Efeu - Die Kulturrundschau

Wink mit dem Türklopfer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2021. Die FAZ betrachtet in der Hamburger Kunsthalle eine "Klasse Gesellschaft" mit Phallus an der Tür. In der FR erklärt der Performancekünstler Ragnar Kjartansson, warum die Russen "Santa Barbara" so lieben. Die NZZ bestaunt in London die Raumskulpturen des Designers Isamu Noguchi. Auf Artechock wirft Rüdiger Suchsland dem Europäischen Filmpreis vor, Kunst auf ihren politisch-feuilletonistischen Gehalt zu reduzieren. Die SZ denkt über die Kosten sanierungsbedürftiger Opernhäuser nach und versichert: Die sind nicht nur für Reiche.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Pieter de Hooch, "Liebesboten", 1670


Wolfgang Krischke (FAZ) hätte sehr gut auf die Bilder von Lars Eidinger und Stefan Marx verzichten können, die eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle aufpeppen soll: "Klasse Gesellschaft" ist der Titel der Ausstellung, die hauptsächlich rund 180 Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken niederländischer Meister des siebzehnten Jahrhunderts zeigt. Und die können gesellschaftliche Wirklichkeit gut selbst transportieren, meint Krischke, auf Pieter de Hoochs  "Liebesboten" starrend, der einer kostbar gekleideten jungen Frau einen Brief überreicht. Ihre Kleider, "ein orangefarbener Stuhl im Vordergrund, ein weiterer in der Tiefe der verschachtelten Räume sind leuchtende Inseln im grau-braun schattierten Interieur. Ein Gemälde über dem Boten zeigt als Bild im Bild einen Ausschnitt des biblischen Themas von Lot und seinen Töchtern und verweist so auf den erotischen Inhalt des Briefes. Wem dieser Hinweis entgehen sollte, dem gibt der Maler noch einen Wink mit dem Türklopfer, der die Form eines Phallus hat."

Gerd Schild unterhält sich in der FR mit dem isländischen Künstler Ragnar Kjartansson über politische Kunst und Kjartanssons Performance "Santa Barbara", eine Nachstellung der gleichnamigen amerikanischen Seifenoper, im Moskauer Kunsthaus GES-2: "Man kann das moderne Russland nur verstehen, wenn man versteht, wie groß die Wirkung von 'Santa Barbara' auf das Land war. Diese amerikanische Seifenoper gehört vielleicht mehr zur russischen als zur amerikanischen Kultur. Für die Russen ist die Serie ein Teil ihrer Kultur, aber sie ist natürlich im kalifornischen Santa Barbara geschrieben und handelt von Figuren aus Santa Barbara. Wir spielen das Stück also auf Russisch. Und am Ende wird es dieses eine große Video mit allen Episoden geben. Ich sehe es als ein großes Kriegsgemälde darüber, wie das russische Imperium fiel."
Archiv: Kunst

Design

Isamu Noguchi im Juli 1947 (Arnold Newman Collection/Barbican Arts Centre)

Das Barbican Arts Center in London widmet dem Möbel- und Raumdesigner Isamu Noguchi eine Ausstellung. Dass Noguchi weit mehr zu bieten hat als seinen zum Marker von Geschmacksbewusstsein reduzierten Kaffeetisch, wird NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf dabei rasch klar: "Den Raum betrachtete er als eine Masse, die skulptural zu behandeln sei. Die Ausstellung zeigt, dass die Ästhetik der von ihm hergestellten Objekte keineswegs so homogen ist, wie oft behauptet wird. Von polierten Porträtköpfen bis zu fundstückartigen Objekten, die an Fetische der Stammeskunst erinnern, von kompakten Skulpturen bis zu extrem reduzierten Bühnenbildern, die weite Räume bespielen, ist alles zu finden. Manchmal ist schwer zu glauben, dass all dies aus der Werkstatt desselben Künstlers stammt."
Archiv: Design
Stichwörter: Noguchi, Isamu, Möbel

Literatur

Besprochen werden unter anderem Adelheid Duvanels Erzählband "Fern von hier" (Standard), Arundhati Roys "Azadi heißt Freiheit" (SZ), Kurt Flaschs Buch über "Katholische Wegbereiter des Nationalsozialismus" (FAZ), Dieter Grimms "Verfassungsgerichtsbarkeit" (FAZ) und ein Band über "The Aesthetics of Marble from Late Antiquity to the Present" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Grimm, Dieter

