Efeu - Die Kulturrundschau

Die Metzel-Maschinerie

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16.07.2022. Die FAZ fragt, ob der Kunstbetrieb wirklich antisemitisch ist oder nur opportunistisch. Ebenfalls in der FAZ flucht die libanesische Schriftstellerin Alawiya Sobh über die Misogynie in den arabischen Ländern. Die NZZ würde auch gern mal Kunst von Frauen wiederentdeckt sehen, die nicht laut und herrisch auftraten. Die Nachtkritik verzichtet bei den Wormser Nibelungen-Festspielen nur zu gern auf einen weiteren Bitch-Fight. Der Filmdienst spürt der melancholisch zögerlichen Lust am Dasein nach, die ihr die Filme von Claude Sautet bescherten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Nicht nur auf der Documenta, sondern im gesamten Kunstbetrieb hat Israel die USA als imperialistischer Hauptgegner abgelöst, glaubt Claudius Seidl in der FAZ und sieht anti-israelische Diskurskunst und BDS-Sympathien überhand nehmen: "Aus der Sicht des sogenannten globalen Südens ist die Gleichsetzung Israels mit einer Kolonie und der Palästinenser mit einem gemarterten, gefolterten, seiner Kultur und Traditionen beraubten, unterdrückten Volk zwar falsch, womöglich aber gerade noch verständlich." Aber was bringt den europäischen und amerikanischen Kunstbetrieb dazu, sich dem anzuschlißen, fragt Seidl: "Ist das der Konformismus und Opportunismus eines Kunstmilieus, das, schon mangels eigener Substanz, sich eben der geistig-politischen Richtung anschließt, die es für die dominante hält? Ist es der Reflex einer antiimperialistischen Linken, die ohne das scharf konturierte Feindbild Israel die Übersicht verlöre? Oder sind es die Restbestände eines einheimischen Antisemitismus, der in den vergangenen Jahrzehnten nur eingeschlafen, aber nicht verschwunden war?"

In der FR weiß Lisa Berins auch nicht recht weiter mit der Documenta: "Kulturstaatsministerin Claudia Roth klopft schon seit einiger Zeit an die Tür. Sie hat einen Fünf-Punkte-Plan ausgearbeitet, der im Kern eine grundlegende Strukturreform vorsieht und mehr Einfluss des Bundes bei Entscheidungen fordert. Im Notfall könnte auch der Geldhahn zugedreht werden. Der Bund fördert die Ausstellung nach wie vor mit 3,5 Millionen Euro, hatte sich mit der Bundeskulturstiftung aber 2018 aus dem Aufsichtsrat der Documenta zurückgezogen ... Die Idee, dass der Bund in Zukunft stärker mitmischen könnte, war bisher nicht nach dem Geschmack des Kasseler Oberbürgermeisters und Documenta-Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Geselle (SPD). "

Sollte auch wiederentdeckt werden: Marietta Robusti, Tintorettos Tochter: Selbstbildnis, um 1580 / Uffizien.

Schön, dass der Kunstbetrieb sich wieder für die Werke von Frauen interessiert, meint Sarah Pines in der NZZ, aber warum eigentlich nur für feministische Kunst? Seltsamerweise gibt es mindestens genauso viele Künstlerinnen - in der Gegenwart wie aus der Vergangenheit -, die überhaupt keine Aufmerksamkeit finden. Sie stauben weiterhin vor sich hin, weil sie anders als etwa Frida Kahlo oder Louise Bourgeois keine 'feministische' Kunst gemacht haben. Was ist mit dieser grauen, unbekannten, unbeliebten Masse übersehener Frauen? Sie schaffen keine 'weibliche Kunst' im Sinn von Peniskunst und tigern damit nicht laut und herrisch durch die Kunst- und Intellektuellenszenen."

Besprochen wird eine Ausstellung der norwegischen Künstlerin Lene Berg in der Kunsthalle Bergen (FR).
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Film

Mit reger Freude liest ein vom Filmdienst allerdings unterschlagener Rezensent (F D?) die deutsche Ausgabe des ursprünglich in den 90ern von Thierry Fremaux konzipierten Gesprächsbands "Regisseur der Zwischentöne" mit Claude Sautet. Lange galt Sautet verfemt als bourgeoiser Erfolgsregisseur - von solchen filmpolitischen Konfliktlinien frei kann man seine Filme heute aber problemlos auch als Cinephiler goutieren. "Worin besteht der Sautet-Touch? Kaum ein anderer Regisseur hat so treffsicher Aussehen, Gedränge und Gehetze, auch das soziale Spektrum sowie die Geräuschkulisse und den Geruch von Brasserien, Cafés oder Restaurants einzufangen bzw. nachzubilden vermocht wie er. Einblicke in die Herstellung solcher Sequenzen gibt das Buch zahlreich und zwar multiperspektivisch, sowohl auf die Darsteller bezogen wie auf die produktiven Besonderheiten einer Ausstattung oder auf produktionstechnische Hindernisse. Die Gespräche zeichnen sich durch sichere Richtungswechsel aus: ein kontinuierliches Hin-und-zurück vom How-To-Do der Werkstatt ins Why-To-Do des philosophischen Boudoir. Denn der 2000 verstorbene Sautet, der sich selbst als 'Bourgeois passioné' sah, wusste dennoch genau zu analysieren, was seine Klasse kennzeichnete: ein fast pathologisches Ineinander von Überschwang und Trauer und eine melancholisch zögerliche Lust am Dasein, die sich permanent an den Widersprüchen des Alltags brach."

