Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Teil der Realität widersetzte sich mir

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19.03.2022. Die FAZ fragt sich mit der Fotografie Biennale: Wie wollen wir leben? Auf jeden Fall differenziert, folgt man den Vorschlägen der russischen Kuratorin Ekaterina Degot in monopol zum Boykott russischer Kunst. Die Big Player in der Musikwelt, während der Pandemie fürstlich mit Staatsknete gepampert, sollen endlich aufhören zu jammern und ihre Mitarbeiter anständig bezahlen, fordert auf Zeit online der Konzertveranstalter Berthold Seliger. Die Komödien und Tragödien der Gegenwart spielen sich heute auf dem Berufsnetzwerk LinkedIn ab, erzählt der Schriftsteller Quentin Mouron in der NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Mónica Alcázar-Duarte, Here to be caught, aus der Serie Second Nature, 2017-fortlaufend


Den Verflechtungen von Mensch, Natur und Technologie auf der Spur, bespielt die niederländische Gastkuratorin Iris Sikking derzeit in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen sechs Ausstellungshallen mit Werken von fast vierzig Fotografen und Filmemachern aus vier Kontinenten, erzählt Freddy Langer in der FAZ. Interessant, aber er warnt noch vor den eher pessimistischen Voraussagen der Künstler, bevor er zur "Universal Tongue" der Niederländerin Anouk Kruithof tanzend die Biennale verlässt: "Dem Einfluss von Algorithmen auf das Bild, das wir uns von der Welt machen, oder dem Einfluss von massenproduzierten Bildern auf den Wunsch, den eigenen Körper vermeintlich zu optimieren, gehen die Präsentationen ebenso nach wie Fragen nach Besitzrechten indigener Völker in Ecuador und Nepal oder den gesellschaftlichen Veränderungen angesichts der Genderdebatten, der Migrantenströme, des Klimawandels und der Zerstörung ganzer Naturräume einschließlich daraus folgender Konflikte, die trotz tödlicher Auseinandersetzungen unterhalb des Radars der Weltöffentlichkeit ausgetragen werden. Iris Sikking hat dazu die vier Schwerpunkte 'Protestierende Körper', 'Körperoptimierung', 'Erkundung der Natur' und 'Bearbeitung der Erde' gewählt". Aber am Ende, so Langer, steht immer die Frage: "Wie wollen wir leben?"

Tanzend natürlich, immer tanzend:



Im Interview mit monopol plädiert die russische Kuratorin Ekaterina Degot für Differenzierung beim Boykott russischer Kunst: "Aktuell, während des Krieges, würde ich dazu raten, auf jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen zu verzichten. Ein Rückzug ist kein Boykott, es sei denn, man ist so berühmt wie Madonna. Es ist eine stille Wahrung des eigenen Rufs, eine sehr weise und ehrliche Geste meiner Ansicht nach. Nach dem Krieg werden für Russland sicherlich noch dunklere Zeiten des Terrors kommen, und man muss bereits jetzt eine Strategie für diese Zeiten der tiefen Isolation haben. Sie kann zum Beispiel darin bestehen, Dissidenten zu unterstützen oder im passiven Teil der Bevölkerung Informationen über Kurzwellen zu verbreiten. Man muss sich vorbereiten."

Weiteres: Im Guardian stellt Jonathan Jones die beliebteste Künstlerin der Ukraine vor, Maria Prymachenko, deren Werk jetzt von der Zerstörung durch russische Bomben bedroht ist. Besprochen wird die Ausstellung "Rache" im Jüdischen Museum Frankfurt (Welt).
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Literatur

Die Komödien und Tragödien der Gegenwart spielen sich auf dem Berufsnetzwerk LinkedIn ab, stellt der Schriftsteller Quentin Mouron in einem NZZ-Essay fest. "Ich bin hin und her getaumelt zwischen Angeboten aus dem Bereich der Ernährung, der Spiritualität, der Philosophie, der Ethik oder der Ästhetik; ich verlor mich in den Mäandern der dröhnenden Farce und pflegte dort die durchlässige Nonchalance jener Flaneure, die Walter Benjamin so treffend beschreibt. ... Ich habe so viel Zeit in den digitalen Kammern des Spätkapitalismus verbracht, dass ich anfing, einen Roman zu schreiben, einen großen, vielstimmigen Roman, der das Phänomen Linkedin erfassen sollte, aber ich habe es nicht geschafft: Meine Fiktion schien immer im Rückstand zu sein in Bezug auf die Realität. Es war eine Niederlage und zugleich eine Ohrfeige: Ein Teil der Realität widersetzte sich mir."