Film

Absolut nicht begeistert ist Rüdiger Suchsland auf Artechock vom Europäischen Filmpreis für Jasmila Žbanićs "Quo Vadis Aida" (unser Resümee), für ihn in seiner zugespitzten Schwarzweiß-Darstellung des Balkankonflikts "ein propagandistischer Film, der von seiner ganzen Art her erzählt ist wie ein schlechter Hollywood-Western aus den Fünfzigerjahren." Und eine bemerkenswerte Schieflage ist ihm aufgefallen: Während Žbanićs Film in Cannes noch völlig leer ausging, gingen wiederum in Cannes und Venedig ausgezeichnete Filme beim Europäischen Filmpreis leer aus. Sein Verdacht: Bei dieser und ähnlichen Veranstaltungen "werden Filme auf ihren politisch-feuilletonistischen Gehalt reduziert. Filme werden zu 'Message-Filmen'. Filme sollen irgendetwas illustrieren, was von bestimmten Meinungsmachern und politisch-kulturellen Entscheidern für politisch wichtig gehalten wird, aber gleichzeitig nicht wirklich verletzt und es gleichzeitig den Menschen, die diesen Film sehen, nicht wirklich schwermacht. Stattdessen werden die Themen, die hier bearbeitet werden - wobei wie gesagt Kino viel mehr ist als die Bearbeitung von Themen - mundgerecht und konsumierbar zubereitet. Sie werden verniedlicht und melodramatisiert."

Außerdem: In der NZZ verneigt sich Ueli Bernays vor Lady Gaga, der es als einer der wenigen Popstars gelingt, auch beim Sprung auf die große Leinwand voll zu überzeugen.

Besprochen werden Maggie Gyllenhaals Elena-Ferrante-Adaption "Die Frau im Dunkeln" (Tsp), Leos Carax' "Annette" (Artechock, Zeit, mehr dazu hier), Adam McKays "Don't Look Up" (Freitag), Andrea Arnolds "Cow" (critic.de), Srdjan Dragojevics "Der Schein trügt" (Artechock, Tsp), Stefan Jägers "Monte Verità - Der Rausch der Freiheit" (Artechock, SZ), die neue Staffel von "The Witcher" (Welt), der neue Spider-Man-Film (Artechock, ZeitOnline, SZ) und ein RTL-Biopic über Boris Becker (ZeitOnline, TA, FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Viele Opernhäuser müssen demnächst renoviert werden, das wird teuer, ahnt Reinhard J. Brembeck in der SZ: 600 Millionen in Köln, eine Milliarde in Stuttgart. Auch die Häuser in Frankfurt, Düsseldorf, Nürnberg und Augsburg an, Berlins Komischer Oper und das Münchner Nationaltheater stehen an. "Allerdings ist der Rechtfertigungsdruck für öffentlich gezahlte Kulturausgaben und speziell für Opernhaussanierungen besonders hoch: Braucht man das überhaupt? Ist das nicht bloß Luxus für Reiche? Das sind durchaus berechtigte Fragen", so Brembeck. "In Stuttgart wurde jetzt eine kleine Bürgerbefragung gemacht, die ein Okay zur Sanierung signalisierte. Dort weiß man, dass die 500 000 Opern- und Ballettkarten von 350 000 Menschen gekauft werden. Das ist alles andere als eine kleine Reichenelite, Stuttgart hat nicht einmal doppelt so viele Einwohner. Und es zieht nicht nur Stuttgarter in ihre legendäre Oper."

Düsseldorf wird gleich ein neues Opernhaus bekommen, weil die Sanierung des alten unwirtschaftlich wäre, hat die schwarz-grüne Regierungskoalition mit Stimmen der FDP und SPD beschlossen, berichtet außerdem Alexander Menden, und für Olaf Przybilla sind die Renovierungsarbeiten in Nürnberg ein Testfall, ob das Publikum den Bühnen in die Ausweichquartiere folgt.

Thomas Oberender soll nach Recherchen eines RBB-Teams im Juni seinen Posten als Intendant der Berliner Festspiele nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs aufgeben haben, meldet die nachtkritik.  Ob das so stimmt, kann Rüdiger Schaper im Tagesspiegel auch nicht sagen, weil Monika Grütters und Oberender schweigen. Grundsätzlich ist Schaper jedoch einverstanden damit, dass Theaterleiter immer öfter auch wegen Mobbingvorwürfen gehen müssen: "Sexistische Übergriffigkeit, rassistisches Verhalten, Drohgebärden, Gebrüll und anderes offenbar klassisches Führungsverhalten werden inzwischen sanktioniert. Nicht immer, aber immer häufiger. Ein Kulturwechsel findet statt. Dass es dabei auch zu zweifelhaften, unklaren oder ungerechten Bewertungen kommen kann, lässt sich bei einem Umschwung dieser Größenordnung kaum vermeiden. Denn es geht nicht nur um eine veränderte Kultur der Arbeit zumal in künstlerischen Berufen. Es geht auch um einen Generationenwechsel, um Karrieren. ... Der Intendant, meist Gutverdiener, trägt viel mehr als die künstlerische Verantwortung."

