Efeu - Die Kulturrundschau

Teufel locken uns

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17.03.2022. Im Van Magazin fragt Vladislav Gorai vom Opernhaus Odessa fassungslos, warum russische Künstler so wenig Solidarität mit der Ukraine zeigen. In der Zeit erzählen drei russische Künstlerinnen, die gegen den Krieg demonstriert haben, wie umfassend die Überwachung durch den FSB inzwischen ist. Artechock übersetzt ein Statement des russischen Filmkritikers Anton Dolin, der wegen seiner Kritik an der Invasion mit dem Tod bedroht wurde, es in Russland aber vor allem wegen der vielen Mitläufer nicht mehr ausgehalten hat. Die FAZ staunt über die vielen Putin-Apologeten in Italien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2022 finden Sie hier

Musik

Für das VAN-Magazin unterhält sich Irene Adler mit Anatolii Pastukhov, dem Assistenten des Chefdirigenten am Opernhaus Odessa, und dem führenden Tenor, Vladislav Gorai, die sich auf die Verteidigung ihres Hauses vor den russischen Invasoren vorbereiten. "Viele Orchestermitglieder, Solisten und Balletttänzer unserer Oper haben Einsatzmöglichkeiten gefunden. Einige Musiker aus dem Orchester wurden mobilisiert, kriegen Waffen und werden kurz ausgebildet", erklärt Pastukhov. Und weiter: "Vor dem Theater stehen viele Tschechenigel und Sandsäcke. Auch das Denkmal des Herzogs von Richelieu, eines unserer wichtigsten Sehenswürdigkeiten, wurde komplett mit den Sandsäcken bedeckt." Fassungslos zeigt sich Gorai über die mangelnde Solidarität russischer Künstler, von denen er hofft, dass sie lediglich auf Kenntnislosigkeit fußt: "Die Künstler sind doch das Gewissen der Nation. Sie könnten doch wenigstens sagen, dass sie gegen den Krieg sind, könnten eine Botschaft der Menschlichkeit senden. Ein Mensch der Kultur kann doch nicht unpolitisch sein."

Außerdem: Für VAN spricht Hartmut Welscher mit Benedikt Lehner über dessen Kammerkonzertreihe an der Deutschen Oper Berlin, womit an jüdische Orchestermitglieder erinnert werden soll, die von den Nazis unterdrückt und ermordet wurden. Für VAN spricht Jeffrey Arlo Brown mit Eleonore Büning über Wolfgang Rihm, über den die Musikkritikerin eine Biografie geschrieben hat. In der taz freut sich Maxi Broecking auf John Zorns viertägiges Gastspiel an der Hamburger Elbphilharmonie. Arno Lücker erinnert im VAN-Magazin an den Komponisten Sergei Bortkiewicz, der unter anderem zwischen Charkiw und Berlin pendelte. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Lücker außerdem hier über Ike Peyron und dort über Laura Valborg Aulin. Ziemlich stark findet es Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, dass der russische Rapper Morgenshtern, der den größten Teil seiner Karriere eher durch unpolitischen Zynismus aufgefallen ist, nun ein Solidaritätsvideo mit dem ukrainischen Rapper Palagin gedreht hat.



Besprochen werden die Ausstellung "Krautrock-Plakate" im Bröhan-Museum in Berlin (taz) und ein Konzert der Pianistin Elisabeth Leonskaja (Tsp).
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Bühne

Alexander Estis unterhält sich für die Zeit mit drei russischen Künstlerinnen, die Mühe haben zu begreifen, was in ihrem Land geschieht. Die Theatermacherin Marina Dawydowa lernt bei der Ausreise, dass ihre Wohnung "mit Kameras versehen worden war: Aus drei Einstellungen heraus hatte man meine Abreise dokumentiert und das Video ins Netz gestellt - mit herabwürdigenden Kommentaren. All das hatten Menschen aus ein und derselben Behörde getan. Es ist offensichtlich, dass heute die Geheimdienste das Sagen haben. Früher gab es, bei allen Problemen, noch so etwas wie ein politisches Leben, es gab einfache Beamte, die über Krankenhausplätze oder Schulen nachgedacht haben. ... Jetzt aber gibt es eine einzige Gewalt, die alles kontrolliert - total und totalitär, das gesamte Leben im Land. Der FSB ist überall. In der Rückschau versteht man, dass sie schon lange begonnen haben, an jeder Ecke schleichend einzudringen, Leute einzuschleusen. Nun ist das so offensichtlich, dass man seine Machtlosigkeit aufs Heftigste empfindet."

