Efeu - Die Kulturrundschau

Sekt und Häppchen und Gespräch

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10.03.2022. Osteuropäische SchriftstellerInnen warnten uns seit langem vor Putin, aber wir hatten andere Sorgen, schämt sich die Zeit. "Auch an unseren Händen klebt jetzt Blut", sagt der belarussische Dirigent Vitali Alekseenok im Van Magazin. In der SZ erklärt Serge Dorny, weshalb Valery Gergiev nicht mehr tragbar war: Er war nie neutral. Die FAZ wirft dem Kulturbetrieb mit Blick auf Gergiev und Netrebko "Verrat an der Kultur" vor. Die FR erkennt dank Marie Amiguets "Der Schneeleopard" den Reiz von Natur-Dokumentarfilmen. Und die SZ kommt elektrisiert aus der Kunsthalle Praha zurück.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2022 finden Sie hier

Film

Die hiesigen Filmverleiher machen derzeit ukrainisches Gegenwartskino wieder sichtbar. In der SZ schreibt Sofia Glasl über die so zugänglich gemachten Filme, die teils im Kino, teils als Video on Demand laufen. "Der wohl präsenteste Dokumentarfilm über die Ukraine ist derzeit 'Winter on Fire', der seit seiner Fertigstellung 2015 auf Netflix verfügbar ist. ... Darin lässt sich der Krieg zu seinen Ursprüngen zurückverfolgen, zu den Euromaidan-Protesten im Winter 2013/2014. Der Filmemacher Jewgeni Afinejewski verwebt Interviews mit Handykameramaterial zu einer Art Tagebuch der Protestierenden - als Gegenperspektive zu den offiziellen Statements der Politiker, wie er selbst sagt. Sein Film ordnet die Ereignisse kaum ein, wirft die Zuschauer hinein in Straßenkämpfe und Sanitätszelte." Netflix hat den Film via Youtube frei zugänglich gemacht:



Anlässlich von Marie Amiguets Dokumentarfilm "Der Schneeleopard" über einen Schriftsteller und einen Fotografen, die einen Schneeleopard zu Gesicht bekommen wollen, bricht FR-Kritiker Daniel Kothenschulte eine Lanze für den oft ignorierten, wenn nicht gar verfemten Natur-Dokumentarfilm, der anders als seine Verächter meinen, eine reiche Tradition des "visuellen Erzählens" habe. Auch der aktuelle Film schlägt ihn in seinen Bann, zumal die Kommentierung "nicht vom filmenden Zoologen, sondern vom eher unwissenden, aber neugierigen Mitreisenden, dem Schriftsteller", erfolgt. "Die Kameraarbeit ist auch etwas anders als gewohnt. Die stillen Landschaftsaufnahmen stehen lange genug auf der Leinwand, dass man keine Erklärungen braucht und sich selbst darin umsehen kann. Tatsächlich ist die tibetische Natur auch dann ein Ereignis, wenn sich gerade kein Tier darin bewegt." Und "immer wieder machen sich die Reisenden klar, wie wenig sie eigentlich über die unberührte Welt wissen, die sie da durchstreifen." Sicher, die filmischen Zutaten stimmen und die Musik stammt sgar von Warren Ellis, dennoch ist dieser Film "kein großartiges Kunstwerk geworden", ärgert sich Katharina Granzin in der taz. "Wenig mehr als schöne Oberfläche" wird geboten und nicht um das Tier geht es, sondern um Kunstwollende auf dem Naturtrip: "Die programmatische Abwesenheit eines tieferen Interesses am abgelichteten Lebewesen macht diesen Film in erster Linie zu einem Hochglanzdokument der Eitelkeit."

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Fabian Tietke das Festival "Tricky Women", das Animationsfilme von Frauen zeigt - einige der Filme sind auch online zu sehen.