Außerdem: Thomas Abeltshauser porträtiert in der taz den argentinischen Musiker Gustavo Santaolalla, der gerade mit seinen oscar-preisgekrönten Filmmusiken auf Tour ist. Sofia Glasl vertieft sich für den Filmdienst in den Schlund des Körperhorrorfilms im Allgemeinen, in dessen Prägung und Auslegung durch David Cronenberg im Besonderen. Kathleen Hildebrand trauert in der SZ um die Figur des strahlend blonden männlichen Hollywoodstars, der von den Leinwänden fast verschwunden zu sein scheint - mit Ryan Gosling als Ken in "Barbie" aber ein Comeback zu erleben verspricht. Mag Großbritannien sich mit Brexit und Johnson auch zusehends in die Misere reiten, die Liebe der Briten zu ihren Stars ist ungebrochen, schreibt Eva Ladipo in der FAZ. Besprochen wird Sophie Hydes "Meine Stunden mit Leo" (SZ).
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Literatur

Lena Bopp spricht für die FAZ mit der libanesischen Schriftstellerin Alawiya Sobh, deren Romane im arabischen Raum fast überall verboten sind - außer in ihrer Heimat, auf die sie dennoch flucht, seit das libanesische Bankensystem durch absurde Wechselkurse sie und alle anderen Menschen in die Armut treibt. Auch in anderer Hinsicht lässt sie an ihrer Heimat kein gutes Haar: Die Beziehung der Frauen zu ihrem Körper etwa ist hier "geprägt von der islamischen Religion, von religiösen Institutionen und sozialen Traditionen, und hier liegt das Problem. Kultur, Institutionen und Gesetze in dieser patriarchalisch-islamischen Gesellschaft perpetuieren die Angst der Frauen vor ihrer Weiblichkeit und ihren Körpern. Es gibt Gewalt gegen Frauen auf allen Ebenen. Auch in meinem Roman werden die Mädchen so erzogen, dass sie ihre Weiblichkeit verfluchen. Aber Basma kämpft, sie konfrontiert ihre Familie damit, ihr Umfeld und alle Ideologien und wird zu einer freien Ballerina, ihr Vorbild ist die deutsche Tänzerin Pina Bausch. Und als ihr Mann, der ein Maler war, liberal und schön, sich der Hizbullah anschließt und sie bittet, sich zu verschleiern und mit dem Tanzen aufzuhören, verlässt sie ihn."

In Frankreich ist "Guerre" erschienen, ein Roman aus dem Konvolut von Louis-Ferdinand Célines Manuskriptseiten, die vergangenes Jahr überraschend aufgetaucht sind. Die Zeit hat Gero von Randows Rezension online nachgereicht - dem Kritiker wurde durchaus anders beim Lesen. Auf Célines berüchtigten Antisemitismus stößt man hier zwar noch nicht, aber es verdeutlicht sich, "warum sein Autor, ein Pazifist und Armenarzt, in den Sumpf einer Vernichtungslehre sinken konnte. Es ist, auf den ersten Blick, ein Buch voller Gewalt. Wie in den meisten Romanen Célines bilden eigene Erlebnisse die Basis des Stoffs, über der sich freilich ein eigener, verrückter, ins Phantasmagorische reichender Überbau erhebt. Schlüsselerlebnis ist der Erste Weltkrieg, in dem der Autor 1914 verwundet wurde. Später schrieb er in einem Brief: 'Ich habe tausend Seiten Albtraum auf Lager.' In 'Guerre' geistern diese Träume umher, blutig, grausig, ekelerregend. Triggerwarnungen vor 'Guerre' könnten Seiten füllen." Zu erleben ist "eine Wut der Verzweiflung. Céline verzweifelt an den Menschen, noch im größten Furor über die verrottete Gegenwart zeigen sich Spuren enttäuschter Liebe. Alles nur scheiße, wo doch alles schön sein sollte. "

Weitere Artikel: In der NZZ referiert Karl Corina Robert Musils Tabakkonsum. Im Standard plaudert der Schriftsteller Dirk Stermann über seinen neuen Roman.

Besprochen werden unter anderem Stephan Leopolds "Zusammenbruch und Erinnerung. Prousts Recherche" (FR), Catherina Meurisses Comic "Nami und das Meer" (taz), Ann Petrys "The Narrows" (online nachgereicht von der FAZ), Claudia Schumachers "Liebe ist gewaltig" (taz), Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (Zeit), Michail Prischwins "Tagebücher, Band II. 1930 bis 1932" (NZZ), Peter Swansons Krimi "Acht perfekte Morde" (TA) und George Saunders' "Bei Regen in einem Teich schwimmen" (FAZ).

