Efeu - Die Kulturrundschau

Ein vollkommen unmögliches Kunstwerk

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16.12.2021. Leos Carax' Filmmusical "Annette" trifft die SZ mitten ins Herz. Die Zeit bestaunt das Computerprogramm Wombo Dream, das Wörter wie "zielführendes Beherbergungsverbot" in Bilder übersetzen kann. Die NZZ fordert einen großzügigeren Umgang mit Restitutionsansprüchen bei unmoralisch erworbener Kunst. Mehr britische Opern an deutschen Bühnen wünscht sich nmz anlässlich zweier britischer Operneinakter in Gera. Im Freitag ärgert sich die Schriftstellerin Zoë Beck über die Dominanz der Männer im Literaturbetrieb. Die Welt wünscht sich die Wiederentdeckung von Stefan Heym, dessen stilsichere Machtkritik sie bewundert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2021 finden Sie hier

Film

Schönheit im Grotesken: Leos Carax' "Annette"

"Eigentlich gibt es nur einen guten Grund, ein Filmmusical zu machen: Wenn es die einzige Chance ist, die Wahrheit zu sagen, ohne dafür getötet zu werden", schreibt Juliane Liebert in der SZ und dieser schöne Satz ist, ob man ihn ihm nun zustimmt oder nicht, allemal wert, erst einmal für sich zu stehen. Den Anlass dafür bietet der Kritikerin und Lyrikerin Leos Carax' neuer Film "Annette", eine Avantgarde-Musical mit Musik von den Sparks, das in Cannes (unsere Resümees hier und dort) die Kritik staunen ließ. In dem mit Adam Driver und Marion Cotillard besetzten Werk geschieht allerlei Ungeheuerliches, "Henry singt sogar, während er Ann oral befriedigt, vertonter Orgasmus inklusive. Jawohl, hart an der Grenze zur unfreiwilligen Komik. Aber damit ist Carax in seinem Element, denn er hat schon immer das Lächerliche und Groteske gesucht, um ihm eine Schönheit und Liebe zu entlocken, die auch den größten Zweifler ins Herz trifft."

Dieser Film ist "ein vollkommen unmögliches Kunstwerk", staunt auch Elmar Krekeler in der Welt. Es strebt "in alle Richtungen davon. Ein philosophisch-gesellschafts-geschlechteranalytischer Wechselbalg von Geschichte, eine musikgeschichtliche Achterbahnfahrt, ein cineastischer Vaudeville-Werwolf, der auf der gefrorenen Oberfläche der Filmgeschichte seine höchst anmutigen, wilden Pirouetten dreht." FAZ-Kritiker Bert Rebhandl hingegen ist eher ratlos: "So richtig wird man nicht schlau, was er im Sinn hatte. Seine Ideen wirken zum Teil zusammengebastelt", es "bleibt der Eindruck einer Skizze." Aber "vielleicht war das ja die Idee: das künstlichste und am hellsten ausgeleuchtete aller Kinogenres ins Zwielicht eines Witzes zu stellen, dem es auf sein Gelingen gar nicht ankommt." Perlentaucher Karsten Munt sieht in dem Film "die intime Geschichte eines öffentlichen Phänomens. Medienwelt und Publikum sind immer irgendwie da und zugleich weit entfernt. Die Massen sind der Chor, dessen moralischer Kompass überfordert von Bewunderung zu Ächtung pendelt. Wir hingegen sind das Publikum, das oft genug den Arsch gezeigt bekommt."

Im FR-Gespräch mit Daniel Kothenschulte erläutert der Filmemacher, was er mit seinem Musical bezweckte: Nämlich "die Welt der Reichen und Schönen zu zeigen, ohne sich hinter Ironie zu verstecken. ... Zu Zeiten, als Douglas Sirk seine Melodramen machte wie 'In den Wind geschrieben' oder 'Solange es Menschen gibt', konnte man das noch ungebrochen zeigen. Es ist schwierig, man hat heute die Ironie der Figuren und die der Kamera." Auch Fassbinder nahm Sirk ja schon vollkommen ernst, "das ist, was Fassbinders Größe in seiner Zeit ausmacht. Ihm war der Klassenkampf und der Kampf der Geschlechter außerordentlich wichtig, wie eben auch schon Sirk. Als Immigrant hatte er einen anderen Blick." Weitere Besprechungen in taz, Filmdienst und im Tagesspiegel.

