Efeu - Die Kulturrundschau

Welt der technoiden Sehnsucht

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04.04.2022. Der  litauische Filmemacher Mantas Kvedaravicius ist beim Versuch, aus Mariupol zu fliehen, ums Leben gekommen, meldet unter anderem der Dlf. Fassungslos berichtet die FAZ, dass Maltas Nationaltheater beinahe ein Stück gezeigt hätte, dass die ermordete Journalistin Daphne Caruana Galizia als hasserfüllte Hexe denunziert. Die SZ fragt mit Jan-Christoph Gockel und Alexander Kluge an den Münchner Kammerspielen, ob man verändern kann, was man liebt. Im Freitag beschört Jacques Audiard die erotische Kraft der Sprache. Die NZZ registriert den neuen Trend zum Vorrevolutionären in der Luxusmode.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2022 finden Sie hier

Film

Der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius ist beim Versuch, aus Mariupol zu fliehen, ums Leben gekommen, meldet unter anderem der Dlf: "Kvedaravicius sei in der Hafenstadt im Südosten der Ukraine gewesen, um russische Kriegsgräuel zu dokumentieren." Kvedaravicius hatte 2011 einen Film über den Tschetschenienkrieg vorgelegt - in diesem Jahr hatte Bert Rebhandl für die taz mit dem Regisseur über seine Arbeit gesprochen. Bereits 2016 hatte Kvedaravicius einen Dokumentarfilm über Mariupol veröffentlicht, den das Filmfestival Vilnius vor kurzem gezeigt hat. Dunja Bialas von Artechock war sehr berührt davon: "Kvedaravicius arbeitet in seinem unaufgeregten, dabei sehr ergreifenden Dokumentarfilm mit beobachtender Teilnahme den zerrissenen Zustand dieser umkämpften Stadt heraus. Die Paramilitärs - die Putin den Vorwand der "Entnazifizierung" gegeben haben mögen - dominieren in Kampfmontur die großen Einfallsstraßen der Stadt, verschanzen sich in der Bibliothek hinter Kühlschränken, laden Munition nach, während von der Straße Kampfhandlungen zu hören sind. ... Mariupolis ist ein impressionistisch-poetisches Portrait, für das Dounia Sichov eine intuitive Montage geschaffen hat."

Ute Cohen spricht im Freitag mit Jacques Audiard über dessen Kino: "Eine der Funktionen des Kinos besteht ja darin, Formen für die heutige Welt zu finden und in diesem ganzen Magma das Herausragende zu entdecken", sagt er. "Meine Protagonisten haben eine spezielle Energie, die man als sexuell verstehen könnte. Ich würde sie aber eher erotisch nennen. Das Kino soll ja auch erotisieren. ... Was meine Hauptfiguren ausmacht, ist, dass sie sich ständig verführen, und zwar im Gespräch. Ihr Leben dreht sich ums Vögeln, wie man so schön sagt. Ich glaube fest an die erotische Kraft der Sprache, wie auch Éric Rohmer. Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der man am ersten Abend miteinander ins Bett geht. Wann werden wir wohl wieder zu einem erotischen Dialog finden?"

Weitere Artikel: In der FR spricht Volker Schlöndorff darüber, dass er eine Familie aus der Ukraine aufgenommen hat. Nach dem Ohrfeigen-Eklat legt Netflix eine Produktion mit Will Smith auf Eis, meldet David Steinitz in der SZ. Die chinesischen Behörden haben die Aufführung eines ukrainischen Films in der Schweizer Botschaft in Peking untersagt, meldet Tobias Gafafer in der NZZ.

Besprochen werden Steven Soderberghs "Kimi" (Tsp), Juho Kuosmanens "Abteil Nr. 6" (Standard, unsere Kritik) sowie neue Marvel-Filme und Serien (Welt).
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Bühne