Weitere Artikel: Die südafrikanische Opernsängerin Golda Schultz spricht im Interview mit der Zeit über Frauenrollen in der Oper. Besprochen werden die Uraufführung von Anton Lubchenkos "Wir" in Regensburg (nmz), Brittens Kammeroper "The Turn of the Screw" in Lübeck (nmz) und Giacomo Puccinis "Il Trittico" in Brüssel (nmz).
Archiv: Bühne

Film

Für Artechock hat Rüdiger Suchsland ein Statement des russischen Filmkritikers Anton Dolin übersetzt, der mittellos sein Land verlassen hat, nachdem er die russische Invasion kritisiert hatte und dafür von Nationalisten mit dem Tod bedroht wurde: "Es ist unmöglich, in einem Land zu leben, selbst in dem eigenen und geliebten Land, in dem man geknebelt wird. Besonders für einen Mann, dessen einziges Werkzeug sein Wort ist. Außerdem konnte ich die Luft in Moskau einfach nicht mehr atmen, wo die Menschen weiter ihre persönlichen Pläne diskutierten, Filme ansahen, Kunstdiskussionen führten, Vernissagen und Premieren besuchten, während in der Ukraine Menschen getötet wurden und starben. Jede Minute einer solchen Existenz bestätigte das Offensichtliche: Sie sind Komplizen. ... Meine Heimat ist Russland, ich habe mir nie eine andere gewünscht. Aber es gibt kein Russland mehr. Russland ist ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf."

Nicht nur einander berührende Utopistinnen: Céline Sciammas "Petite Maman"

Mit Céline Sciammas "Petite Maman" kommt "ein magisch funkelndes Kleinod" (wie Perlentaucherin Thekla Dannenberg den Film bei seiner Weltpremiere auf der Berlinale nannte) in die deutschen Kinos. Der 70-Minüter handelt von einem Mädchen, das seiner Mutter dabei behilflich ist, das Haus der eben verstorbenen Großmutter auszuräumen. Anke Leweke schwärmt in der taz, "was für mitreißende Heldinnen, eigensinnige Pionierinnen, berührende Utopistinnen" Céline Sciammas Filme bevölkern und so auch in diesem "Zeitreisefilm, der seine verwunschenen Bilder aus der Ernsthaftigkeit von Kinderspielen entwickelt, bedingungslos die Perspektive seiner Protagonistin einnimmt, ihre Empfindungen teilt und mitteilt."

Einen "philosophischen Diskursfilm unter Kindern" sah FR-Kritiker Daniel Kothenschulte. Sciamma und die Kamerafrau Claire Mathon "beherrschen die Magie des Minimalismus: das Herbstlicht beim Vollenden des Waldhauses, die Kerzen bei einem Kindergeburtstag, die Dämmerung bei einer Bootsfahrt in Dani Karavans Skulpturenpark Axe Majeur." Weitere Kritiken schreiben Martina Knoben (SZ), Christiane Peitz (Tsp), Kevin Neuroth (Freitag) sowie Dunja Bialas und Rüdiger Suchsland (Artechock).

Beziehungskleinklein und Dahinsiechen in Grauzonen: "Drei Etagen" von Nanni Moretti

Mit "Drei Etagen" hat Nanni Moretti den gleichnamigen Roman von Eshkol Nevo verfilmt: Erzählt wird von drei Etagen eines Hauses, in dem drei Familien drei Geschichten erleben. Während Nevo in seinem Roman dieses Haus "noch als Mikrokosmos der Gesellschaft" zeigt, beschränke sich Moretti allerdings "auf das Beziehungskleinklein", schreibt Fabian Tietke im Tagesspiegel enttäuscht über den Regisseur: Dessen Erfolge in den letzten 20 Jahren "hätten ihm den Freiraum geboten, neue Perspektiven für einen selbstironischen Blick auf das bürgerliche Italien zu finden, andere Stimmen zu integrieren. Stattdessen hat er sich für immer konventionellere Zugänge entschieden." So stehe dieser Film "beispielhaft für dieses ästhetische Mittelmaß". Perlentaucher Robert Wagner konnte dem Film hingegen durchaus etwas abgewinnen: Er "ist äußerst dicht, wirkt aber beiläufig. Vor Melodramatik scheut sich die Erzählung und belässt Situationen lieber unklar, ambivalent und unaufgelöst. Statt Katharsis bleibt den Figuren nur ein Dahinsiechen in moralischen und emotionalen Grauzonen." Weitere Kritiken auf ZeitOnline, im Freitag und auf Artechock. Für die taz hat Thomas Abeltshauser mit Morretti gesprochen.

Besprochen werden Nadav Lapids "Aheds Knie" (Tsp, Perlentaucher, Artechock), die Fassbinder-Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn (Artechock), Domee Shis Pixar-Animationsfilm "Rot" (FR), der Science-Fiction-Film "The Adam Project" mit Ryan Reynolds (Presse) und die DVD-Ausgabe von Eva Hussons "Ein Festtag" (taz). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
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Literatur

In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw schreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow von der in der Bevölkerung grassierenden Sorge, dass sich bei Tschernobyl erneut eine Katastrophe abspielen könnte: "Deshalb suchen wir alle nach Jod. ... Es gibt die Information, dass man vierzig Tropfen Jod in Wasser oder Milch geben, umrühren und dann trinken soll. Das Gebräu soll schrecklich schmecken, aber es könnte Ihr Leben retten. Oder vielleicht auch nicht."

