Efeu - Die Kulturrundschau

Gestein, Salbei, Knochen, das Licht

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25.01.2022. Als wäre es das erste Mal erlebt die taz hingerissen das Rätsel der Liebe mit Glucks "Orfeo ed Eurydice" an der Komischen Oper in Berlin. Die NZZ kann in den Bildern Georgia O'Keeffes weder Abstraktion noch Erotik entdecken. Der FAZ tritt mit Matti Geschonneks "Wannseekonferenz" das ganze Dilemma des Geschichtsfernsehens vor Augen.  Zum Tod von Thierry Mugler lassen SZ und taz noch einmal sein Pandämonium aus Latex-Dominas, Dragqueens und Eisköniginnen hochleben. Und die Welt ruft: Musikrechte sind das neue Erdöl.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2022 finden Sie hier

Bühne

Und dann hat man die Krise: "Orfeo ed Eurydice" an der Komischen Oper. Foto: Iko Freese

Über Glucks "Orfeo ed Euridice" soll schon alles gesagt sein? Von wegen! taz-Kritiker Niklaus Hablützel erlebt das Drama der Liebe in Damiano Michieletto Inszenierung an der Komischen Oper, als wäre es das erste Mal: "Hinreißend ist das, weil es so wahr ist. Offenbar gibt es Erfahrungen, die universaler sind als soziale Lagen. Genau das war Glucks Revolution, damals gegen den Adel, heute gegen den ganzen Rest der Welt. David Bates dirigiert diese Musik. Er leitet in England ein eigenes Ensemble für historische Spielpraxis, die mit der Marke 'Alte Musik' inzwischen falsch bezeichnet ist. Bates nimmt Gluck nur musikalisch beim Wort, deswegen klingt er extrem modern. Hell, hart und zupackend spielt das Orchester, das schmucklos einfache Melodien und Akkorde zu einer Folge von Szenen zusammenfügt, die in sich selbst dramatisch sind. Nur sie, nicht der an seine Zeit gebundene Text, machen es möglich, das Phänomen der Liebe zu begreifen als das, was es ist: ein ewiges Rätsel. Sie kommt und geht, ist zum Lachen komisch und zum Weinen schön." Weniger begeistert zeigt sich Frederik Hanssen im Tagesspiegel, dem aber auch noch gut Harry Kupfers legendäre Inszeneirung von 1987 im Kopf ist.

Weiteres: Dorion Weickmann berichtet in der SZ von den Querelen zwischen Ballettchef und Musikdirektor in Stuttgart.

Besprochen werden Frank Castorfs Molière-Revue am Kölner Schauspiel (die Alexander Menden in der SZ als reinen "Klimbim" abtut, gegen den nicht einmal Jeanne Balibar etwas ausrichten könne), die Urfassung von Molières "Tartuffe" an der Comédie-Française in Paris (FAZ), Kirill Serebrennikows Tschechow-Inszenierung "Der schwarze Mönch" am Thalia Theater Hamburg (SZ) und Verdis "Nabucco" am Staatstheater Mainz (musikalisch groß, findet Judith von Sternburg in der FR),
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Design

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Die Feuilletons trauern um Thierry Mugler. Er war "einer der größten Modedesigner unserer Zeit", schreibt Tania Martini in der taz. Seine "Entwürfe und Fetischfantasien erzählen von Selbstermächtigung. Ähnlich wie bei Helmut Newton oder Jean Paul Gaultier sollten die Frauen nicht Objekt und Opfer der Blicke, sondern kraftvolle und machtbewusste Subjekte sein. Das brachte Mugler am deutlichsten mit Hartschalencorsagen zum Ausdruck, wie sie dann Grace Jones trug. Überhaupt war Mugler dem Pop näher als dem Modealltag - David Bowie, Diana Ross und auch Lady Gaga griffen für ihre Fashion-Statements zu Muglers Entwürfen." Mugler war wie die Achtziger, in denen er seinen Durchbruch feierte, schreibt Jürg Zbinden in der NZZ: Überlebensgroß, wuchtig, exzessiv. Er war "Tänzer, Märchenprinz, Akrobat, Provokateur, Scherzbold, Impresario, Direktor. Ein Designer, der die Zukunft erdachte, ein Astronaut und Visionär der Mode, Bodybuilder und vagabundierender Planet: Thierry Mugler war unermesslich und unergründlich wie das Universum."

