Efeu - Die Kulturrundschau

Die epochale Flucht nach vorn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2022. In der FAZ untersuchen Heinz Bude und Karin Wieland den Freiheits- und Modernitätsbegriff des Kunsthistorikers und Documenta-Begründers Werner Haftmann. Die NZZ lässt sich von dem Musikproduzenten Doctor L in die Geheimnisse der Musik afrikanischer Megacities einweihen. Die Filmkritiker wissen nicht recht, ob sie sich auf die Berlinale freuen oder Ansteckung fürchten sollen. FAZ und Zeit annoncieren gespannt die Uraufführung von "Grete Minde", Oper des 1943 in Sobibor ermordeten Komponisten Eugen Engel, in Magdeburg. Die Literaturkritiker trauern um Gerhard Roth.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.02.2022 finden Sie hier

Bühne

Probenszene aus Eugen Engels Oper "Grete Minde" am Magdeburger Theater. Foto: Andreas Lander


Am Theater Magdeburg hat am Sonntag Eugen Engels Oper "Grete Minde" in der Inszenierung von Olivia Fuchs Uraufführung. Engel, im Brotberuf Kaufmann, wurde 1943 von den Nazis in Sobibor ermordet. Höchste Zeit, dass man sich endlich wieder an ihn erinnert, meint Hannah Schmidt in der Zeit: "Kaum etwas ist von diesem Mann und seiner Kunst erhalten geblieben. Kein Wort findet man über ihn im wohl wichtigsten Musik-Nachschlagewerk 'Die Musik in Geschichte und Gegenwart', keinen einzigen Treffer liefert die Suche in den großen musikwissenschaftlichen Datenbanken, es gibt keine Arbeiten oder Aufsätze über ihn, nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag bietet das Netz. Eugen Engel ist ein Gespenst der Musikgeschichte - zumindest war er das lange. Am 19. Oktober 2019, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, führten die Sängerin Fee Brembeck und die Pianistin Nanami Nomura bei der Verlegung seines Stolpersteins in der Berliner Charlottenstraße einige seiner Lieder zum ersten Mal in Deutschland auf. Ihr Konzert markiert rückblickend den Beginn einer ausgesprochen interessanten musikalischen Wiederentdeckungsreise."

Auch FAZ-Kritiker Clemens Haustein wartet gespannt auf die Premiere, die gewiss nicht leicht zu organisieren war: "Aufführungsmaterial wurde aus der handschriftlichen, sauberen Partitur des Komponisten extrahiert und eine gewaltige Bühnenmaschinerie organisiert. Zum Orchester in Richard-Strauss-Größe, mit dreifachen Holzbläsern, sechs Hörnern, Celesta und Glockenspiel kommt noch Bühnenmusik hinzu: Instrumentalgruppen, Kirchenglocken, Orgelspiel, dazu dreizehn Gesangsrollen nebst Chor, der zahlreiche Auftritte erhält. Auf einen außerdem vorgesehenen Kinderchor muss in Magdeburg coronabedingt verzichtet werden, es übernehmen die Soprane. Größenwahn eines Komponisten oder unbedingter Ausdruckswille? Die Uraufführung des knapp dreistündigen Werks ... wird bei der Beantwortung der Frage helfen. Beim Blick in die Partitur zeigt sich jedenfalls ein Komponist, der differenziert zu instrumentieren versteht, der sicher mit den Effekten des Musiktheaters umgeht".

Weitere Artikel: In der Welt staunt Manuel Brug über die Absage der eh nicht sehr regsamen Leipziger Oper zu einem geplanten "Lohengrin": "Wie bitte? Zwei Jahre lang hat keiner in die Container geschaut und sich überlegt, was da noch an Finish nötig war? Und in sieben Wochen ist das nicht mehr zu beheben? Da scheint ein sehr großer Theaterbetrieb sehr schwerfällig und antriebslos geworden zu sein." Im Standard porträtiert Daniel Ender den Komponisten Georg Friedrich Haas, dessen Oper "Morgen und Abend" am Samstag ihre österreichische Erstaufführung an der Oper Graz erlebt. In der nmz schreibt Wolf-Dieter Peter den Nachruf auf Hans Neuenfels, in der Zeit Christine Lemke-Matwey.