Der Zirkus braucht Elefanten. Foto: Maurice Korbel / Münchner Kammerspiele

In der SZ freut sich Christiane Lutz, dass Jan-Christoph Gockel mit seiner Alexander-Kluge-Revue "Wer immer hofft, stirbt singend" an den Münchner Kammerspielen zur notwendigen Selbstbefragung ansetzt und es nicht wie viele andere bei der Nabelschau belasse. Und natürlich werde er Kluges Geschichte von der Zirkusreformerin Leni Pecikert nicht hundertprozentig gerecht: "Gockel knüpft aber an dessen Methode der kleinen Betrachtungen an. Ein paar seiner Motive greift er auf, die Utopie etwa, die 'immer besser' wird, 'je länger wir auf sie warten', und führt sie weiter mit seinem eigenen Zweck-Optimismus. Aber gerade, weil Leni den Zirkus liebt, sagt Kluge, wird sie ihn nicht verändern können, 'weil Liebe ein konservativer Trieb ist'. So bleibt die Frage, ob das Theater die Kraft hat, sich aus sich selbst heraus zu verändern. Man kann Gockel vorwerfen, dass er die Frage doch nicht beantworten will, sondern sie lieber mit Lichterketten umwickelt und in lautem 'Aaaaah' und 'Ooooooh' untergehen lässt, zu dem er das Publikum auffordert. Vielleicht aber sind Zauberei und Zuckerwatte dann doch die besten Möglichkeiten, die das Theater noch hat." Wild und sympathisch findet Nachtkritikerin Sabine Leucht diesen Ritt durch die (Des-)Illusionsmaschinerie, bleibt aber auch ein bisschen ratlos zurück.

Matthias Rüb berichtet in der FAZ von einem Theaterskandal auf Malta, der in letzter Minute verhindert werden konnte. Das Nationaltheater in La Valletta wollte das Stück "Ix-Xiħa" des Regisseurs Mario Philip Azzopardi zeigen, wogegen sich aber mehrere Schauspieler gewehrt hätten: "Bei der titelgebenden 'alten Frau' handelt es sich um eine kurz zuvor Verstorbene, die vom Jenseits her ein Komplott zur Enterbung ihrer vier snobistischen Kinder zugunsten der Hausangestellten betreibt. Bei der Tochter Jenny handelt es sich unverkennbar um die ermordete Daphne Caruana Galizia. Die wird in dem Stück als missgünstig, hasserfüllt und gefühlskalt charakterisiert. Die letzten Worte des fiktiven Scheusals in dem Stück sind die gleichen wie jene der echten Journalistin Daphne Caruana Galizia in ihrem letzten Blog, ehe sie am 16. Oktober 2017 von einer ferngezündeten Bombe unter ihrem Auto zerrissen wurde: 'Wo du auch hinschaust, überall sind Gauner. Die Lage ist hoffnungslos.' Die zerfetzte Jenny endet, wie der Autor Azzopardi schreibt, an einem Ort 'schlimmer als die Hölle', während der Witwer und die Söhne mit den Folgen des Mordes an ihrer Ehefrau und Mutter zu kämpfen haben."

Weiteres: Im taz-Interview mit Katja Kollmann berichtet der ukrainische Regisseur Anton Telbizov von der Zerstörung des von ihm gegründeten Teatromanyia in Mariupol.

Besprochen werden Herbert Fritschs Inszenierung von Thomas Bernhards "Jagdgesellschaft" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (Nachtkritik, FAZ), Nicolas Stemanns Inszenierung von August Strindbergs Stück "Der Vater" (die Ueli Bernays in der NZZ zu gendertheroetisch aufgeladen ist), Caren Jeß' Empörungspanorama "Eleos" am Staatstheater Braunschweig (taz), Mithu Sanyals "Identitti" als schillernde Identitätskomödie in Darmstadt (FR) und Vincent Huguets "Don-Giovanni"-Inszenierung mit Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper (SZ, FAZ, Tsp).
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Kunst

Paul Gauguin: Tahitianische Frauen, 1891. Bild: Musee d'Orsay

In der FAZ kommt Andreas Kilb noch einmal auf die bisher vielgelobte Paul-Gauguin-Ausstellung "Why Are You Angry" in der Alten Nationalgalerie in Berlin zurück und fragt sich, warum die Kuratoren Gauguins Tahiti-Bildern nicht etwas dokumentierte Realität gegenübergestellt haben, wenn sie schon einen Mythos zerschlagen wollen. Aber auch in anderer Hinsicht sieht er die Schau fehlgehen: "Der Essentialismus, das Denken in Hautfarben, das im Zentrum der postkolonialen Ideologie steht, prallt an seiner Kunst ab. Denn Gauguin wollte aus seiner Haut heraus. Er kam nach Tahiti als Europäer, um es nicht mehr zu sein. Am leichtesten lässt er sich feministisch packen: Gauguin heiratete minderjährige Mädchen und ließ sich von ihren Familien versorgen. Aber auch das Stereotyp des Sextouristen, dem er mit seinem Reisebuch 'Noa Noa' Nahrung zu geben scheint, erklärt seine Bilder nicht, denn sie sind nicht lüstern, sondern demütig. Sie beschwören nicht das erotische Paradies, sondern das Rätsel seiner Abwesenheit. Immer wieder halten sie den Moment fest, in dem das vorzeitliche Glück, das Gauguin auf Tahiti suchte, gerade vorbei ist. Zorn und Trauer, böse Geister und schwere Träume ziehen über die Gesichter seiner Modelle wie eine Infektion."

