Efeu - Die Kulturrundschau

Menschen, die im Schatten flüstern

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18.03.2022. Die Welt unterhält sich mit dem Künstler Paul McCarthy und der Schauspielerin Lilith Stangenberg über ihre gemeinsame Arbeit, über Adolf und Eva und den Moment des Entrücktseins. Die NZZ ist hin und weg von David Martons Zürcher Inszenierung der "L'Olimpiade", einer Barockoper von Giovanni Battista Pergolesi, die ganz neue Helden auf die Bühne bringt. Die Literaturkritiker applaudieren den Leipziger Buchpreisen für Tomer Gardi, Uljana Wolf, Anne Weber und Karl-Markus Gauß: Die gehen so schön am Publikum vorbei, freut sich der Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Paul McCarthy, A&E, Adolf/Adam & Eva/Eve, 2021. Performance, video, fotografier, installasjon. © Paul McCarthy


Der amerikanische Künstler Paul McCarthy hat bereits einige Projekte mit der deutschen Schauspielerin Lilith Stangenberg durchgeführt, derzeit ist im Kode Museum in Bergen eine Ausstellung der beiden zu sehen, die von einer Performance begleitet wird. Auch einen Film haben die beiden zusammen gedreht. Die Zeichnungen für die Ausstellung sind "in charakter" entstanden, erzählt Cornelius Tittel, der die beiden für die Welt interviewt hat. Für Stangenberg hat sich durch die Zusammenarbeit ihr Verhältnis zur Sprache verändert, "vielleicht kann man sagen, es hat sich erweitert. Ich kannte zum Beispiel den Marquis de Sade und Georges Bataille und Antonin Artaud schon vorher, von meiner Arbeit an der Volksbühne, und intellektuell habe ich das verstanden, aber während der Arbeit mit Paul, vor allem beim Zeichnen, habe ich etwas erlebt, das jenseits der Logik liegt: Es ist, als ob ich selbst zu Poesie oder zur Sprache werden kann. Vielleicht passiert das, wenn die Worte ihren Sinn verlieren, wenn die Emotion eines Wortes wichtiger ist als seine Bedeutung."

Weiteres: Valerie Schönian lässt sich bei einem Spaziergang in Chemnitz vom Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz Frédéric Bußmann zeigen, wo dieser von Neonazis verprügelt wurde. Besprochen werden die Ausstellungen "Rache" im Jüdischen Museum Frankfurt (FR), Thomas Struths Fotos vom Cern in der Berliner Galerie Max Hetzler (FR) und Wolfgang Ullrichs Band "Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" (nachtkritik).
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Literatur

Die Preise der Leipziger Buchmesse sind vergeben: Ausgezeichnet werden Tomer Gardi für seinen Roman "Eine runde Sache", Uljana Wolf für ihre Essays "Etymologischer Gossip" und Anne Weber für ihre Übersetzung von Cécile Wajsbrots "Nevermore". Außerdem erhielt Karl-Markus Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung - die von Daniela Strigl gehaltene Laudatio dokumentiert der Standard.

Gardi, der bewusst in gebrochenem Deutsch schreibt, erhält diesen Preis "für einen Roman, den jeder Deutschlehrer mit tiefroten Korrekturnotizen hätte durchfallen lassen", schreibt Deniz Yücel in der Welt: Die Auszeichnung komme "nicht völlig überraschend, aber völlig verdient" und bringe frischen Wind in den Betrieb. "Oberstudienräte und andere Tugendwächter mögen darin einen Angriff auf die Sprache an sich erkennen, tatsächlich erkundet Gardi, was man mit dieser Sprache machen kann, wenn man sie vom allzu starren formalen Korsett befreit."