Besprochen werden Elsa-Sophie Jachs Adaption von Ottessa Mosfeghs Roman "Eileen" für das Theater Bremen (taz) und Hasti Molavians "Carmen"-Performance am Theater Bremen (nmz).
Archiv: Bühne

Kunst

Heinz Bude und Karin Wieland hatten im März 2021 in der Zeit bekannt gemacht, dass der Kunsthistoriker und Gründer der Documenta Werner Haftmann nicht nur in der NSDAP war, sondern auch 1933 in die SA eingetreten war. Heute beschreiben sie in der FAZ Haftmanns Modernitätsbegriff, der aus den dreißiger Jahren stammte, einer voraussetzungslosen Freiheit der Kunst huldigte, dabei aber auf Vorstellungen der totalitären Ideologien zurückgriff: "Die Generation Haftmann ist die junge Generation der Zwischenkriegszeit, welche die Jugendbewegung nur noch vom Hörensagen kennt und mit deren ethischem Idealismus nichts mehr anzufangen weiß. Man sucht nicht mehr das Andere der modernen Welt, sondern will sich der Modernität selbst verschreiben. Im Gefühl einer antiromantischen Romantik setzt die junge Intelligenz der 'Monumentalen Ordnung' der Dreißigerjahre (Franco Borsi) auf ein disruptives Freiheitsverständnis, das den linearen Fortschrittsglauben durch einen jetztzeitigen Aktivismus ersetzt. Freiheit ist dann das ontologische Prinzip einer in Bewegung geratenen Gesellschaft: schnell, direkt und kompromisslos. Die Generation Haftmann will die epochale Flucht nach vorn, wie sie von Weltanschauungseliten kommunistischer oder faschistischer Art propagiert wird."

David Hockney, Two Boys in a Pool, Hollywood, 1965, Privatsammlung, Belgien © David Hockney


Im Standard freut sich Michael Wurmitzer über die erste große Retrospektive David Hockneys in Österreich, genauer: im Kunstforum Wien. "Das längst ikonische 'A Bigger Splash' fehlt zwar, dieses Gemälde von 1967, in dem David Hockney die erhitzt-lockere Stimmung des kalifornischen Sommers zwischen blauem Poolwasser, blauem Himmel, Palmen einfängt und in einer ungezügelt in die sonst so kontrollierten Farbflächen gesetzten weißen Gischt explodieren lässt. Doch fünf andere von etwa 120 Werken der morgen eröffnenden Hockney-Retrospektive Insights im Wiener Kunstforum decken jene Phase im Werk des britischen Malers ab. Die Lebensfreude der Westküste sieht man auch ihnen an: In Schlingerlinien und impressionistischen Flecken funkelt das Wasser in verschiedenen Blautönen, nackte bleiche Männerhintern stechen daraus hervor."

Weiteres: Shirin Friedhoff unterhält sich für monopol mit dem Fotografen Harald Hauswald, Ausstellung "Voll das Leben!" derzeit im c/o Berlin zu sehen ist. In der taz stellt Undine Weimar-Dittmar den Berliner Künstler Jens Ullrich vor, der die Motive seines Bandes "Bilder ohne Geld" zum Selberdrucken freigegeben hat. In der FAZ freut sich Hans-Christian Rößler, dass Gauguins "Mata Mua" ins Madrider Museum Thyssen-Bornemisza zurückkehrt.
Archiv: Kunst

