Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Gelb, ein Orange, ein Rot, ein Blau

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31.12.2021. Die FR bewundert die Kühnheit der Malerin Anna Dorothea Therbusch. Tagesspiegel und nmz amüsieren sich mit einem hinreißenden, Rollenspiele zeitlos entlarvenden "Postillon de Longjumeau" in Erl. Die SZ feiert die Farben, die die Architekten von Sauerbruch Hutton dem neuen Abgeordnetenhaus in Berlin verliehen haben. Die Cinephilie ist auch 2021 nicht gestorben, freut sich Artechok. Die FAZ kniet nieder vor den Appoggiaturen und Gruppetti der Cecilia Bartoli.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2021 finden Sie hier

Architektur

Der Luisenblock West von Sauerbruch Hutton Architekten


In der SZ staunt Gerhard Matzig über den neuen "Luisenblock West" von Sauerbruch Hutton Architekten, der dem adipösen Bundestag (736 Abgeordnete, jeder mit Anspruch auf 3 Büroräume!) endlich den benötigten Platz gibt: Keine Kostenüberschreitung, Fertigstellung vier Wochen zu früh, klimafreundlich ist es auch noch und er hat Farben. "Dass das Ernsthafte auch leicht und das Gewichtige sogar elegant aussehen kann: Das ist auch der farbigen Fassade aus recyceltem Aluminiumblech als Witterungsschutz für das Holz zu danken." Dass die Sauerbruch-Architekten Farbe - nicht Buntheit! - können, haben sie schon in München beim Museum Brandhorst gezeigt: Auch dort "steht man mit einem Mal vor einer Architektur, die einen fast in den Arm nimmt. Die finstere Gedanken an Pandemie und Gesellschaftslage davonpustet, die einem ein Lächeln schenkt, dazu Heiterkeit und Schönheit. Und Farbe. Eine Menge Farbe. Schöne Farben, intensive Farben. Ein Grün, ein Violett, ein Gelb, ein Orange, ein Rot, ein Blau."
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Kunst

Anna Dorothea Therbusch, Selbstbildnis, um 1782. © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders


In der FR empfiehlt Ingeborg Ruthe, Bekanntschaft mit der Rokoko-Malerin Anna Dorothea Therbusch (1721-1782) zu machen, der die Berliner Gemäldegalerie gerade eine Ausstellung widmet: "Der kleine, feine Auftritt ihrer zwölf Bilder zwischen 'bewegtem' Rokoko und konzentriertem Realismus zeigt lebensnahe Porträts, Selbstporträts, Stillleben und Historien-Motive - mit erotisch nuancierten Frauenakten. Das Ganze in lockerer, für damals geradezu kühn zupackender Malweise und experimentierfreudigem Umgang mit Farbe. Dazu korrespondieren Bilder von Pariser und Berliner Malern ihrer Zeit sowie Motive von Malerinnen wie Elisabeth Vigeé-Lebrun oder Angelica Kauffmann." Therbusch war eine ungewöhnliche Frau, so Ruthe, und "eine gefragte Porträtmalerin. ... Als ihr Mann früh verstarb, musste sie allein für das Auskommen der Familie sorgen. Und das schaffte sie. Wenige Tag vor ihrem Tod vollendete sie ihr Alters-Selbstbildnis im metallisch schimmernden Kleid. Darin findet sich nichts mehr vom verspielten Rokoko-Stil: Vor dunklem Bildgrund sitzt eine selbstbewusste Gelehrte mit Buch. Wach, interessiert, nahbar als Gesprächspartnerin. Sie blickt durchs Augenglas, sieht ihre Welt unbestechlich, wie sie ist.
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Film