Im Standard erklärt Michael Wurmitzer, warum den Ukrainern derzeit vor allem der Schriftsteller Taras Schewtschenko als Identifikationsfigur dient: "Als erster großer Autor schrieb er nicht auf Russisch oder Polnisch, den Sprachen der damaligen Oberschicht, sondern in der ukrainischen Volkssprache, variierte sie und ihre Folklore auf einzigartige Weise. Zum anderen schrieb er, als Sohn von Leibeigenen geboren, über Freiheit, die Unterdrückung der einfachen Leute, die in den sozialpolitischen Verhältnissen unter die Räder kommen, und wandte sich gegen die Brutalität der Zaren."

Die goldenen Zeiten der vorgeblich auf Dauer angelegten Werkausgaben sind schon lange vorbei, ruft der Literaturhistoriker und ehemalige Hanser-Lektor Wolfgang Matz in einem gellenden Warnruf in der FAZ: Einst ambitionierte Projekte und Verlage sind eingegangen, der Backkatalog zerbröselt und wird nicht nachgedruckt. Neidisch blickt er nach Frankreich, wo die Bibliothèque de la Pléiade seit Jahren wichtige Arbeit leistet. "Übertrüge man die deutsche Situation auf Frankreich, so hätte man eine Pléiade ohne Baudelaire, George Sand, Vigny, Maupassant, Verlaine, Chateaubriand - unvorstellbar für ein Land der Literatur! Die Verlage können und werden das Problem nicht lösen, dafür ist es zu spät, der Kahlschlag längst zu groß, als dass er noch aus eigener Kraft zu beheben wäre. Angesprochen sind die Akademien, vor allem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung."

Weitere Artikel: Die NZZ bringt die zehnte (und hier die elfte) Folge von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In der taz spricht die Literaturwissenschaftlerin Nicole Henneberg über die Romane der jüdischen Schriftsteller Gabriele Tergit, die sie neu ediert. Tilman Spreckelsen schlendert für die FAZ über das überschaubare Gelände der "buchmesse popup" in Leipzig. Für die NZZ plauscht Paul Jandl mit der Schriftstellerin Stefanie Sargnagel.

Besprochen werden Esther Kinskys "Rombo" (taz), Tomer Gardis eben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Roman "Eine runde Sache" (Freitag), Lea Ypis "Frei" (SZ), Tove Ditlevsens "Gesichter" (FR), Eva Tinds "Ursprung" (Dlf Kultur) und Henriette Valets "Madame 60a" (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden die Uraufführung von Ole Hübners "Opera und ihr Double" in München (nmz) und die Uraufführung von Manfred Trojahns Oper "Euridice. Die Liebenden, blind" an der Amsterdamer Oper (nmz).
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Stichwörter: Trojahn, Manfred

Film

Im Labyrinth des Identitären: Nadav Lapids "Aheds Knie"