In der SZ erinnern sich Anne Goebel und Tanja Rest an eine Mugler-Schau, die 2020 in München Halt gemacht hatte. Dort bot sich ihnen ein "Pandämonium der Schönheit und des Wahnsinns: bevölkert von Tierwesen und Latex-Dominas, von Dragqueens, Eisköniginnen, Motorrad-Pin-ups und Superheldinnen mit Riesenschultern, Riesenbrüsten und Wespentaille. Da war die Harley-Corsage von 1992, aus Metall über den Torso gegossen, verchromt, mit Blinklichtern und Rückspiegeln verlötet. Da war das Abendkleid von 1995 mit herzförmigem Guckloch, durch das man auf einen blanken Hintern starrte. Da war der Bodysuit aus transparenter Gaze von 1998, auf dem gerade so viele Eiskristalle prangten, dass man nichts sah und alles ahnte." ZeitOnline erinnert mit einer Strecke an Mugler. Zahlreiche weitere Eindrücke liefert der offizielle Instagram-Account.
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Kunst

Georgia O'Keeffe, Pelvis with the Distance, 1943. © Georgia O'Keeffe Museum

Auch Phillip Meier feiert jetzt in der NZZ die Bildmagierin Georgia O'Keeffe, der die Fondation Beyeler eine große Ausstellung widmet und in deren Landschaften Meier eigentlich weder Erotik noch Abstraktion erkennen kann: "Nichts ist jemals abstrakt bei dieser Modernen der amerikanischen Malerei. Allerdings vermochte Georgia O'Keeffe sehr wohl zu abstrahieren. Sie hatte ein Sensorium dafür, wie es um das Reale bestellt ist: 'Nichts ist weniger real als der Realismus.' Die Welt ist bisweilen verstellt von ihrer eigenen Fülle. Selbst in der Wüste von New Mexico, wo O'Keeffe so etwas wie ihre Wahlheimat gefunden hatte, ist die Natur überpräsent: Gestein, Salbei, Knochen, das Licht - jedes einzelne Ding bedeutete O'Keeffe einen Kosmos für sich. Details aber verwirren, wusste die Malerin: 'Nur durch Auswahl, Weglassen, Hervorhebung kommen wir an die wirkliche Bedeutung der Dinge' heran."

Kein Gespräch und keine Debatte wird die Documenta vor dem Meinungsfuror retten, der jetzt mit den Antisemitismusvorwürfen über sie hereinbricht, bedauert Harry Nutt in der FR. Denn eigentlich sollte das Künstlerkollektiv Ruangrupa Gemeinschaft und solidarisches Handeln in den aufgepeitschten Kunstbetrieb bringen: "Mit dem Vorwurf des Antisemitismus aber werden die Macher der Documenta fifteen, wie es nun in weltsprachlicher Anmutung heißt, von der Schärfe einer Debattenkultur erfasst, in der Indizien und Spekulationen scheinbar genügen, um das gesamte Unterfangen zu diskreditieren. Damit soll nicht abgelenkt werden von möglichen ideologischen Motiven, vor denen Künstlerinnen und Künstler gewiss nicht gefeit sind. Es ist beinahe naheliegend, dass in den Weltregionen, aus denen Ruangrupa künstlerische Impulse für die Documenta zu beziehen beabsichtigt, antiisraelische Einstellungen keine Seltenheit sind und erst recht nicht ohne Weiteres von antisemitischen Affekten unterschieden werden können."