Besprochen werden Philip Scheffners "Europe" (Perlentaucher), Pedro Almodóvars "Parallele Mütter" (Perlentaucher, FR, taz, Freitag, Standard, Presse, Welt, mehr dazu bereits hier), Petra Seegers "Vatersland" (Freitag), Domi Shees neuer Pixar-Film "Red" (SZ), Claire Denis' nach 20 Jahren auch in Deutschland im Kino gezeigter Kannibalinnenfilm "Trouble Every Day" (Jungle World), eine von Arte online gestellte Doku über Nosferatu (FAZ, Murnaus Horrorfilm selbst zeigt der Sender auch), die DVD-Ausgbe von Stefan Ruzowitzkys "Hinterland" (taz) und der neue Jackass-Film von Johnny Knoxville (Welt, Tsp). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

"Wir alle hatten uns die Ohren verstopft. … Wir hatten andere Sorgen", schreibt Volker Weidermann in der Zeit. Dabei warnten uns osteuropäische SchriftstellerInnen schon lange vor Putin: "Ich war dabei, als der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Frühjahr 2006 im Gewandhaus in Leipzig seinen flehenden, pathetischen, an Eindeutigkeit nicht zu übertreffenden Appell an die europäische Gemeinschaft richtete, 'meinem verfluchten Land zu helfen, sich selbst zu retten'. Er sagte uns feierlich Zuhörenden, was er sich wünschte: 'dass Europa auf uns wartet, dass es ohne uns nicht auskommen kann, dass es in seiner Ganzheit nur mit der Ukraine gelingen wird'. Im Gewandhaus damals ging es natürlich nahtlos weiter zu Sekt und Häppchen und Gespräch." Ebenfalls in der Zeit fleht der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow: "Jetzt muss die ganze Welt der Ukraine helfen, sonst wird sich dieser Krieg weiter nach Europa ausbreiten."

Außerdem: Die Zeit spricht mit Abbas Khider über dessen neuen Roman "Der Erinnerungsfälscher". In der SZ erinnert Ulrich Breuer an Friedrich Schlegel, der vor 250 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (Freitag), Jonas Grethleins "Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben" (NZZ), Amanda Cross' Krimi "Thebanischer Tod" (FR), Emmanuel Carrères "Yoga" (Tsp), Chang Kuo-Lis Krimi "Der grillende Killer" (TA) und Tatiana Salem Levys "Vista Chinesa" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Vincent van Gogh. Selbstporträt mit grauem Filzhut 1887. Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

Selten ist Marion Löhndorf (NZZ) Vincent van Gogh so nahe gekommen, wie jetzt in der Londoner Courtauld Gallery, die derzeit fünfzehn Selbstporträts ausstellt. Bei allen Verletzungen stellte sich Van Gogh nie als Opfer dar, erkennt sie: "Meistens sieht er uns seitlich im Dreiviertelprofil an, denn ihm fehlten so viele Backenzähne - zehn -, dass er die Frontalansicht mied, die seine eingefallenen Wangen deutlich zutage treten ließ. Sein 'Selbstporträt mit grauem Filzhut' (Paris, Frühling 1887) gehört zu den Ausnahmen. Hohlwangig starrt er mehr in sich hinein als aus dem Bild, die Brauen leicht zusammengezogen. Aber es ist doch unverkennbar van Gogh. Alles an ihm besitzt Wiedererkennungswert, der Bart (der manchmal fehlt, aber man bemerkt es kaum), die Hakennase, die kurzen roten Haare. Und da ist die Alterslosigkeit: Da die Selbstbilder in kurzer zeitlicher Abfolge entstanden und mit seinem Tod endeten, bleibt van Gogh für die Nachwelt ein Mann Mitte dreißig."

Prag hat jetzt auch eine Kunsthalle, eine private, gegründet von der Stiftung des Ehepaares Pavlina und Peter Pudil, freut sich Noemi Smolik in der FAZ. Und weil sich die Kunsthalle Praha in einem ehemaligen Umspannwerk befindet, eröffnet sie mit einer Ausstellung über Elektrizität mit "ikonischen Werken der kinetischen und kinematographischen Kunst. Von Naum Gabos 1919/20 entstandenem Metallstab, der, von einem elektrischen Motor angetrieben, sich um die eigene Achse dreht, den Titel 'Kinetische Konstruktion' trägt und das überhaupt erste kinetische Kunstwerk ist. Von Marcel Duchamps 1926 entstandenen Anémic cinéma und dem Rotorelief von 1935, das eine Überlagerung der mechanischen Drehung eines Kreises mit der kinematographischen Illusion einer Drehbewegung ist, sowie von dem filmischen Experiment 'Lichtspiel Schwarz-Weiss-Grau' von 1930 des aus Ungarn stammenden Künstlers László Moholy-Nagy. Nur um diese Werke, die Kunstgeschichte geschrieben haben, zu sehen, lohnt sich schon der Besuch dieser Ausstellung, ganz zu schweigen von den späteren Werken etwa eines Woody Vašulka, Gyula Kosice, Christina Kubisch, Heinz Mack oder auch von Peter Weibel selbst."

