Efeu - Die Kulturrundschau

Anna begeistert, aber sie wärmt nicht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2021. Die Filmkritiker lassen sich von Steven Spielbergs Remake der "West Side Story" mitreißen: maximale Energie-Entfesselung, lobt die taz. Verwegene, kompromisslose Unschuld beeindruckt die FR. Nur die Zeit fühlt sich im Gestern feststecken. Ähnlich erging es einigen Besuchern der Scala, die "Macbeth" und Anna Netrebko ausbuhten. Die FAZ lernt in einer Berliner Ausstellung, dass auch der Iran immer schon Teil der globalen Zivilisation war. Die SZ amüsiert sich mit der "Last Lecture" des "Spott- und Tiermalers" Werner Büttner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2021 finden Sie hier

Film

Vibrierende Spannung: "West Side Story" in der Fassung von Steven Spielberg

Die Filmkritik lässt sich gerne von Steven Spielbergs Remake der "West Side Story" mitreißen. Denn der Regisseur legt für Disney nicht bloß eine Neuauflage des Musicalklassikers hin, sondern ihm gelingt eine von Grund auf renovierte, dennoch nahe am Broadway-Original orientierte Fassung, freut sich Katharina Granzin in der taz. Drehbuchautor "Tony Kushner hat die alte Fassung umgeschrieben, adaptiert, modernisiert, vieles neu hinzugefügt, anderes weggelassen. Die Dialoge sind nunmehr zweisprachig: Untereinander sprechen die PuertoricanerInnen oft Spanisch", zudem "setzt Spielberg auf maximale Energie-Entfesselung" und "dreht den Fokus der Story um, so weit es nur möglich ist: Die Grundsituation, die er zeigt, vibriert derart vor Spannung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie sich in extremer Gewalt entladen muss."

Doch "bei aller Suche nach Realismus liegt auch die kindliche Sicht des Disneyfans über allen Bildern", fügt dem in der FR Daniel Kothenschulte hinzu, der sich an der "meisterhaften Mobiliät" des Kameramanns Janusz Kaminski kaum sattsehen kann. "Genau hierin liegt eine verwegene, kompromisslose Unschuld im Umgang mit dem 65 Jahre alten Stoff. Wo immer Klassiker aufgeführt werden, steht die Regie vor Problemen der Aktualisierung. Hier hat man es mit einem 50er-Melodram über Rassismus, Ausgrenzung und sexistisch geprägten Traditionen von Ehre zu tun. Es wäre leicht gewesen, den Stoff in die Gegenwart zu verlegen. Spielberg tut etwas anderes. Er inszeniert das Bühnenstück in seiner historischen Modernität. Das mit Blick auf die Schönheiten des klassischen Kinos." Für Perlentaucher Michael Kienzl besteht "das Erfolgsgeheimnis des Films gerade darin, dass er auf die Frage, warum man ein derart bekanntes Musical gerade jetzt oder auch überhaupt neu inszenieren sollte, eine überzeugende Antwort schuldig bleibt.

Nur in der Zeit ist Wolfram Goertz dezidiert unbeeindruckt: "Leonard Bernstein und Robert Wise brachen vor sechs Jahrzehnten machtvoll ins Leben auf, Spielberg verweilt 155 Minuten lang genussvoll im Gestern. Seine West Side Story entwickelt eine ungeheure Energie darin, nicht vom Fleck zu kommen." Weitere Besprechungen in FAZ, Welt und Freitag.