Die FAZ bringt ein Gedicht aus Charkiw des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan:

"Irgendwas bekommst du sicher zurück,
wenn so viel weggenommen wird.
Etwas bekommst du, den plötzlichen Eindruck des Abschieds.
..."
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Bühne

Kein Bitch-Fight: Roger Vontobels Inszenierung "hildensaga" bei dem Wormser festspielen. Foto: David Baltzer


Sehr schön findet Nachtkritiker Steffen Becker, wie Regisseur Roger Vontobel bei den Wormser Festspielen die Nibelungensaga auf den heutigen Stand gebracht hat. Auch auf den heutigen Sound steigt er voll ein: "Vontobel setzt 2022 auf die Linie. Mehr Saga, weniger Show und Stars, die gelangweilt in den Kulissen die Tantiemen zusammenkehren. Dafür fährt er eine junge Truppe auf, die heiß darauf ist, Burgund niederzubrennen. Vorrang gibt das Stück von Ferdinand Schmalz - 'hildensaga. ein königinnendrama' - dabei den Frauen. Für Schmalz ist es nicht der Bitch-Fight zwischen Brünhild und Kriemhild auf den Domstufen: Wer das Gotteshaus zuerst betreten darf, setzt die Metzel-Maschinerie in Gang. Er setzt drei Nornen ein - Schicksalsgöttinnen im Stil von tätowierten Undercut-Vokuhila-Babes - die den Faden viel früher aufgreifen: Beim ersten Besuch von Siegfried auf Island. Er freit Brünhild, sie ist bereit. Sie legen ihre inneren und äußeren Rüstungen ab." Alles klar?

Weiteres: In der FAZ sieht Rüdiger Soldt Anzeichen dafür, dass Stuttgart die geplante Sanierung seiner Staatsoper aufgeben könnte, nachdem eine neue Kostenschätzung auf zwei Milliarden Euro gekommen ist. In der Welt schwant Jakob Hayner Ungeheures, da jetzt auch das Berliner Ensemble über die Agentur The Impact Company seine Inszenierung vorab auf anstößige Inhalte prüfen lassen möchte.

Besprochen werden Tatiana Gürbacas Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" in Schwetzingen ("knackig und knallfrisch, freut sich FR-Kritikerin Judith von Sternburg) Łukasz Twarkowskis litauisches Tanzprojekt "Respublika" in München (SZ) und Verdis "Nabucco" im Steibruch von Sankt Margarethen (Standard).
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Musik

Das neue Lizzo-Album "Special" verdient "alle Liebe der Welt", schwärmt Juliane Liebert auf ZeitOnline und verneigt sich vor der Fähigkeit des Popstars, sich im Pop einfach durchzusetzen - als übergewichtige schwarze Frau, deren Musik gerade nicht nach dem Prinzpip "size matters" funktioniert. Lizzos Stücke haben "kaum drei Minuten Umfang", sie sind "mal funky, mal trap-groovy, großzügig mit Soul überzogen - aber ein wenig zerzaust bleiben sie doch. Die Pailletten, sie sind aus gepuffter Black-Music-Geschichte, problemlos genießbar. ... So gute leichte Musik muss man erst mal hinbekommen." Auch die neuen Stücke "wirken rundum heilend und sind als Feier unseres Überlebens angelegt". Auch Tagesspiegel-Kritikerin Nadine Lange hat ungebremst viel Freude an dem Album.



Außerdem: Im Standard schreibt Karl Fluch ein Kurzporträt von Steve Jordan, der zwar Beatles-Fan ist, aber seit Charlie Watts' Tod bei den Rolling Stones nicht mehr nur zur Aushile am Schlagzeug spielt. Adrian Schräder resümiert in der NZZ das Gurtenfestival in Bern, wo unter anderem Arlo Parks und Megan Thee Stallion auftraten. Kristof Schreuf berichtet in der taz vom Festakt zu Ehren des Berliner Subkultur-Originals Klaus Beyer. Judith Liere (ZeitOnline) und Micky Beisenherz (SZ) füllen das Sommerloch mit Gedanken über eine Provinzposse um einen Kirmessong.

Besprochen werden eine Ausstellung in Berlin über die Geschichte der Roten Kapelle (BLZ), Shirley Davis' Auftritt beim Rheingau Musik Festival (FR), Jeshis Debütalbum "Universal Credit" (Jungle World), Volker Hagedorns Buch "Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900-1918" (NMZ), Jörn Peter Hiekels Buch "Bernd Alois Zimmermann und seine Zeit" (NMZ), der Auftakt des Berliner Wassermusikfestivals mit einem Auftritt von Kumasi (Tsp) und eine Luxusausgabe zweier Konzertaufnahmen von Bill Evans aus dem Jahr 1970 (NMZ).
Archiv: Musik