Besprochen werden Brigitte Venators und Karin Beiers Projekt "Aus dem Leben", das Gespräche über den Freitod montiert (in der FAZ fragt Irene Bazinger leicht ratlos: "Was bringt ein Projekt wie 'Aus dem Leben', während sich draußen im Land Tausende radikalisieren, die den Tod von anderen billigend in Kauf nehmen, weil sie sich nicht impfen lassen wollen?", nachtkritik), die konzertante Uraufführung von Adrian Gaspars Kammeroper "Romano Kidipe" im Frankfurter Gallus-Theater (FR) und Choreografien von Jérôme Bel und Boris Charmatz beim Festival d'automne in Paris (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit der Komponistin Lisa Streich, die in ihren Arbeiten Klang und Geräusch verschmelzen lässt. Wobei es sich bei den Geräuschen um spektrale Akkorde handelt, erklärt sie: Dafür "suche ich auf Youtube Aufnahmen von Amateurchören, also welchen, die nicht perfekt sind. Ich suche nach der besonderen Klangfarbe, Fehlern im Akkord. Dann mach ich von diesen Akkorden eine spektrale Analyse und bekomme so die Spektogramme, in denen ich dann sehen kann, welche Töne am lautesten sind. Die mache ich in meinen Werken dann noch lauter." Zu tun hat dies mit einem "generellen Interesse an der Schönheit des Unperfekten - Dinge geschehen lassen, die nicht perfekt sind, und sie dann noch verstärken in ihrer Schönheit. Das tonale System interessiert mich sehr, aber es funktioniert nicht mehr, denke ich. Zumindest nicht mehr für mich - wenn ich neue Musik höre, die tonal ist, möchte ich am liebsten im Erdboden versinken."



Die taz-Kritikerinnen und -Kritiker bilanzieren das Musikjahr 2021. Julia Lorenz sieht eine Rückkehr des Albumformats, Lars Fleischmann fürchtet um den Dancefloor, Beate Scheder verleiht allen, die 2021 überhaupt Musik aufgenommen haben, einen Orden und für Julian Weber zeichnet sich das Jahr durch eine Renaissance des konzentrierten Zuhörens aus: "Interessante Musik 2021 verzichtete auf Texte oder nahm Worte so auseinander, dass nur Knirschen übrigblieb. Wie 'Fast Fashion' der russischen Künstlerin Lolina (Alina Astrowa), die darin Wortfetzen wiederkäut, Ausschnitte von TED-Talks, Gewinnspielsendungen und hyperekstatische Radiomoderationen zermalmt, hochpitcht, endlos repetiert, bis eine Stimmenkloake entsteht." Und "2021 war wie eine Dauerintrige von Finsterlingen, die sich mit 195 km/h und Fernlicht auf der Überholspur vorbeidrängeln möchten. Gegen die tägliche Nötigung half der impressionistische Spacejazz des dänischen Duos Bremer McCoy, sparsam dosiert für den Hygge-Kitsch bei der nächsten Kissenschlacht."



Außerdem: Merle Krafeld wirft für VAN einen kritischen Blick auf die Berufungsverfahren von Musikpädagogen an Hochschulen. Jan Paersch plaudert für die taz mit Nicolai von Schweder-Schreiner von Veranda Music über deren neues Album "Unter Einfluss", das dem Künstler Tobias Gruben gewidmet ist. Hartmut Welscher bringt für VAN den Sternekoch Tim Raue und den Klassikstreaming-Betreiber Till Janczukowicz miteinander ins Gespräch. Albrecht Thiemann erinnert im Tagesspiegel an den französischen Komponisten Camille Saint-Saëns, der vor 100 Jahren gestorben ist. Zahlreiche kanonisierte Weihnachtssongs entspringen der US-Produktion der letzten Weltkriegsjahre, fällt Matthias Warkus von 54books auf. Jens Balzer schreibt in der Zeit zum Tod des Hip-Hop-Essayisten Greg Tate (mehr dazu hier). In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker diesmal über Pauline Duchambge.



Besprochen werden die CD-Box "Brillant Adventure" über David Bowie in den Neunzigern (Standard) und ein neues Musikvideo zu George Harrisons Hit "My Sweet Lord" (SZ).

Archiv: Musik