Weiteres: Im SZ-Interview mit Catrin Lorch berichtet der ukrainische Künstler Nikita Kadan, wie er in einem Bunker in Kiew ausharrt und von dort aus Sichtbarkeit für den krieg organisiert. Das von ihm kuratierte Filmprogramm "Ein Brief von der Front" ist im Münchner Haus der Kunst zu sehen. In der FAZ resümiert Stefan Locke eine Diskussion zwischen Durs Grünbein und Marion Akcermann zum Stellenwert ostdeutscher Kunst.
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Design



Mann trägt wieder Rüschen, nimmt Marion Löhndorf von der NZZ aus der von Gucci gesponserten Ausstellung "Fashioning Masculinities" im Victoria and Albert Museum als Erkenntnis mit. "Da Luxusmode auch Spaß machen soll und verkauft werden will, geht die Schau ihre Kampfansage an die Uniformen toxischer Maskulinität spielerisch-kokett an, im Verführungsmodus sozusagen. Denn um nichts Geringeres als Luxusmode durch die Jahrhunderte geht es in dieser Schau. Sie besitzt tadellosen Chic und Schliff, und ein gutgelaunter Soundtrack begleitet vier clever gegliederte Kapitel des Parcours, die sich um verschiedene Stadien des männlichen Aus- und Angezogenseins drehen."

Autos der Gegenwart sind eine einzige, gestalterische Zumutung, stöhnt Gerhard Matzig in der SZ. Um wieviel schöner war das das Autodesign der Siebziger: "Es beschreibt so zukunftsbesoffen wie ernsthaft optimistisch eine Welt der technoiden Sehnsucht. Eine Alles-wird-gut-Welt, in der keilförmige, flache, abenteuerlich orthogonal geformte und zum Niederknien berauschende Autos zu Zeitmaschinen und Utopien ihrer selbst werden. Samt Sicherheitsgurt dann von 1974 an. Und Deutschland wird auch noch Fußballweltmeister. Es ist offenbar reine Magie. Zu Raum- und Zeitkapseln mit Warp-Antrieb werden Autos, die nicht mal richtig Wumms unter dem Hubraumdeckel haben; aber guckt man sie auch nur an, ist man schon auf Speed. Die Frauen, die werbewirksam nach alter Väter Sitte auf den bettengroßen Motorhauben liegen, sind gar nicht nötig, um das Begehren zu wecken."

Besprochen wird die Schau "Blanc de Blancs" in der Villa Schöningen in Potsdam (Tsp).
Archiv: Design

Literatur

Ziemlich genervt zeigt sich Tobias Rüther in der FAS von den Briefen, die Literaten wie Antje Rávic Strubel (unser Resümee) und Ingo Schulze (unser Resümee) unter den Eindrücken des Ukrainekriegs an die Öffentlichkeit richteten: "Lieber Ukrainekrieg, wie schaffe ich es nur, dass du von mir handelst? Eine halbe Zeitungsseite lang schreibt Schulze jetzt seinem Freund über den Krieg, gibt den Ukrainerinnen und Ukrainern aber nur eine Nebenrolle im wortreichen Ringen mit dem eigenen 'Hin- und Hergerissensein'. ... Schulzes eigene Geschichte mit diesem Krieg handelt von dem Bedürfnis Ingo Schulzes, eine eigene Ukraine-Kriegsgeschichte zu haben." Und "nichts verteidigen deutsche Schriftsteller so leidenschaftlich wie die eigene Sensibilität".