Außerdem: David Steinitz porträtiert in der SZ die Schauspielerin Rachel Zegler, die in Steven Spieglbergs "West Side Story" (unsere Kritik) zu sehen ist. Die FAS hat ihr Gespräch mit Mišel Matičević über seine Rolle als Ion Tiriac in einem RTL-Biopic über Boris Becker online nachgereicht. Christiane Peitz meldet im Tagesspiegel erste Filme und Pläne der Berlinale, die auch weiterhin am Konzept Präsenzveranstaltung festhält.

Besprochen werden Lucien Castaing-Taylors und Verena Paravels "Caniba", der am 17. Dezember die Reihe "Die Documenta und der Film" im Berliner Zeughauskino beschließt (Perlentaucher), Ryûsuke Hamaguchis Murakami-Verfilmung "Drive My Car" (Freitag), eine DVD über die Filmpionierin Alice Guy (taz), Paolo Sorrentinos "Die Hand Gottes" (FAZ), Nora Fingscheidts "The Unforgivable" (FR), Stefan Jägers "Monte Verità" (taz, Tsp) und der neue Spider-Man-Film (Standard, Filmdienst).
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Bühne

Szene aus William Waltons "The Bear". Foto: Katja Wisotzki

Warum werden britische Opern in Deutschland immer noch so selten aufgeführt, fragt sich Roland H. Dippel in der nmz anlässlich zweier Operneinakter - John Taverners Zweipersonen-Drama "A Gentle Sprit" sowie William Waltons Burleske "The Bear" - die gerade am Theaterhaus Gera zu sehen sind. "Solch grausame und sarkastische Stücke kann man schwerlich als harmlos bezeichnen. Sie bestätigen die große Kraft des unmittelbaren physischen Musiktheaters. Bei Taverner treibt das Ekelpaket an ihrer Seite die Frau aus Dostojewskis fantastischer Erzählung 'Die Sanfte' in den Selbstmord. Dagegen wird die trauerfreudige Witwe in Tschechows Einakter 'Der Bär' zunehmend lustiger, spürt unter ihrem schweren Kleid und Heiligenschein sogar neue Hummeln im Bauch. Was die Bühnen- und Kostümbildnerin Benita Roth und [Intendant Kay] Kuntze in 'A Gentle Spirit' auf der fast leeren, schwarzen Bühne im ersten Teil verkargen, knallen sie in der Extravaganza 'Der Bär' mit perfekt aufgehendem Kalkül drauf."

Weiteres: Das Residenztheater in München eröffnet seine Mediathek mit Sebastian Baumgartens Inszenierung von mit Heiner Kipphardts Stück "Bruder Eichmann", berichtet Egbert Tholl in der SZ. Besprochen werden außerdem Mozarts "Zauberflöte" am Theater Kiel (nmz) und Barrie Koskys Inszenierung des "Don Giovanni" an der Staatsoper Berlin (FAZ).
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Kunst