Eine Milliarde Kinokassenumsatz in zwei Wochen, und das unter Coronabedingungen: Das muss man dem neuen "Spider-Man"-Film erst einmal nachmachen. So viel Umsatz ist ohnehin nicht vielen Filmen geglückt - 50 sind es bislang, schreibt Dunja Bialas auf Artechock (allerdings ohne uns zu verraten, ob da die Inflation schon eingerechnet ist) und warnt davor, Blockbuster-Kino gegen das erlesen Arthouse-Kino auszuspielen: "Generell gilt: Die Cinephilie ist allumfassend. ... Auch die Opposition Streamen vs. Kino ist ein großes Missverständnis. Viel zitiert sind Studien, die von cinephagen Alles-Gucker berichten, die sich zwischen zahlreichen Kinobesuchen auch noch zu Hause Filme und Serien reinziehen, all you can watch. Der Streaminganbieter Mubi bietet seit 2007 konsequenterweise nischige Festivalfilme und in London auch Kinobesuche im Abo an. Jetzt hat er ein gedrucktes Notebook herausgegeben, das nicht nur cinephil, sondern auch in hohem Maße bibliophil ist." Dazu passend: Auch das junge Publikum weiß den Kinobesuch als Ereignis noch zu schätzen, unterstreicht auch die - ihrerseits junge - Artechock-Autorin Paula Ruppert.

Besprochen werden Maggie Gyllenhaals Verfilmung von Elena Ferrantes Roman "The Lost Daughter" (Presse), Andrea Segres Dokumentarfilm "Moleküle der Erinnerung" (Artechock, Tsp, mehr dazu bereits hier), Adam McKays "Don't Look Up" (FAZ, Artechock, mehr dazu hier), der Animationsfilm "Encanto" (Artechock) und das Sky-Special zu 20 Jahren "Harry Potter"-Filme, für das die Stars der Filme sich zum Kamingespräch einfanden (SZ).
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Bühne

"Le Postillon de Lonjumeau" in Erl. Foto: Xiomara Bender


Ganz passend zum heutigen Zeitgeist findet Wolf-Dieter Peter in der nmz Adolphe Adams opéra comique von 1836, "Le Postillon de Lonjumeau", die bei den Tiroler Festspielen in Erl aufgeführt wurde und für die "Ausstatter Kaspar Glarner ein mehrfach von 'Bauern' gedrehtes Theater-Bühnen-Haus gebaut hat: mit bespielter Vorder- und Hinterbühne sowie Seitengassen, vielfachen Vorhängen, Kristalllüstern und Kulissenimitaten; es führt wie nebenbei ganz wirbelig, spielerisch und amüsant das bis heute nachwirkende Theater des 18.Jahrhunderts vor. Und das Einverständnis mit Regisseur Hans Walter Richter war offensichtlich: in den schon dunklen Zuschauerraum tönte plötzlich 'Chef-Gebrüll' herein - und kurz drauf schritt 'Sa Majesté' Louis XV. im Zobelornat quer durchs Proszenium und wies rüde den unterwürfig eitlen Marquis de Crocy (treffend gespreizt: Steven LaBrie) an, gefälligst Ersatz für den liebestoll entflohenen Startenor der Opéra Royale aufzutreiben. Erst nach dieser 'Zutat' setzte Dirigent Erik Nielsen mit der Musik ein. Dem Kreislauf von Land-, Theater- und Pariser Adelsleben setzten Regie und Kostüm immer wieder kleine Blitzlichter des Amüsements auf, dabei Rollenspiele auf dem Theater wie im realen Leben als zeitlos entlarvend." Beeindruckt war auch Tagesspiegelkritiker Bernhard Doppler: "Erik Nielsen, in Erl auch Dirigent von Wagners 'Ring', führt vor, dass Adams Musik nicht nur Barockmusik zitiert, sondern durchaus auch Wagners Schwanenritter Lohengrin vorwegahnen könnte und zeigt immer wieder, welche Raffinesse, ja welche musikalischen Kleinode in Adams Oper stecken."

Weitere Artikel: In der NZZ porträtiert Urs Bühler den Schweizer Komiker Beat Schlatter. Die nachtkritik streamt über die Feiertage in 26 Stop-Motion-Videos "Grusel Grusel. Das Alphabet der Monster & Ungeheuer" des Performance Kollektivs "Neue Kompanie". Und die nachtkritik-Redaktion blickt zurück auf das Theaterjahr 2021.