Film

Während die Leipziger Buchmesse gestern kurzfristig abgesagt wurde, beginnt heute die Berlinale. Im Vorfeld wurde teils heftig diskutiert, ob eine Präsenzveranstaltung sinnvoll ist und ob es nicht angeraten wäre, wenigstens die Presse mit Streaminglinks zu versorgen - was wiederum heftige Gegenreaktionen nach sich zog. Ein schriller Ton wie man ihn sonst nur bei Social-Media-Exzessen beobachten kann, habe sich in die Debatte eingeschlichen, beklagt Tim Caspar Boehme von der taz. "In übergeordneter Perspektive geht es um die Zukunft des Kinos, für die die Berlinale ein Zeichen setzen soll. Eine Absage des Festivals oder eine Streaminglösung, so die Befürchtung, könnten sich verheerend auf die Bereitschaft auswirken, grundsätzlich wieder und öfter ins Kino zu gehen. Die umgekehrte Möglichkeit, dass Ansteckungen in großer Zahl bei der Berlinale eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Kinobesucher allgemein haben könnten und dem Festival empfindlich schaden würden, bleibt hingegen Sache der Schwarzmaler." Für Andreas Busche vom Tagesspiegel gehören die unterschiedlichen Maßstäbe der Politik "zu den großen Mysterien nach zwei Jahren Corona-Zickzackkurs".

Auch Daniel Kothenschulte von der FR sieht den kommenden Tagen nicht völlig sorgenfrei entgegen: "Auf den offiziellen Berlinale-Plakaten wirbt ein Bär mit Heftpflaster für das Impfen (sprich: Ungeimpfte haben keinen Zutritt). Doch auch Geimpfte müssen in ihrer Sorge vor den Folgen einer Infektion - eines 'Impfdurchbruchs' - ernst genommen werden; eine 'Durchseuchung' Berlins darf nicht stillschweigend corona-politisches Programm werden. Und welche Rolle spielt das - nach der documenta - populärste deutsche Kulturereignis dabei? Vorsicht ist geboten, wann immer Kultur für etwas anderes als für ihre eigenen Inhalte instrumentalisiert wird."

Im FR-Gespräch mit Kothenschulte wirbt Berlinale-Leiter Carlo Chatrian für mehr Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen: In den Kino sei man sicher, die Journalisten werden täglich getestet, ohnehin seien 50 Prozent weniger Journalisten auf dem Festival und diese würden auf acht Säle verteilt - ziemlich einsilbig wird Chatrian allerdings auf Kothenschultes hartnäckige Nachfragen, wie man es als Kritiker schaffen soll, einen von zehn auf sechs Tage konzentrierten Wettbewerb überhaupt vernünftig zu begleiten, zumal es kaum ausreichend Schreibplätze beim Festival gibt.

Ein Festival "analog und in Präsenz und ohne Online-Plan-B für die Faulen und Ängstlichen und üblichen Bedenkenträger" - für Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland ist "dies die richtige Entscheidung. Es ist eine Entscheidung für das Kino!" Ärgerlich findet er allerdings, dass man sich beim Buchen der Pressekarten den Platz nicht aussuchen kann: "Das wird praktisch gesehen die Folge haben, dass sich die Leute heimlich umsetzen oder untereinander tauschen" und dies, "auch wenn die Berlinale und die Virologen das lieber anders hätten."

Mehr von der Berlinale: Michael Meyns hat für die taz vorab Filme aus der "Perspektive Deutsches Kino" gesehen. Kirsten Taylor führt im Tagesspiegel durch das Programm der Jugendfilmsektion. Christian Schröder schaut für den Tagesspiegel die Filme mit Mae West, Rosalind Russel und Carole Lombard, die in der Retrospektive zu sehen ist.  Auf Cargo bringt Ekkehard Knörer Kurznotizen zu allen Retrospektive-Filmen. Im Podcast des Forums spricht die Sektionsleiterin Cristina Nord über ihr diesjähriges Programm und das Kino im Angesicht der Covidkrise. Besprochen wird Erin und Travis Wilkersons im Forum gezeigter Film "Nuclear Family" (taz).

Fernab der Berlinale besprochen werden Andrea Arnolds Tierporträtfilm "Cow" (Standard, SZ), Kenneth Branaghs Agatha-Christie-Neuverfilmung "Tod auf dem Nil" (Welt, online nachgereicht von der FAZ), Roland Emmerichs neuer Katastrophenfilm "Moonfall" (FR, Standard, SZ) und die Netflix-Serie "Inventing Anna" (ZeitOnline). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

Die Leipziger Buchmesse ist nun zum dritten Mal in Folge abgesagt, mehr dazu in 9punkt.