In der taz scheinen Ulrich Gutmair allerdings die Vorwürfe gegen die palästinensische Künstlergruppe Questions of Fundintg nicht aus der Luft gegriffen, wie er mit Hinweis auf einen online zu findenden Text von Yazan Khalili zeigt: "Dieser postkolonial inspirierte Kulturschaffende, der bald in der Kunstmetropole Kassel tätig sein wird, schlägt netterweise vor, man solle den jüdischen Bürgern Israels doch dabei helfen, sich von ihrem Staat zu "emanzipieren". Ist das noch Antizionismus von der antisemitischen Art oder schon Humanismus?"

Weiteres: Beate Scheder wirft für die taz einen Blick auf die litauische Kunstszene, mit der sich Kaunas als europäische Kulturhauptstadt empfiehlt und die nicht zuletzt seit dem Goldenen Löwen für die Künstlerinnen Lina Lapelytė, Rugilė Barzdžiukaitė und Vaiva Grainytė auf der Biennale in Venedig boomt. In der FR meldet Ingeborg Ruthe, dass der Sammler Peter Janssen sein Samurai-Museum in Berlin im Mai eröffnen wird.

Besprochen wird eine Ausstellung der britisch-indischen Künstlerin Sutapa Biswas in Kettle's Yard in Cambridge (taz).
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Film

Penibel rekonstruiert: "Die Wannseekonferenz" (ZDF/Julia Terjung)

Matti Geschonnecks ZDF-Film "Die Wannseekonferenz", der nach seiner Mediathekenpremiere vergangene Woche gestern Abend im linearen Programm nachgereicht wurde, steht vor denselben Problemen wie jede andere Verfilmung historischer Ereignisse auch, meint Andreas Kilb in der FAZ: Solche Filme übermalen "das reale Geschehen mit einer Fiktion." Auch deshalb handelt es sich bei solchen Verfilmungen um "eine der zwiespältigsten Formen kollektiven Erinnerns." Und "das Dilemma des Geschichtsfernsehens wird durch Geschonnecks Film nicht aufgelöst - es tritt, gerade weil er die historischen Kulissen, Tischordnungen und Imbisse penibler rekonstruiert als seine Vorläufer, noch schärfer hervor. In der Dokumentation von Jörg Müllner, die im Anschluss an 'Die Wannseekonferenz' läuft, werden die Szenen des Films wie Zeitdokumente zitiert. Sollen wir tatsächlich glauben, was wir gesehen haben? Oder müssen wir das Misstrauen gegenüber den Bildern wieder neu lernen, um die Wahrheit der Geschichte zu begreifen?" Joachim Käppner und Alexander Gorkow verneigen sich im Tagesanzeiger vor der Leistung des Schauspielensembles und der Kameraführung in "diesem vollkommen erstaunlichen Film". Christina Bylow von der FR hat sich mit dem Historiker Peter Klein getroffen, der die Produktion beraten hat.

Außerdem: Claudius Seidl gratuliert dem Filmemacher Walt Stillman zum 70. Geburtstag. Christine Dössel schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schauspieler Hartmut Becker. In der taz schreibt der Schriftsteller Franz Dobler zum Tod von Herbert Achternbusch und sorgt sich um die Zugänglichkeit dessen Filme.
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Literatur

Eine traurige Nachricht: Die Agenturen melden, dass der französische Comiczeichner Jean-Claude Mézières gestorben ist. Mit seiner "Valerian & Veronique"-Reihe hat er den Science-Fiction-Comic der Sechziger und Siebziger maßgeblich beeinflusst. Einen ersten Nachruf schreibt Comicexperte Andreas Knigge beim Spiegel: Mézières' Atelier war "ein Labor der Zukunft. Ich durfte in den Achtziger- und Neunzigerjahren als deutscher Verleger seine Arbeit betreuen, über viele Jahre verband uns eine enge Freundschaft. Mézières' Comic-Alben haben mich auf abenteuerliche, von einer bis zuletzt ungebändigten Fantasie geleitete Reisen geführt. ... Mézières ließ mit seinem Zeichenstift exotische Welten in schillernden Farben entstehen und den Weltraum zu einem Spielplatz für skurrilste Charaktere werden."