Beim Auftakt der Lit.Cologne diskutierte der Literaturbetrieb über seine Position zum Ukrainekrieg und wurde sich nicht einig. Wir haben die Berichte in unserer Debattenrundschau im Ukraine-Schwerpunkt resümiert.

Außerdem: In seinem für den Tagesspiegel von Berlin aus verfassten Kriegstagebuch zeigt sich der ukrainische Musiker und Schriftsteller Yuriy Gurzhy bestürzt über Bilder einer ausgebombten Bar, die er früher oft mit Freunden aufgesucht hatte. In der FR erinnert Arno Widmann an Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der vor 400 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Katerina Poladjans "Zukunftsmusik" (Tsp, NZZ), Abdulrazak Gurnahs "Ferne Gestade" (SZ), Heike Geißlers "Die Woche" (FR), Lea Ypis "Frei" (Freitag), Seweryna Szmaglewskas "Die Unschuldigen in Nürnberg" (NZZ), eine Neuauflage von Osamu Tezukas Mangaklassiker "MW" aus den Siebzigern (Tsp) und Marieke Lucas Rijnevelds "Mein kleines Prachttier" (FAZ).
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Kunst

Tizian, Junge Frau mit Federhut, um 1536, Eremitage


Tizians "Porträt einer jungen Frau mit Federhut" kann derzeit in der wunderbaren Ausstellung "Tizian und das Bild der Frau im sechzehnten Jahrhundert in Venedig" im Mailänder Palazzo Reale bewundert werden. Es ist eine Leihgabe der Eremitage, die das Bild vor wenigen Tagen zurückhaben wollte, nur, um dann zurückzurudern. Cleverer Schachzug, findet Karen Krüger in der FAZ. Jetzt loben in der italienischen Presse alle den Leihgeber! "Viele der Museumsbesucher, die jetzt in den Palazzo Reale kommen und vor der 'Jungen Frau mit Federhut' ihre Smartphones zücken, fotografieren keine 'Geisel des kalten Krieges' mehr, sondern eine 'Botschafterin des Friedens' - auch so nennt die italienischen Presse jetzt das Bild. Das alles spielt natürlich Putin-Verstehern in die Hände, derer es erschreckend viele in Italien gibt. ... Täglich gibt es im Fernsehen mindestens eine Talkshow, in der Verständnis für die 'russischen Gründe' gezeigt wird und Sätze fallen wie 'Die Wahrheit ist nie so, wie es scheint'. Es wird für die 'humanitäre Kapitulation' der Ukraine plädiert und eine moralische Pflicht zur Aufgabe behauptet. Nur sie könne weiteres Leid verhindern. Waffenlieferungen und Russland-Sanktionen? Das könne man sich sparen. Putin gewinne ja sowieso."

Währenddessen versuchen ukrainische Museen ihre Kunstgegenstände vor Zerstörung und Plünderung zu schützen: Laut Tagesspiegel bittet "World Heritage Watch" um Verpackungsmaterial.

Zeit-Kritiker Hanno Rauterberg badet in Berlin in einer Monet-Immersion: Seerosen und Lichtgewässer über ihm, unter ihm und um ihn herum. In Leipzig hat man das mit einem Schlachtengemälde von Werner Tübke probiert, "aufgeführt in einem Kraftwerk der Gründerzeit. Wo einst Dampf zischte, prasselt nun die Sintflut über Wände und Boden, der Turm zu Babel zerbirst unter großem Getöse, dann rufen die Hörner zum Krieg, Teufel locken uns in eine Grube, man sieht, man hört die Druckmaschinen der Reformation, ein mächtiger Kahn treibt heran, als sei es die Arche Noah, und überhaupt will das Strudeln der Szenen, das entfesselte Treiben der Bilder kein Ende kennen. ... Staunen ist alles, verstehen nicht weiter wichtig." Und doch, so Rauterberg, ist das neu und interessant: "Es gibt hier keine Zentralperspektive, diese Erfindung der Renaissance, mit der sich Raum und Welt ordnen ließen. Vielmehr muss der Blick schweifen, und stets hat man auch die anderen Besucher im Blick, die ihrerseits um sich schauen, um bloß nichts zu verpassen. ... Keine Passivität, keine Berieselung: Das überschreitende Prinzip der Immersion provoziert umherschreitende Betrachter, und spätestens damit findet die Idee der Ästhetik zu ihren Ursprüngen zurück, ausgerechnet im medialisierten Medium Kunst. So war sie ja seit dem 18. Jahrhundert gemeint gewesen: Ästhetik als eine Form der sinnlichen Erkenntnis."

Besprochen werden außerdem die Ausstellungen mit Arbeiten ukrainischer Künstler in Berlin (Tsp) und die New Yorker Ausstellung "A Female Gaze: Seven Decades of Women Street" in der Howard Greenberg Gallery (hyperallergic).
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