Besprochen werden außerdem Bellinis selten gespielte Oper "Zaira" als "Theater unter Vorbehalt" am Stadttheater Gießen (nmz) und eine "Aida" am Linzer Landestheater (Standard).
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Literatur

Loriots "Hoppenstedts" tauchen erstmals bei Wilhelm Busch auf, belehrt uns Hubert Spiegel in der FAZ, der in einem in der aktuellen Ausgabe von Text und Kritik veröffentlichten Aufsatz von Tom Kindt über weitere Busch-Inspirationen bei Loriot informiert wurde. In der FR gratuliert Arno Widmann Anne Duden zum 80. Geburtstag. Außerdem bringt die taz eine Geschichte der Open-Mike-Siegerin Laura Anton.
 
Besprochen werden Felicitas Hoppes "Nibelungen" (Freitag), Douglas Stuarts "Shuggie Bain" (Tsp), Damon Galguts "Das Versprechen" (Standard), K-Ming Changs "Bestiarium" (ZeitOnline), Manuele Fiors Comic "Celestia" (taz) und der neue Band aus Cornelia Funkes "Drachenreiter"-Reihe (SZ).
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Musik

Die FAZ hat Jürgen Kestings Rezension neuer CDs von Cecilia Bartoli und Anna Netrebko online nachgereicht. Beide Veröffentlichungen lassen den Rezensenten ein Wechselbad der Gefühle durchlaufen, die ihn einige Male sich um die Stimmen der beiden Stars sorgen lässt. Nach manchen "Momenten der Exaltation" bei Bartoli freut er sich, von ihr auch einmal "fließendes lyrisches Cantabile zu hören. ... Wie sie es versteht, eine musikalische Linie durch Appoggiaturen und Gruppetti zu akzentuieren, ohne den Fluss aufzuhalten, ist ein höchstwertiges Zeugnis belcantischer Kunst. Das stilistisch und thematisch klug abgestimmte Programm findet mit Haydns großer 'Scena di Berenice' ... einen wundervollen und bewegenden Abschluss. Gleichwohl bleibt insgesamt der Eindruck, dass sie stimmlich an die Grenzen zwischen Mezzo und Sopran gelangt ist." Wir hören rein:



Zum 25. Todestag von Townes van Zandt verneigt sich Berthold Seliger in der jW tief vor dem Countrysänger, der zu den größten zählte, aber nie den kommerziellen Erfolg hatte, der ihm eigentlich zustehen hätte müssen. Was im Grunde ja passt zu den melancholischen Texten, die Seliger mit viel Freude am Detail durchsieht. Er stößt darin auf eine Welt, die "kein Erbarmen kennt, der Abgrund ist das Hoheitsgebiet dieses Songwriters, aber die Menschen darin empfinden und empfangen Mitleid, 'compassion', wie das stärkere Wort dafür im Englischen lautet." Er "singt von der Heimatlosigkeit, und zwar nicht im reaktionären oder kitschigen tümelnden Sinn, sondern von der Heimatlosigkeit gegenüber der Welt, einer Welt, in der er ein Fremder ist" und beschreibt "immer wieder das Leben der sogenannten kleinen Leute, der Arbeiter und der unteren Mittelschicht, und er bedient sich eines lakonischen, harten Realismus, den man auch aus amerikanischen Kurzgeschichten kennt: wirtschaftliche Probleme vor allem, daraus resultierendes Alltagsleben, Liebe, Trennung, Zwänge, Konventionen. Hard boiled." Zu seinen großen Meisterwerken zählt sein Album "Our Mother the Mountain".



Außerdem: Die Song- und Playlistlogik von Spotify, aber auch die Snippetkultur auf TikTok haben dem Album als Kunstform bislang kaum etwas anhaben können, schreibt Julian Weber in der taz. In der FAZ gratuliert Jan Wiele Country Joe McDonald schon mal für morgen zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das (am frühen Abend hier auf Arte gezeigte) Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Lahav Shani, der kurzfristig für Kirill Petrenko eingesprungen ist (Tsp), und Dustin Breitenwischers "Die Geschichte des Hip-Hop" (FAZ).
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