologne. Sandra Danicke schreibt in der FR den Nachruf auf Jimmie Durham. Willie Winkler schreibt in der SZ zum Tod des Fotografen Mick Rock.

Besprochen werden die Schau "La Chine" mit chinesischen Grafiken und chinoisen Drucken aus Europa im Dresdner Kupferstichkabinett (Tsp) und die Ausstellung "Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien" im WienMuseum (FAZ).
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Film

Im NZZ-Interview bekräftigt Oliver Stone, dessen neuer Film "JFK Revisited" gerade in den Kinos läuft (unser Resümee), seine Auffassung, der CIA habe Kennedy ermordet, "weil er Dinge änderte und sie damit verärgerte". Ausgewogen wollte er seinen als journalistische Recherche verkauften Film allerdings nicht gestalten: Das "wäre Zeitverschwendung, denn die offizielle Version ist Nonsens", zudem "würde der Film viel zu lang, wenn beide Seiten ausführlich dargestellt werden."

Außerdem: Andreas Hergeth plaudert in der taz mit dem Fotografen Jim Rakete, der mit "Now" gerade eine Klimaschutz-Doku gedreht hat. Nachdem die Zeit kürzlich die Nazi-Vergangenheit des einstigen Filmproduzenten und früheren ARD-Intendanten Hans Abich aufgedeckt hat (unser Resümee), berät nun die Historische Kommission der ARD, wie weiter zu verfahren ist, meldet die FAZ.

Besprochen werden Kelly Reichardts Western "First Cow" (Zeit, mehr dazu hier), Jane Campions Western "The Power of the Dog" (Standard, mehr dazu bereits hier), Sebastian Meises Gefängnisdrama "Große Freiheit" (Welt, mehr dazu hier), Joe Pennas SF-Thriller "Stowaway" (taz), Jason Reitmans 80s-Hommage "Ghostbusters: Afterlife" (SZ), der Porträtfilm "Who's Afraid of Alice Miller" über Martin Miller (Freitag), Edouard Bergeons "Das Land meines Vaters" (Tagesspiegel), das Netflix-Remake des Animes "Cowboy Bebop" (FAZ) und die Netflix-Serie "You" (Welt).

Und ein Mediathektipp fürs Wochenende: Arte präsentiert eine Auswahl der großartigen Filme von Roland Klick.
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Musik

Julia Tieke erinnert in der ZeitOnline-Reihe "10 nach 8" an die Ondes Musicales, ein Instrument, das der Cellist Maurice Martenot 1928 patentieren ließ und es gestatten sollte, arabische Musik auf europäischer Klaviatur zu spielen: " Es ist ein elegantes, aufregendes Instrument, auf dem sich mit einem Band die Tonhöhe stufenlos verschieben lässt. Dadurch kann man auch mikrotonale Intervalle spielen, die zentral sind in der arabischen Musik". Bei einem Kongress im Jahr 1932 rief es allerdings erheblichen Widerspruch hervor: "'Instrumente des abendländischen Orchesters und abendländische Spielweise dringen ein', rüstete sich der Leiter der Musiksammlung der Berliner Staatsbibliothek, Johannes Wolf, für eine Art Feldzug gegen die Zeit. 'Klaviere bedrohen das einheimische Tonartensystem, abendländische Singweise rennt gegen die gutturale morgenländische an. Es ist dringend not zu retten, was zu retten ist.' Tatsächlich verweigerten die Berliner Delegierten ihren arabischen Kollegen damals in Kairo die Zeitgenossenschaft."

Die Rapperin Shirin David plaudert in der SZ über Erfolg auf Youtube, die Geringschätzung von "Ultrafeminität" und Sexismus in der deutschen Rapszene: Der Umgang mit Fraun dort sei "einfach nur grauenhaft. Frauen, Fans dieser Musik, wurden seit jeher behandelt, wie die Typen es gerade wollten. Sie wurden abgestempelt, erniedrigt und ja: auch missbraucht. ... Ich kenne unendlich viele Geschichten - auch so direkt, dass es weit, weit über Hörensagen hinausgeht." Namen wolle sie aber nicht nennen, denn "es bringt zu viele Probleme - mir, aber vor allem den Menschen in meinem Umfeld", es komme "privaten Drohungen. Öffentlichen Kampagnen. Alles, was Sie sich so vorstellen können."

Die Neue Deutsche Welle ist alt geworden und wird nun in Form zahlreicher Re-Issues wiederentdeckt. Das Bild vom Schlagerpop, das sich insbesondere durch die kommerzielle Ausschlachtung des Phänomens festgesetzt hat, erfährt dadurch eine entscheidende Korrektur, freut sich Jens Uthoff in der Jungle World. Insbesondere im experimentierfreudigen Underground wurden musikalische Möglichkeitsräume eröffnet - und gelacht werden durfte auch: Die Bands auf der Compilation "Eins und Zwei und Drei und Vier - Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980-86" etwa "zeichnen sich durch einen feinsinnigen, subversiven Humor aus. Das Münchner Trio P!OFF? (zunächst: Piss Off Orchester) etwa bringt mit einem einzigen Lied das Lebensgefühl junger Menschen in der Bundesrepublik der Achtziger auf den Punkt: 'Mein Walkman ist kaputt / Das ist die Strafe Gottes / Das ist der Hölle Glut' ... Auch kurzlebige Projekte wie Deutsche Wertarbeit - eine Ein-Frau-Band der Keyboarderin Dorothea Raukes von der 1969 gegründeten Progressive-Rock-Band Streetmark - sind vertreten. Ihr krautig-mainzelmännchenmäßiger Track 'Guten Abend, Leute' klingt wie Kraftwerk mit etwas mehr Humor."



Außerdem: Andreas Schäfler verneigt sich vor der Komponistin Eleni Karaindrou, die einst die Filmmusik für Theo Angelopoulos geschrieben hat, sich davon aber längst als eigenständige Stimme emanzipiert hat und kommende Woche ihren 80. Geburtstag feiert. Die NMZ spricht ausführlich mit Kent Nagano. Für die NZZ porträtiert Florian Bissig den kubanischen Jazzpianisten David Virelles. In der NMZ erinnert Daniele G. Daude an den in der Karibik geborenen Komponisten und Dirigenten Joseph de Boulogne, Chevalier de Saint-Georges. Willi Winkler schreibt in der SZ zum Tod des Popfotografen Mick Rock. Olaf Karnik und Volker Zander reisen in einer "Langen Nacht" des Dlf Kultur in die Tiefe der Musik.

Und eine traurige Nachricht: Hank von Helvete, in den 90er- und Nullerjahren der wilde Sänger der norwegischen Skandalrock-Band Turbonegro, ist im Alter von 49 Jahren gestorben. "Gimme Deathpunk, baby, and I like it", sang er in diesem Song:



Besprochen werden das neue Album von Adele ("ein vielfach geknicktes und relativiertes Bekenntnis zur eigenen Unabhängigkeit", schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline), sowie Konzerte von Arlo Parks (Tagesspiegel) und Vijay Iyer (FAZ).
Archiv: Musik