Besprochen werden unter anderem Yasmina Rezas "Serge" (NZZ), Ronja von Rönnes "Ende in Sicht" (NZZ), die deutsche Erstausgabe von Gianfranco Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" aus dem Jahr 1973 (online nachgereicht von der FAS), Volker Reinhardts Voltaire-Biografie (Welt), Navid Kermanis "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" (SZ) und eine Neuausgabe der "Josefine Mutzenbacher" (FAZ).
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Musik

Musikrechte sind das neue Erdöl: Es wird im großen Stil verkauft und akkumuliert, das Investorenkapital sitzt locker - gerade auch mit Blick darauf, dass mehr Musik denn je nicht nur produziert sondern vor allem auch gespielt wird, ist es nachvollziehbar, dass das Großkapital sich Rechtepakete an leicht wiedererkennbaren Songs sichert, schreibt Michael Pilz in der Welt. Dass sich zahlreiche Musiker von ihrem Tafelsilber trennen, habe aber auch handfeste Pandemie-Hintergründe schreibt er: "Nach den Einbrüchen am Plattenmarkt war der Konzertbetrieb wieder zum Kerngeschäft geworden, zu einer Art analogem Hochamt in der digitalen Gegenwart. Dann kam Corona, die Konzerte fielen aus." Aber "es ist auch der Ausverkauf einer Kultur der alten Männer, die ihr Erbe ordnen." Dazu passend die Meldung, dass nun herauskam, dass Bob Dylan bereits vergangenen Sommer auch die Rechte an seine Aufnahmen verkauft hat.

Dass so viel Geld für alte Musik ausgegeben wird, liegt natürlich daran, dass sie sich besser verkauft als neue, denn auch die Konsumenten bevorzugen alte Songs. Woran liegt das? An der schlechten Qualität neuer Musik? In Atlantic winkt der Musikhistoriker Ted Gioia ab. Es gibt massenhaft gute Musiker, meint er, aber die Musikverlage interessieren sich kaum für sie. Das hat mehrere Gründe, ein wichtiger: Die immer stärker ausgeweiteten Copyright-Regelungen. "Die Angst vor Urheberrechtsklagen hat dazu geführt, dass viele in der Branche eine tödliche Angst davor haben, sich unaufgeforderte Demoaufnahmen anzuhören. Wenn Sie heute ein Demo hören, könnten Sie in fünf Jahren verklagt werden, weil Sie die Melodie - oder vielleicht nur den rhythmischen Groove - gestohlen haben sollen. Versuchen Sie einmal, ein Demo an ein Label oder einen Produzenten zu schicken, und beobachten Sie, wie es ungeöffnet zurückkommt. Die Menschen, deren Lebensunterhalt von der Entdeckung neuer Musiktalente abhängt, setzen sich rechtlichen Risiken aus, wenn sie ihren Job ernst nehmen."

Weitere Artikel: Harry Nutt schreibt in der FR zum Tod von Don Wilson. In der SZ-Jazzkolumne freut sich Andrian Kreye, dass Blue Note Records den Backkatalog von Art Blakey pflegt und zugänglich hält - aktuell etwa mit einer schön aufgemachten Neuauflage von Blakeys Konzert "First Flight to Tokyo".



Besprochen werden ein Liederabend mit Philippe Jaroussky (SZ), Tara Nome Doyles Album "Værmin" (Tsp), Grace Cummings' Album "Storm Queen" (FR), , zwei Konzertabende der Sächsischen Staatskapelle in Wien (Standard), ein Heidelberger Konzert mit Wolfgang Rihms Streichquartetten (FAZ), die Ausstellung "The World of Music Video" in der Völklinger Hütte (online nachgereicht von der FAZ) und das neue Album der Harfenistin Anne-Sophie Bertrand (FAZ).

Archiv: Musik