Nach dieser Verleihung bleibt Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels im Grunde "nur ein überschwängliches, hohes Lied auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und ihre angeschlossenen Fachbereiche im Sachbuch und der Übersetzung" angesichts all der fantastischen Bücher, die nominiert wurden. Und dann hat die Jury es sich bei ihrer letztlichen Entscheidungen auch nicht einfach gemacht, sondern "Entdeckungen gemacht", die sie dem Publikum ans Herz legen will. Aber: Diese Literatur "ist eine sicher lesenswerte, aber auch hochgradig verfeinerte, metafiktionale. Sie wurde gezielt an einem Publikum vorbei ausgewählt, das nur gelegentlich zu literarischen Texten greift." Weitere Resümees der Verleihung schreiben Judith von Sternburg (FR) und Lothar Müller (SZ). Außerdem berichtet Gerrit Bartels für den Tagesspiegel auch von der Veranstaltung zu Ehren von Karl-Markus Gauß.

Außerdem: Maxi Leinkauf spricht im Freitag mit Nora Bossong über deren neuen (in der FR besprochenen) Essay "Die Geschmeidigen" über den flexiblen Konformismus der Generation der heute 40-Jährigen. Besprochen werden unter anderem Nadire Biskins Debütroman "Ein Spiegel für mein Gegenüber" (taz), Michaela Maria Müllers Heimatroman "Mitterndorf" (taz) und neue Klinikromane (SZ).
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Bühne

Szene aus Pergolesis "L'Olimpiade" in Zürich. Foto: Herwig Prammer


Hin und weg ist NZZ-Kritiker Christian Wildhagen von David Martons Zürcher Inszenierung der "L'Olimpiade", einer Barockoper von Giovanni Battista Pergolesi - wobei hier praktisch nur noch die Musik von Pergolesi ist. Unterlegt wird sie immer wieder mit Filmszenen isolierter alter Menschen. Und das geht für Wildhagen wunderbar zusammen: "Unendlich langsam richtet sich die alte Frau auf, jede Bewegung ist ein Kampf gegen das Alter. Mit der verbliebenen Muskelspannung ihrer dürren Arme stemmt sie sich im Sessel hoch, Zentimeter um Zentimeter. Ob sie am Ende über die hier doppelt und dreifach lastende Schwerkraft triumphieren wird, bleibt ungewiss. ... die Szene ist Teil eines Films. Dazu erklingt Musik, live gespielt. Es ist wunderschöne, sehr junge und sehr heilsame Musik, komponiert vom größten Wunderkind der neapolitanischen Oper, Giovanni Battista Pergolesi. Er starb mit nur 26 Jahren 1736 an Tuberkulose. Pergolesis Oper 'L'Olimpiade' erzählt von den Siegen irgendwelcher Helden, doch ihre Taten tun hier nichts zur Sache - Heldin unserer Herzen ist längst die betagte Dame, die in einem Seniorenheim bei Zürich wohnt."

Der Trailer bringt einen kleine Eindruck von der ungewöhnlichen Inszenierung:



Weiteres: Alla Shenderova berichtet in der nachtkritik, dass immer mehr Theater in Russland ihre Eigenständigkeit verlieren. Ljubiša Tošic unterhält sich für den Standard mit Regisseur Simon Stone über dessen Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" an der Wiener Staatsoper. Besprochen werden die Uraufführung von Ole Hübners "Opera und ihr Double" in München (SZ) und Anton Lubchenkos Oper "Wir" am Theater Regensburg (FAZ).
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Film