Der Kulturmanager Walter Smerling, gerade erst in der Kritik wegen seiner privaten "Kunsthalle Berlin" (Unsere Resümees), organisierte in Moskau und Berlin auch die Ausstellung "Diversity United", gesponsert unter anderem von Daimler, unterstützt von Frank Walter Steinmeier - und unter der Schirmherrschaft von Waldimir Putin. "Warum hat die Regierung, warum hat der Bundespräsident diese Veranstaltung überhaupt unterstützt? Wer sollte von dieser Ausstellung profitieren?", fragt Tobias Timm in der Zeit und berichtet: "In einem Protestschreiben wandten sich kürzlich Hunderte Künstlerinnen, Museumsdirektoren und Kuratorinnen gegen die fehlgeleitete 'Kulturdiplomatie' Smerlings: 'Walter Smerling betreibt ein Programm, in dem Kunst instrumentalisiert wird, um öffentliche Gelder in private Anlässe für das Networking von Unternehmern und Politikern umzumünzen.' Das unter anderem von der Künstlerin Hito Steyerl verfasste Schreiben prangerte die 'Reputationswäsche dubioser Firmengeflechte' und die 'Aufwertung autoritärer Regime' an."

Besprochen wird die Ausstellung "Nicht-Orte" in der Galerie im Tempelhof Museum (taz), die Ausstellung "Blitzsymbol und Schlangentanz. Aby Wartburg und die Pueblo-Kunst" im Hamburger Museum am Rothenbaum, die der Frage nachgeht, ob Warburg die Kunst indigener Gesellschaften aus kolonialem Interesse studierte (taz), die Ausstellung "100 Jahre Paul Flora. Von bitterbös bis augenzwinkernd" im Karikaturenmuseum in Krems an der Donau (Standard) und der Auftakt der Foto Wien (Standard) und und die Ausstellung "Dalí - Freud. Eine Obsession" im Unteren Belvedere in Wien (NZZ).
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Bühne

Im SZ-Gespräch mit Reinhard J. Brembeck erklärt Serge Dorny, Intendant der Bayerischen Staatsoper, weshalb er Valery Gergiev ausgeladen hat: "Wenn jemand wie Gergiev derart eng mit dem von Putin entwickelten System verbunden ist, dass er sich für dessen Homosexuellendekret oder die Annexion der Krim ausgesprochen hat, dann ist er nicht mehr neutral. Die jetzige Situation erfordert von Künstlern, die eine derartige gesellschaftliche Bedeutung haben, eine besondere Verantwortung. Diese Künstler haben die Freiheit, sich für oder gegen etwas auszusprechen. Für mich als Intendant und weil Gergiev ein Symbol ist, ist sein Schweigen nicht akzeptabel. Man muss eine deutliche Ansage machen, wenn man demjenigen so nah ist, der diesen Angriff gegen die Ukraine führt. Wenn man sich politisch äußert, die Grenze des Künstlertums überschritten hat und auf eine politische Ebene gelangt ist, dann ist man zu einer Äußerung verpflichtet. Das gilt nicht für alle. Nicht alle haben eine freie Wahl."

In der nachtkritik sendet Uwe Mattheiß einen Theaterbrief aus Bosnien und Herzegowina, wo sich das Sarajevo War Theater und das Kroatische Nationaltheater in Mostar zusammengetan haben, um Elfriede Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)" auf Bosnisch, Kroatisch und Serbisch auf die Bühne zu bringen: "Das SARTR und das Theater in Mostar überschreiten mit dieser Produktion kulturelle Trennlinien der bosnischen Nachkriegsgesellschaft. Sie kooperieren erstmals über mentale Grenzen zwischen von im Krieg verfeindeten Ethnien hinweg. Sie unternehmen den Versuch mit den Mitteln des Theaters zu einem Geschichtsverständnis beizutragen, das dem Streben nach Erkenntnis und einer Ethik des Mitfühlens verpflichtet ist und identitätspolitische Deutungsansprüche der früheren Kriegsparteien hinter sich lässt."