Trauer um den österreichischen Schriftsteller Gerhard Roth. "Er war einer jener österreichischen Geistesmenschen", schreibt Kurt Kister in der SZ, "die so sehr an Österreich leiden, dass sie, bewusst oder unbewusst, stets dazu beitragen wollen, dieses seltsame Land besser, erträglicher, liebenswerter zu machen - aber erst, nachdem sie in seine Abgründe geblickt und diese öffentlich gemacht haben. ... Er sammelte Geschichten, Weltanschauungen, Bilder, nicht nur, aber auch, weil er jenen autoritären Prägungen auf den Grund blickten wollte, die Österreich zum willigen Mittäter der deutschen Nazis gemacht und die den Krieg durchaus überlebt hatten."

Roth gelang es mitunter, in einzelne Sätzen ganze Romane zu packen, schreibt Paul Jandl in der NZZ. "Über eine dem Autor sehr ähnliche Figur heißt es: 'Er war nicht in der Lage, sich der Selbstverständlichkeit, mit der alles geschah, anzuvertrauen.' Gerhard Roth hat aus einer Distanz geschrieben, die in Wahrheit von allergrößter Nähe zeugte. Als Schriftsteller hat er sich in den Siebzigerjahren in einem entlegenen Winkel der österreichischen Provinz niedergelassen, um aufzuschreiben, wie die Menschen dort leben. Was sie erlebt haben und wie sie reden. Wie sie ihr Brot verdienen. ... Der Kreislauf aus Geburt und Tod war in Gerhard Roths frühen Büchern blutiger Alltag. Nüchterne Sätze wurden zu Mitschriften aus dem 'tiefen Österreich'." In der FAZ schreibt Jan Wiele einen Nachruf und würdigt darin auch Roths Leidenschaft für den Fußball.

Weiteres: Lars von Törne wirft für den Tagesspiegel einen Blick darauf, wie die Coronakrise sich in Comics und Manga niederschlägt. In der Zeit berichtet die Schriftstellerin Zora del Buono von ihrem langem Weg zum Klavierspiel.

Besprochen werden unter anderem Cornelia Holfelder-von der Tanns Neuübersetzung von Alice Walkers "Die Farbe Lila" (taz), Bettina Flitners "Meine Schwester" (SZ), Jonathan Coes "Mr. Wilder & ich" (Artechock), Philipp Winklers "Creep" (ZeitOnline), Maxim Leos "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" (Freitag), Volker Reinhardts Voltaire-Biografie (Tsp) und Bodo Kirchhoffs "Bericht zur Lage der Liebe" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Jonathan Fischer besucht für die NZZ den irischen, aber in Dakar tätigen Musikproduzenten Liam Farrell alias Doctor L, der "die letzten beiden Jahrzehnte jedes liebliche Klischee von sogenannter Weltmusik zum Einstürzen gebracht hat. Er hat kongolesische und malische Folkmusik mit elektronischen Sounds verschmolzen und verzerrte Beats produziert, die auf die Avantgarde-Klubs zwischen New York, Paris und Tokio zielen. Die Widersprüche, der Schmutz, das rohe Hinterhof-Geschehen afrikanischer Megacitys: Sie haben Liam Farrell alias Doctor L stets als Aufputschdroge gedient."



Außerdem: Hannes Soltau umreißt im Tagesspiegel die Krise, in der Spotify derzeit steckt. Für die Zeit hat Christina Rietz den Thomaskantor Georg Christoph Biller noch kurz vor seinem Tod besuchen können. Ueli Bernays freut sich in der NZZ, dass Büne Huber als erster Schweizer Musiker bei "MTV Unplugged" auftritt. Die Agenturen melden den Tod der US-Soulmusikerin Betty Davis.

Besprochen wird Earl Sweatshirts Rapalbum "Sick!" (SZ).
Archiv: Musik