Audrey Diwans "Das Ereignis" nach dem Buch von Annie Ernaux

Im Standard spricht die Regisseurin Audrey Diwan über ihre Adaption von Annie Ernauxs autobiografischem Abtreibungsbericht "Das Ereignis". Den Kritiker Dominik Kamalzadeh erinnert der Film zuweilen an einen Spionagefilm. "Ich hatte Jean-Pierre Melvilles Résistance-Drama 'Armee der Schatten' im Kopf", erklärt dazu Diwan, "denn es geht um eine Idee von Widerstand: Menschen, die im Schatten flüstern. Wenn das Gesetz etwas verbietet, muss man in den Untergrund gehen. Die Angst ist das zentrale Gefühl, auch im Buch."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Claudius Seidl der Schauspielerin Michaela May zum 70. Geburtstag. Besprochen werden die auf Sky gezeigte, gleichnamige Serienadaption von Thomas Pletzingers Roman "Bestattung eines Hundes" (Freitag, Welt, FAZ), Mike Mills' "C'mon, C'mon" mit Joaquin Phoenix (NZZ), "Jump, Darling" mit Cloris Leachman (SZ), die Apple-Serie "The Last Days of Ptolemy Grey" mit Samuel L. Jackson (Presse), die auf Arte gezeigte, dänische Miniserie "Blinded - Schatten der Vergangenheit" (SZ) und die Apple-Serie "WeCrashed" (Freitag).
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Architektur

In der NZZ gratuliert Reto Gadola dem Architekten, Designer und Wohntheoretiker Arthur Rüegg zum 80. Geburtstag und würdigt dessen Verdienste als unermüdlicher Forscher der Architektur der Moderne.
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Stichwörter: Rüegg, Arthur

Musik

Was ist noch angemessen, fragt sich Rüdiger Schaper in einem nachdenklichen Essay im Tagesspiegel, "wenn der normale Kulturkonsum, wie in diesen Tagen und Wochen, ein schlechtes Gewissen macht und schal schmeckt". Und wie mit russischer Musik umgehen? Am Gendarmenmarkt in Berlin wurde nun das Programm sanft umgestellt: Schostakowitschs Siebte Sinfonie "Leningrad" weicht seiner Fünften. "Was ist angemessen, jetzt? Die 7. Sinfonie hatte der russische Komponist (1906 -1975) seiner Heimatstadt gewidmet. Die deutsche Wehrmacht belagerte Leningrad von September 1941 bis Januar 1944. Bei der Blockade starben eine Million Zivilisten. ... Schostakowitschs Siebte wurde mitten im Krieg in der zerschossenen Stadt uraufgeführt. Im Konzerthaus wird, aus Respekt, aus übertriebener Vorsicht, stattdessen die Sinfonie Nr. 5 gespielt. Man kann verstehen, dass Musiker sich nicht frei fühlen, Schostakowitschs Kriegswerk zu spielen angesichts der Schreckensbilder aus den belagerten ukrainischen Städten."

In der FAZ erzählt der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov von seiner Flucht aus Kiew nach Berlin, die über Umwege satte vier Tage gedauert hat. Wie geht es weiter? "Ich weiß es nicht. Die Musen schweigen angesichts des schrecklichen Kummers und des Unglücks. Es ist also keine richtige Zeit für Musik. Dennoch hat es, wie wir wissen, immer widerständige Reaktion gegeben. Meistens handelt es sich dabei um eine Reaktion der Empörung, des Zorns, wenn man sich an Chopins sogenannte Revolutionsetüde erinnert und in monumentalerer Form zum Beispiel an die Symphonien von Schostakowitsch oder Prokofjew. Für mich jedoch, der ich immer in der Position eines Privatmannes mit einem von Natur aus lyrischen Bewusstsein war und bin, ist es vor allem eine Reaktion des stillen Mitleids."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel porträtiert Thomas Wochnik die Komponistin Catherine Lamb, die in diesem Jahr bei der Berliner Maerzmusik vertreten ist. Im ZeitMagazin plaudert der Rapper Kool Savas über seine Familiengeschichte und sein Leben. Inga Barthels hat sich für den Tagesspiegel mit der Rapperin Ebow getroffen. Die taz und der Standard sprechen mit Wolfgang Ambros, der morgen 70 Jahre alt wird.

Besprochen werden Rosaliás "Motomami" (Pitchfork, mehr dazu bereits hier), Nobros Punk-Album "Live Your Truth, Shred Some Gnar" (Jungle World), ein Konzert des Radio-France-Orchesters unter Emilia Hoving (Tsp) und Alabaster DePlumes Jazzalbum "Gold" (taz).

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