In seinem Film "Aheds Knie" leidet der israelische Filmemacher Nadav Lapid an seinem Heimatland und seiner Rolle als Kulturschaffender dort. Das erzählt er jedoch "auf eine intensive, manchmal fast experimentelle Weise", schreibt Bert Rebhandl in seiner online nachgereichten FAZ-Kritik. "Dabei geht es ihm wesentlich um Zirkelschlüsse der Identität. Die Wüste von Avara, visuell ein klassischer Topos für das Exotische, wird bei Lapid zu einem Labyrinth des Identitären." Philipp Stadelmaier von der SZ verstrickt sich gern in die Widersprüche des Films: "Zu seinem Protest gehört die intrinsische Verbundenheit. Darin liegt die politische Intelligenz von Lapids Filmen: in der Evidenz der Unmöglichkeit, Angeklagtes und Gehasstes loszuwerden, wenn es sich schon in einem selbst befindet. ... Ohne diese präzise, formal gnadenlose Auseinandersetzung mit dieser Verbundenheit wäre Lapids Kino ein beliebiges politisches Pamphlet, eine 'Position', eine schiere Behauptung. Lapid verwandelt seinen Film in eine Waffe, die sich selbst zerlegt. Und ganz am Schluss, als alles schon abgedreht war, nahm er sogar finanzielle Förderung vom israelischen Kulturministerium an."

Weitere Artikel: René Wildangel berichtet im Tagesspiegel vom Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki. Besprochen wird Céline Sciammas "Petite Maman" (Standard, mehr dazu hier),
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Musik

Trotz Lockerungen: Von Aufbruchstimmung kann in der Konzertbranche keine Rede sein, schreibt der Musikkritiker und Konzertveranstalter Berthold Seliger auf ZeitOnline in einer langen, wie stets bei Seliger mit hoher Faktendichte unterfütterten Analyse der Lage: Das Fachpersonal hat sich in andere Berufe geflüchtet und fürchtet die Rückkehr in prekäre Jobs, das Publikum zaudert, weil die Pandemie noch nicht vorbei ist und wegen einiger Abzock-Erfahrungen in den letzten zwei Jahren, zudem sind beträchtliche Teile der Branche nahezu gelähmt, während die Big Player sich fürstlich aus Hilfetöpfen bedienten, ohne etwas durchrieseln zu lassen. Mitunter eben jene Player wenden sich nun mit einem "Brandbrief" an die Politik: Doch "wer nun publikumswirksam darüber jammert, dass nicht genug Personal für die Durchführung von Konzerten zur Verfügung stehe, muss sich den Hinweis gefallen lassen, jahrelang selbst zu wenig für die finanzielle Sicherheit dieses Personals getan zu haben. ... Um diese Menschen zurückzugewinnen, helfen keine Brandbriefe und Imagekampagnen. Nötig sind faire Bezahlung und soziale Absicherung, also die Organisation von Resilienz für das kulturelle Prekariat. Dafür ist das Engagement aller Protagonist*innen im Ökosystem Konzertbranche notwendig. Großkonzerne und Superstars der Livebranche müssten bereit sein, auf einen vergleichsweise geringen Anteil ihrer erheblichen Gewinne zu verzichten. Das Publikum kleinerer und mittelgroßer Konzerte müsste bereit sein, eine maßvolle Erhöhung von Eintrittspreisen zu akzeptieren."

Weitere Artikel: Für die taz erkundigt sich Jens Uthoff bei der ukrainischen Rapperin Alyona Alyona über ihre Lage. In seinem für den Tagesspiegel verfassten Kriegstagebuch erinnert sich Yuriy Gurzhy an ein chaotisches Konzert, das er gemeinsam mit Serhij Zhadans Band im nunmehr zerbombten Mariupol spielte. Wenn die Leute heute Friedenssongs trällern, dann vor allem alte Gassenhauer, fällt Joachim Hentzschel von der SZ auf, doch "aktueller formulierte Verse und Material, das zeitgeistig und diskursiv belastbarer ist als die alten Heuler, finden sich in der derzeitigen Praxis kaum." In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über "Sympathy For The Devil" von den Rolling Stones. In einer "Langen Nacht" des Dlf Kultur widmen sich Tom Noga und Steffen Irlinger der Geschichte der elektronischen Musik aus Deutschland.

Besprochen werden das Comebackalbum von Placebo (Standard), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit dem Monteverdi Choir unter John Eliot Gardiner (Tsp), ein Auftritt der Schick Sisters (Presse), das Debütalbum von doppelfinger (Standard) und Fishbachs neues Album "Avec Les Yeux" (FR).

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