Außerdem: Die Dramaturgen Anna Wagner und Marcus Droß treten als Doppelspitze ab September die Nachfolge des bisherigen Intendanten Matthias Pees am Künstlerhaus Mousonturm an, meldet Sylvia Staude in der FR.

Besprochen wird Uraufführung von "Der.Semmelweis.Reflex" des Bernhard Ensembles am Off-Theater Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Hartmut Welscher spricht für das VAN-Magazin mit dem belarussischen Dirigenten Vitali Alekseenok, der erschüttert ist, dass die russische Invasion in die Ukraine auch über Belarus ging - "auch an unseren Händen klebt jetzt Blut". Außerdem hat er sich ein Bild von der Lage der Musikerinnen und Musiker in der Ukraine gemacht: "Ich glaube, die Mehrheit ist mittlerweile im Ausland. Aber viele sind auch geblieben. Ich habe zum Beispiel Freunde, die in Charkiw geblieben sind, weil sie ihre 80-jährigen Eltern, die nicht raus möchten, dort nicht alleine lassen wollen. Viele Männer mussten natürlich auch bleiben. Ich habe zwei Wochen vor der Invasion noch in Odessa dirigiert, viele aus dem Orchester haben sich dort der Territorialverteidigung angeschlossen. Sie schützen das Theater jetzt von außen. Andere Musiker, die nicht mit Waffen kämpfen wollen, versuchen anders zu helfen, zum Beispiel als Fahrer." Derweil hat das Kyiv Classic Orchestra bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt auf dem Maidan ein Konzert gegeben, um ein "Zeichen der Resilienz" zu geben, berichtet Moritz Baumstieger in der SZ.

Wie berichten eigentlich russische Medien über den Fall Gergiev/Netrebko? Liudmila Kotlyarova ist dem für das dieser Tage wieder mal sehr verdienstvolle VAN-Magazin nachgegangen. Der Tenor fällt erwartbar aus: "Schaut, die wollen uns nicht nur wirtschaftlich und politisch 'canceln', sondern auch kulturell! 'Europa wird ohne seine besten Musiker und Sportler dastehen', lautete eine weitere Überschrift bei RIA. In diesem Text wird die Nähe Gergievs und Netrebkos zu Putin nicht angesprochen, während in der Kolumne eine Distanzierung von Putin quasi mit dem Verrat der 'Heimat' gleichgesetzt wird. Man habe Gergiev aufgefordert, seiner 'Heimat öffentlich abzuschwören', empört sich die Autorin. Das ist doch Quatsch, würde sich ein EU-Bürger dazu denken. Dieser Quatsch wird in den staatlichen russischen Medien jedoch untermauert mit anderen, zum Teil auch fragwürdigeren Entscheidungen, die zusätzlich zu den offiziellen EU-Sanktionen in den letzten zwei Wochen getroffen wurden, offenbar unabhängig davon, wie die Betroffenen zum Krieg und Putin persönlich stehen. "

In der FAZ ist Jürgen Kesting mit Blick auf Gergiev und Netrebko erschüttert über das Versagen des Kulturbetriebs der letzten Jahrzehnte. Von "Kollateralschäden von Putins Taten" sprach Peter Gelb, Intendant der Metropolitan Opera in New York. "Nein, es geht nicht nur um 'Begleitschäden', sondern um den Verrat an der Kultur - Kultur im übergeordneten Sinne verstanden als Grundlage der Humanität - durch einen brutalen Revanchisten. Er hat seit Jahren darauf hingearbeitet, Europa die Quittung ausstellen zu können für ein kategoriales Versagen. Trotz der seit Jahren zunehmenden Erpressungen war Europa zur Politisierung des Geistes im Namen der Kultur und der Freiheit nicht bereit."

Außerdem: Für VAN spricht Dominika Hirschler mit dem Countertenor und Dirigenten Andreas Scholl. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Lesia Dychko und dort über Svitlana Azarova. Besprochen wird ein neuer Essayband von Bob Dylan (Tsp).
Archiv: Musik