Außerdem: In der FR spricht der Schauspieler August Diehl über seinen neuen, in der taz besprochenen Film "Plan A - was würdest Du tun?", in dem er einen KZ-Überlebenden spielt. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl dem Schauspieler Beau Bridges zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Sean Bakers "Red Rocket" (der Regisseur "profiliert sich einmal mehr als der Chronist eines Amerikas, in dem harte Drogen billiger sind als Schmerzmedikamente", schreibt Jochen Werner im Perlentaucher), Maryam Touzanis "Adam" (taz, Tsp, FR) und Nora Fingscheidts "The Unforgivable" (Presse). Außerdem sortieren uns die SZ-Filmkritiker die Starts der Woche.
Archiv: Film

Kunst

"Europäischer Jüngling mit Weinschale und Schoßhund", evtl von Mu`in Musawir, Papier, Tinte, Farbpigmente, Gold, Isfahan, Iran, dat. 1673, © The Sarikhani Collection / C. Bruce

Der Iran war immer auch vom Westen beeinflusst, selbst als er Perser, die erst Griechen und Römer und später Byzantiner und Osmanen das Fürchten lehrte, erkennt FAZ-Kritiker Andreas Kilb in einer 5000 Jahre iranischer Kultur gewidmeten Ausstellung in der James-Simon-Galerie in Berlin. So wurde das Griechentum mit der Eroberung durch Alexander den Großen zur "Leitkultur im Perserreich", später imitierte man wie alle Welt chinesische Porzellan- und Glasmalerei. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts suchte dann der Safawiden-Schah Abbas Verbündete gegen die Osmanen in Westeuropa, erzählt Kilb: "Westliches Geld, westliche Bildideen und Schönheitsideale strömen in die neue Hauptstadt Isfahan, Perserteppiche und Buchmalereien finden ihren Weg nach Westen. Ob diese neuerliche Kontaktaufnahme ebenfalls 'fatal' war, wie es im Katalog zur Ausstellung heißt, die mit dem Isfahan-Kapitel endet, oder eher ein Glücksfall für beide Seiten, muss jeder Betrachter für sich entscheiden. Der ästhetische Reichtum der Objekte, die in Berlin gezeigt werden, lässt die These vom historischen Sonderweg der iranischen Kultur ohnehin fadenscheinig wirken."

Werner Büttner, Ausschnitt aus "Rosenscharmützel", 2007


Prächtig amüsiert hat sich Till Briegleb (SZ) in der Hamburger Kunsthalle mit der "Last Lecture" des "Spott- und Tiermalers" Werner Büttner, der nur einen Feind kenne: "die Heuchelei. Etwa wenn es um die lebendige Ideologie der Wirtschaftspolitik geht, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Da hat Werner Büttner unter dem Kapitel 'Geworfenheit und Verstrickungen' doch einige Widersprüche anzumerken: von 'Bloß keine Illusionen' aus dem Jahr 1989, ein düsteres Selbstporträt als Kopf auf Hühnerfüßen vor einem umgestürzten Strommast, über 'Anpfiff zur Biografie' von 1998... Konsequent hält sich der Skeptiker an ironische Sinnbilder, um über die Untauglichkeit der kapitalistischer Leistungsmoral zu spotten, ihre Behauptungen und Versprechungen auch wirklich einzulösen."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Amada Verde" im Studio des Hauses am Lützowplatz in Berlin (taz) über das Verschwinden des Regenwaldes.
Archiv: Kunst

Literatur

Gerrit Bartels fasst für den Tagesspiegel Abdulrazak Gurnahs am Dienstagabend gehaltene Nobelpreisrede zusammen, bei der Gurnah auch auf die koloniale Erfahrung zu sprechen kam, die sein Werk prägt: "Er differenziert in seiner Rede auch zwischen der Generation seiner Eltern, der eigenen Generation und der nachfolgenden, die wiederum 'ihre eigenen postkolonialen Enttäuschungen und Selbsttäuschungen' hat. Die Machtstrukturen haben sich nicht in Luft aufgelöst, sie stecken weiterhin in den Köpfen. ... Am Ende jedoch schlägt der Literaturnobelpreisträger wieder den Bogen zu sich als Schriftsteller", wenn er unterstreicht, "dass Schreiben nicht nur 'Kämpfen und Polemisieren' sei, sondern es auch um die Schwächen, die Grausamkeiten und die Liebe der Menschen gehe, um das Hässliche genauso wie um die Tugend. Und dass dabei im besten Fall 'eine Art Schönheit' entstehe." Hier der Vortrag in voller Länge:



Außerdem: Für die SZ unterhält sich Julia Rothhaas mit der US-Autorin Roxane Gay unter anderem über deren Storyband "Schwierige Frauen". Sieglinde Geisel unterzieht Giwi Margwelaschwilis Roman "Der Leselebenstintensee" (mehr dazu hier) dem 99-Page-Test von Tell. Marie Nevermann erinnert im Tagesspiegel an den Schriftsteller Robert de Montesquiou, der vor 100 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Anna Haifischs Comic "The Artist: Ode an die Feder" (Tsp), Antje Rávik Strubels "Blaue Frau" (Standard), Hervé Guiberts "Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch" und "Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat" (ZeitOnline), die neue Ausgabe der Comic-Anthologie "Spring" (Intellectures), Eduard von Keyserlings Feuilletonsammlung "Kostbarkeiten des Lebens" (FR), Antonio Scuratis Mussolini-Roman "M. Der Mann der Vorsehung" (SZ), Liz Nugens Psychothriller "Kleine Grausamkeiten" (TA), Sophie Reyers "1431" (FAZ) und neue Hörbücher, darunter Charly Hübners "Motörhead oder warum ich James Last dankbar sein sollte" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Anna Netrebko als "Lady Macbeth". Foto: Brescia E Amisano / Teatro alla Scala


Michael Stallknecht traut seinen Ohren kaum bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala: Buhrufe für Anna Netrebko? Die einzige und möglicherweise letzte Primadonna assoluta? Sie singt immer noch wie keine andere, auch die "Lady Macbeth", wie jetzt in Mailand. Was ihr jedoch fehlt, überlegt Stallknecht, ist ein wirklich eigenständiger, gar neuer Zugang zu den klassischen Rollen: "In der Fülle der gesungenen Partien ließe sich kaum noch angeben, wofür diese Sängerin wirklich stünde, gar mit ihrer eigenen Persönlichkeit einstünde. Im Gegensatz zu anderen Sängerinnen gibt es bei ihr - auch das bezeichnend - keine 'signature roles', keine, in denen man sie unbedingt gehört haben müsste. Was immer sie macht, macht Netrebko richtig, aber selten im Detail auf nennenswerte Weise interessant. 'Anna' begeistert, aber sie wärmt nicht."

Warum Regisseur Davide Livermore und Netrebko ausgebuht wurden, erschließt sich dem Standard-Kritiker Ljubiša Tošic nicht so recht, allerdings gibt er zu, dass die TV-Übertragung (noch in der Arte-Mediathek zu sehen) mit ihren Computeranimationen doch um einiges spannender ist als die recht konventionelle Inszenierung: "Was der TV-Zuschauer an urbanen Schluchten sieht, ist bei Regisseur Livermore auf der Bühne unsichtbar, wenngleich das Filmische in seiner Inszenierung essenzieller Teil einer unbescheidenen Überwältigungsästhetik bleibt."

In der FAZ ist Klaus Georg Koch durchaus beeindruckt von Sängern und Inszenierung, die ihn an Christopher Nolans "Inception" erinnert. Aber auch ihm fehlt etwas: "Die Sänger sind Sänger, spektakuläre Sänger, aber die Verwandlung der vor hundertfünfzig Jahren konzipierten Gesangspartien in Figuren unserer Gegenwart leisten sie nicht. Weil der Erfahrungsabstand zum historischen Werk gar nicht thematisiert wird, ist die 'moderne' Inszenierung entweder vor allem schwülstiges Design, oder sie ist modern gerade in ihrem düsteren Desinteresse an der Person - in beiden Fällen wirkt Livermore wie ein neuer D'Annunzio des Regietheaters."