Beim Hören des neuen SR2-Literaturpodcasts "Zwei mit Buch" , der die geschätzte Sendung "52 beste Bücher" abgelöst hat, zieht sich Roman Bucheli von der NZZ alles auf links: Zwei Leute reden da über ein Buch, einer hat's gelesen, der andere nicht - und währenddessen hagelt es konfektionierte Allgemeinplätze. "Was haben sich die Verantwortlichen von DRS 2 bloß gedacht? ... Will man den Zuhörerinnen und Zuhörern sagen: Um über Bücher zu reden, braucht man sie nicht gelesen zu haben? Oder will man die Literaturkritik neu erfinden, indem man sie zum Geschwätz degradiert? Ach, wird man sich gedacht haben, Literatur, das ist so elitär. Wir müssen das jetzt radikal herunterholen. Darum wohl die Devise: total einfache Sprache, wahnsinnig originelle Gespräche, unglaublich cool aufgemacht."

Außerdem: Die NZZ bringt die Folge 26 und Folge 27 von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In der Literarischen Welt verrät der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, welche Bücher ihn geprägt haben.  Maxim Biller erzählt in der Zeit von den Erlebnissen seines Schriftsteller-Freundes Etgar Keret in Berlin.

Besprochen werden unter anderem zahlreiche Comics über die Geschichte der Ukraine (Standard), Kristine Bilkaus "Nebenan" (taz), Jon Fosses "Ich ist ein  anderer.  Heptalogie III-V" (Zeit), eine Neuauflage von Kay Dicks "Sie" (Standard), Ron Segals "Katzenmusik" (online nachgereicht von der FAZ), Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge" (FR) und neue Krimis, darunter Scott Thornleys "Der gute Killer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Archilochos' "Fragment XVII":

"Nicht liebe ich einen großen Heerführer und nicht einen,
der gespreizt einherschreitet,
..."
Archiv: Literatur

Musik

Der SZ-Korrespondent Jürgen Schmieder schwärmt von der Grammy-Verleihung, bei der Joe Batiste satte fünf Auszeichnungen abräumte und auch Wolodimir Selenskij per Schalte eine Rede hielt, was in eine große musikalische Solidaritätsbekundung mündete. "Da war er, der Moment, der so eine Veranstaltung, wie die Amerikaner sagen: memorable macht - erinnerungswürdig. Die Musikbranche zeigte also, mal wieder, dass das schon geht: sehr gut gelaunt und doch nachdenklich zu sein. Dreieinhalb Stunden lang und doch kurzweilig. Eine Würdigung aller Stars und doch auch eine Hommage an die Leute hinter den Kulissen. Es war eine ganz bewusste Abkehr von der Oscar-Verleihung, die zuletzt stets stinklangweilige Selbstbeweihräucherung der Filmbranche, die heuer nur memorable war wegen der Zurschaustellung toxischer Männlichkeit".



In der SZ spricht der Filmmusik-Dirigent Frank Strobel über seine Leidenschaft für die Kompositionen von Alfred Schnittke, der vor allem für das Kino der Sowjetunion gearbeitet hatte und derzeit in einer großen, fortlaufenden Edition wiederentdeckt wird. "Schnittke wurde im Westen in den Siebziger- und Achtzigerjahren zuerst als Schöpfer von symphonischer und Kammermusik wahrgenommen. Aber in der früheren Sowjetunion und überhaupt in Osteuropa gab und gibt es ein anderes Verhältnis zur Filmmusik als bei uns, wo sie als Funktionsmusik gern in die zweite Reihe geschoben wird. ... Das Schreiben von Filmmusik war für ihn ein Feld der Freiheit, da konnte er sich ausprobieren, seine Polystilistik, seine Klangmischungen und anderes mehr testen. Auch seine andere Musik ist von diesen Erfahrungen mit dem Film geprägt: Montagen, Überblendungen, das Nebeneinanderstellen verschiedener Klangereignisse, nichtlineares Erzählen, abrupte Schnitte." Weitere Eindrücke vermittelt dieser Werbefilm:



Besprochen werden das neue Album der Red Hot Chili Peppers (Tsp, Presse, online nachgereicht von der FAZ), eine Aufnahme von Georg Muffats "Armonico Tributo" vom Concerto Copenhagen unter Lars Ulrik Mortensen (Welt) und ein Auftritt von Hélène Grimaud in der Alten Oper Frankfurt (FR).
Archiv: Musik