Wombo Kunst
In der Zeit stellt Hanno Rauterberg das Computerprogramm Wombo Dream vor, das Wörter wie "zielführendes Beherbergungsverbot" in Bilder übersetzen kann. Den Stil kann man per Mausklick selbst bestimmen. Ist das jetzt Kunst? Rauterberg möchte sich da nicht festlegen: "Die Fachwelt weiß ziemlich genau, dass er [der Computer] auf unvorstellbar große Datenbanken zugreift, auf einige Hundertmillionen Motive, jeweils mit Stichworten versehen. Mit diesen Motiven spielt der Algorithmus, taucht sie in neongetönten Farbnebel, überzieht sie mit feinem Liniengespinst, mit virtuellen Pinselstrichen wie ein Dalí, ein Heisig, ein Cézanne. ... Obwohl es immer etwas zu sehen, zu erkennen gibt, bleibt dem Programm die reine Abstraktion so fremd wie jede Eindeutigkeit. Und vielleicht liegt hier, im Ungefähren, die eigentliche Pointe der digital gemalten Bilder. Es ist ja paradoxerweise die kalte, berechnende Technik der Computer, die für einen Überschuss an warmen, dunklen Gefühlen sorgt. Ganz so, als sollte den Bildern der Maschine gelingen, was lange schon ersehnt wird: die Neuverzauberung der ausgenüchterten Moderne."

In der NZZ berichtet Philipp Meier von der jüngsten Pressekonferenz des Kunsthauses Zürich zur Provenienz von Emil Georg Bührles Kunstsammlung: Von den 203 Werken seien 113 lückenlos erforscht und unverdächtig, bei den restlichen Bildern könne man davon ebenfalls ausgehen: "Damit stellt sich die Stiftung Sammlung E. G. Bührle auf einen heiklen Standpunkt: Er impliziert nämlich, dass Kunstwerke, die von in die Schweiz geflüchteten Juden hier verkauft werden mussten, um etwa die weitere Flucht finanzieren zu können, historisch gesehen keine weiteren Fragen aufwerfen würden. Der Stiftungspräsident Alexander Jolles betonte in diesem Zusammenhang, dass es während der Kriegszeit in der Schweiz keine von staatlicher Seite organisierte Verfolgung gegeben habe, weswegen in der Schweiz nicht von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut gesprochen werden könne."

Mit dieser Auffassung ist Meier allerdings äußerst unzufrieden, kann man seinem danebenstehenden Kommentar entnehmen: "Zwar hat die Schweiz mit den Nazis taktiert, Handel betrieben, teils davon profitiert und teils sich auch unrechtmäßig bereichert, ja selbst Flüchtlinge abgewiesen. Historisch ist dies alles unbestritten. Fraglich ist, welche Auswirkungen dies auf den Umgang mit Raubkunst hat. Juristisch betrachtet sind sämtliche Verjährungsfristen verstrichen, kein einziger Fall kommt heute mehr vor Gericht. Und auch Fälle von Fluchtgut sind nicht justiziabel. Soll deswegen eine öffentliche Institution wie das Kunsthaus mit den historischen Verhältnissen von damals nichts zu tun haben?"

Vorbildlich findet dagegen SZ-Kritikerin Isabel Pfaff das Kunstmuseum Bern, das aus der Gurlitt-Sammlung zwei Aquarelle von Otto Dix restituiert hat, obwohl es keine eindeutigen Belege dafür gibt, dass es sich um Raubkunst handelt: "Wie das Museum betont, ist die Provenienz beider Werke höchst lückenhaft, die Erkenntnislage erreiche in beiden Fällen 'nicht annähernd eine justiziable Beweisdichte'. Trotzdem habe man sich aufgrund 'einer Indizienlage von hinreichender Substanz' für die Rückgabe entschieden - eine Entscheidung 'im Geiste' der Washingtoner Prinzipien."

Weitere Artikel: Undine Weimar-Dittmar stellt in der taz die Kunstautomaten vor, die Lars Kaiser seit über zwanzig Jahren betreibt. Hans-Christian Rößler begutachtet für die FAZ die neue Dauerausstellung im Reina-Sofía-Museum in Madrid: "Rund siebzig Prozent der gut 2000 Werke waren noch nie ausgestellt oder wurden erst vor kurzer Zeit erworben. ... Die bekannten Werke von Salvador Dalí, Joan Miró und Antoni Tàpies sind natürlich geblieben, aber nicht mehr so leicht zu finden."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von HR Giger und der südkoreanischen Künstlerin Mire Lee im Berliner Schinkel Pavillon (Tsp), die Ausstellung "Freistaat Barrackia" im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien (taz) und eine Ausstellung des aktuellen "Nominees"-Jahrgangs im Kunsthaus Hamburg (taz).
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Literatur

Im Freitag ärgert sich die Schriftstellerin Zoë Beck über die Dominanz der Männer im Literaturbetrieb, die sich nicht nur im Ungleichgewicht darin zeigt, wessen Bücher zum Beispiel in welcher Zahl und mit welcher Gewichtung besprochen werden: "Zu 80 Prozent arbeiten in der Buchbranche Frauen, aber nur 20 Prozent sind in Führungspositionen. Spitzenpositionen und Spitzenplatzierungen sind nur ein Symptom dafür, was insgesamt immer noch schiefläuft, und sie haben bewusste wie unbewusste Auswirkungen - zugunsten der Männer."

Stefan Heym wurde in den letzten Jahren ein bisschen zu voreilig zu den Akten gelegt und dem Verstauben preisgegeben, findet Marko Martin in der Welt und rät dringend zur Wiederentdeckung dieses Schriftstellers mit einem atemberaubenden transatlantischen und schließlich trans-systemischen Lebenslauf. Denn "wie viel Parteifrommes dann Heym auch in den fünfziger Jahren in Ostberlin publiziert hatte, ehe er zum regimekritischen Autor wurde - all das, Leben und Werk, war mit Sicherheit genau das: much bigger than GDR." Und "die stilsichere Machtkritik" in Heyms "König David Bericht" - sein "besten Buch" -, "hat sowohl das Ende des Zonenstaats wie auch so manch merkwürdiges Statements Heyms unbeschadet überlebt."

Außerdem: Im Tagesspiegel gratuliert Gerrit Bartels dem Schriftsteller Norbert Scheuer zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Liv Strömquists Comic "Im Spiegelsaal" (Intellectures), Uwe Wittstocks "Februar 1933. Der Winter der Literatur" (FR), Christine und Markus Färbers Comic "Fürchtetal" (Tsp), Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" (Standard), Jake Hinksons Country-Noir-Thriller "Verdorrtes Land" (TA), George Orwells "Reise durch Ruinen" mit Reportagen aus Deutschland und Österreich im Jahr 1945 (SZ), Alois Hotschnigs "Der Silberfuchs meiner Mutter" (NZZ), Ulf Erdmann Zieglers "Eine andere Epoche" (SZ) und Wolfgang Hegewalds "Tagessätze" (FAZ).
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Musik

Corina Kolbe porträtiert in der NZZ den Dirigenten Antonello Manacorda und spricht mit ihm unter anderem über dessen Lehrmeister Claudio Abbado. Diese Erfahrung "prägt Manacorda bis heute. Ebenso wie sein großes Vorbild stellt er vermeintliche Gewissheiten immer wieder infrage. ... Und wie Abbado begreift er die Kammermusik, das stete Aufeinander-Hören und den subtilen Dialog zwischen den Stimmen, als Keimzelle der großen Sinfonik."

Außerdem: Die Generation Z, die mit HipHop aufgewachsen ist, entdeckt Rockmusik und E-Gitarren für sich, meint Amira Ben Saoud vom Standard zu beobachten. Karl Fluch schreibt im Standard einen Nachruf auf den Soulsänger Joe Simon. Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Komponisten Karl Heinz Wahren. FDP-Justizminister Marco Buschmann hat einen eigenen Soundcloud-Account, auf dem er Musik (und Reden-Remixe) veröffentlicht, staunt Jakob Biazza in der SZ, denn "kundig ist seine Frickelei allemal". Mitunter geht es dort auch sehr mythisch und pathetisch zu:

MBSounds · Excalibur Calls For Arthur

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Standard), ein Jubiläumskonzert des Staatsopernchors mit Daniel Barenboim (Tsp) und ein Hamburger Konzert von Cecilia Bartoli und Franco Fagioli (FAZ).
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