Besprochen werden außerdem Donizettis "Anna Bolena" mit Diana Damrau in der Titelrolle am Opernhaus Zürich (nmz), Barrie Koskys Inszenierung des "Don Giovanni" in Wien (Standard) sowie Koskys Inszenierung von Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" an der Komischen Oper Berlin (Tsp), Maja Zades Stück "reden über sex", das Marius von Mayenburg an der Berliner Schaubühne inszeniert hat (nachtkritik, SZ) und das Musical "Coolhaze" des Studios Braun am Hamburger Schauspielhaus (Zeit).
Archiv: Bühne

Architektur

Die Siedlung Saraçoğlu von Paul Bonatz in Kızılay, Ankara. Foto: Goethe Institut


Ulf Meyer wirft für die FAZ einen Blick auf die deutsche Architektur in der Türkei, um die es nicht gut steht. Vor allem die Siedlung Saraçoğlu, die Paul Bonatz 1946 in Ankara baute, ist gefährdet, "weil die Regierung Verkauf und Abriss und die Errichtung eines Einkaufszentrums vorschlug. Alle Wohnungen sind geräumt worden. 'Aus ideologischen Überlegungen wurde ein Kampf gegen die Moderne begonnen', sagt Karakuş Candan. Die Bauten aus den Anfängen der Republik werden abgerissen, 'und es wird versucht, sie aus dem Gedächtnis zu löschen', sagt die Kammerpräsidentin. In Ankara wurden der von Ernst Egli gebaute Marmara-Palast, die von Werner Issel 1929 erbaute Maltepe-Gasfabrik und das Baraj-Casino von Theodor Jost bereits abgerissen."

Besprochen werden die "Who's next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt" im Architekturmuseum München in der Pinakothek der Moderne (taz) und die Ausstellung "L'empreinte d'un habitat. Construire léger et décarboné" über die Umweltbilanz der Architektur im Pavillon de l'Arsenal in Paris (SZ).
Archiv: Architektur

Musik

Hartmut Welscher spricht in VAN mit dem Intendanten Christoph Lieben-Seutter über fünf Jahre Elbphilharmonie, die immer mehr auch vom lokalen Publikum angenommen werde, und die aktuelle Coronalage, die dem Haus den Herbst trotz Einschränkungen nicht völlig vernieselt hat. Schon vor der allgemeinen Verordnung hat man hier auf 2G umgeschwenkt, erzählt Lieben-Seutter: Das Haus stand vor der Wahl, "entweder die Konzertgastronomie zu schließen oder auf 2G umzustellen. Da fanden wir die Umstellung besser. Es hat sich dann auch bewahrheitet, dass wirklich nur eine ganz kleine Minderheit unserer Konzertbesucher nicht geimpft ist. Beim ersten 2G-Konzert mit den Berliner Philharmonikern hatten wir von 1.300 verkauften Tickets nur 35 Rückgaben. Es war uns wichtiger, dass die Normalität des Konzertbesuchs erhalten bleibt, man vorher einen Kaffee oder in der Pause ein Gläschen Wein trinken kann."

Außerdem: Für VAN unterhält sich Christina Rietz mit dem Dirigenten Nigel Short über dessen Chor Tenebrae, der Auftritte bei Kerzenlicht bevorzugt. Arno Lücker spricht in VAN mit dem blinden Kantor Sebastian Brendel. Außerdem widmet sich Lücker in der neuen Ausgabe seiner VAN-Reihe über Komponistinnen Emilie Zumsteeg. Stewart Smith wirft für The Quietus einen Blick auf den Katalog des auf experimentelle Musik spezialisierten Labels Takuroku. Für den Standard quält sich Christian Schachinger durch die Weihnachtssongs der Saison. Und Jahresrückblick-Mania: The Quietus verkündert die besten Wiederveröffentlichungen, die besten Metalalben und die besten Punkalben des Jahres. Pitchfork listet uns die besten Rockalben und generell die 50 besten Alben des Jahres auf. Ganz vorne: "Heaux Tales" von Jazmine Sullivan.



Besprochen werden Mach-Hommys Rapalbum "Balens Cho" (Pitchfork), Matthias Muches Posaunenalbum "Bonecrusher" (FR) und Martha Skye Murphys "Concrete" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik