Efeu - Die Kulturrundschau

Kein Drache! Nirgends. Skandal!

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04.08.2022. Die NZZ erzählt, wie Vitra und Sanaa Architekten das Umbrella House des japanischen Architekten Kazuo Shinohara retteten. Die Presse lernt von Dóra Maurer, wie man in der ungarischen Kunst Geometrie versteht. In Bayreuth feiert die Welt Würde, Fülle, Kraft und Glanz des Wagnerschen "Siegfrieds". Die SZ recherchiert, wie das Harry Ransom Center in Texas mit aberwitzigen Geldbeträgen literarische Nachlässe aufkauft. Die FAZ erholt sich von zeitgeistigen Aufregungen beim Festival für Barockmusik im estnischen Haapsalu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.08.2022 finden Sie hier

Bühne

"Kein Drache! Nirgends. Skandal! War aber doch eh schon klar. Auch der Wagnerianer liebstes Wappentier erscheint nicht im neuen 'Siegfried' auf Bayreuths längst hitzeglühend gelbem Hügel." In der Welt zuckt Manuel Brug die Achseln. Muss ja auch mal möglich sein, zumal die Musik im dritten Teil der Wagner-Saga auf dem absoluten Höhepunkt ist, "in ihrer vollen Größe, in Würde, Fülle, Kraft und Glanz. Denn der frisch zum Tetralogie-Master erkorene Cornelius Meister brauchte zwar nicht zwölf Jahre Bedenkzeit, wie Richard Wagner zwischen der ersten und der zweiten Szene des zweiten Aktes, aber doch zwei Opernteile, um sich im mythischen Abgrund auf Betriebstemperatur zu bringen. Jetzt regiert er souverän als Klanglenker und Szenebeherrscher durch die Töne. Man muss sich an die Partitur nicht immer wieder erinnern, sie ist dauerpräsent, lastend, malt Stimmungen aus, die Valentin Schwarz auf der Szene durchaus präzise und musikalisch aufnimmt."

Besprochen werden außerdem Ivo van Hoves Inszenierung von Marieluise Fleißers "Ingolstadt" bei den Salzburger Festspielen (FR), Blanca Lis Tanzstück "Le Bal de Paris" (SZ) und ein "Lohengrin" für Kinder ist in Bayreuth (bei dem sich FAZ-Kritiker Jan Brachmann prächtig amüsiert hat).
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Architektur

Viel Platz auf 55 Quadratmetern unter dem Zeltdach. Kazuo Shinohara, Umbrella House. Foto: Julien Lanoo / Vitra


Das 1972 in Tokio erbaute Umbrella House des japanischen Architekten Kazuo Shinohara sollte eigentlich abgerissen werden. Jetzt steht es dank dem Architekturbüro Sanaa auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein, freut sich Hubertus Adam in der NZZ: "Das Umbrella House entstand im Kontext von Shinoharas Auseinandersetzung mit Tradition und Moderne. Leicht könnte man darum das kleine Gebäude mit seiner Grundfläche von 7,5 auf 7,5 Metern als Inbegriff des japanischen Wohnhauses (miss)verstehen. Doch Shinohara bezog sich nicht auf die Tradition, um deren Repertoire zu wiederholen. Vielmehr war es sein Ziel, das Wohngefühl eines historischen japanischen Hauses in die Gegenwart zu übertragen. ... Die räumlichen Grenzen verschwimmen" dank der fünf Schiebetüren, "das Innere wirkt trotz seiner Wohnfläche von lediglich 55 Quadratmetern erstaunlich großzügig. Dieser Eindruck wird durch das offene Zeltdach noch verstärkt, das unter Verzicht auf eine zentrale Stütze über dem Wohnraum schwebt. Die radiale Anordnung der Deckenbalken war laut Shinohara von Ölpapierschirmen inspiriert. Vorbilder dazu finden sich in der Architektur von Tempelbauten. Shinohara nobilitierte mit dieser Anleihe sein kleines Wohnhaus."

Außerdem: In der taz schreibt Jochen Becker den Nachruf auf den belgischen Architekten Lucien Kroll.
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Kunst

Der Wiener Ringturm, ummantelt von Dóra Maurer. Foto: Hertha Hurnaus / Dóra Maurer


Sabine B. Vogel unterhält sich für die Presse mit der ungarischen Künstlerin Dóra Maurer über deren Kunstwerk "Miteinander", für das sie den Wiener Ringturm mit einem 4.000 Quadratmeter großen Bild ummantelt hat. Die Künstlerin, die in Ungarn seit den sechziger Jahren populär ist, arbeitet dabei mit geometrischen Formen. "Durch Josef Hoffmann und die anderen ist Geometrie hierzulande ganz anders aufgefasst worden als in Ungarn, wo sie meist viel einfacher, krasser - und auch mehr als vereinfachte Umschreibung der gesehenen Formen - wahrgenommen wurde. Geometrie wurde in Ungarn sozusagen falsch verstanden, als Erweiterung des Kubismus. ... Die Geometrie wurde mit einer Art Verdichtung der Natur verbunden. So hat sie in den 1970er-Jahren auch gewirkt - und wurde neben dem Sozialistischen Realismus geduldet. Das war ein wenig anders als die Konkrete Kunst im Westen." Ihre eigene Kunst habe "mit Dichtung auf eine andere Art zu tun - das Erlebte fügt formale und farbliche Elemente zur Arbeit hinzu, aber nicht wortwörtlich. Auch nicht als etwas Seelisches, sondern eher rhythmisch."

Marta Popidova, Yugoslavia. How Ideology Moved Our Collective Body, 2013. Foto: Manifesta 14 Pristina / Majlinda Hoxha 


Jörg Häntzschel besucht für die SZ die "Manifesta" im kosovarischen Prishtina, wo der Krieg noch allgegenwärtig ist: "Überall im Grand Hotel wie auch an den anderen Ausstellungsorten wird das Erbe des Kriegs verhandelt, die Migration, die überhitzte Geschichte des Landes. Eine brillante Einführung gibt das Video von Marta Popidova, die mit Dokumentar-Footage aus den Jahren 1945 bis 2000 erzählt, wie das Patchwork-Land Jugoslawien durch Rituale, Ikonografie und ideologische Beschwörung zusammengehalten wurde - bis es zerfiel. Es ist eine großartige Revue von Sport-Wettkämpfen, Paraden und nationalen Großereignissen, allen voran dem Begräbnis von Tito."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Dissonance. Platform Germany" im Berliner Künstlerhaus Bethanien (BlZ), Ausstellungsstücke aus dem St. Pauli Museum des Fotografen Günter Zint im Museum Lüneburg (taz) und eine Ausstellung des Comiczeichners Chris Ware in der Bibliothek des Centre Pompidou (FAZ).
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Literatur

"Ich scheiß' Dich sowas von zu mit meinem Geld", sagte Mario Adorf einst in "Kir Royal". Im aktuellen Run auf literarische Vor- und Nachlässe dürfte eine ähnliche Mentalität herrschen, wenn man Carlos Spoerhases Darlegungen in der SZ folgt. Insbesondere das durch Ölsteuern und private Zuwendungen gut betuchte Harry Ransom Center in Texas legt aberwitzige Beträge hin, um sich alles unter den Nagel zu reißen, was namhafte Autorinnen und Autoren mit Text belegt haben. "Da die Preise allein aber nicht schon die langfristige Reputation der Autoren garantieren, müssen die Archive selbst große Anstrengungen unternehmen, um den Wert ihrer kostspieligen Investitionen zu erhalten: Die Nachlässe werden aufwendig erschlossen und in Ausstellungen präsentiert, die nicht selten neben Manuskripten und Schriftutensilien auch Kleidungsstücke und Einrichtungsgegenstände zeigen. Dabei findet eine für das Nachlasswesen typische Feier des Flüchtigen statt: Auch Einkaufslisten oder Wäschezettel sollen Aufschluss über das Schaffen des Autors geben. So wird eine enge Verbindung von alltäglichem Leben und künstlerischem Werk nahegelegt, die dann von Literaturwissenschaftlern untersucht wird. Da dieser hohe Aufwand nur für wenige Autoren betrieben werden kann, neigt das Nachlasswesen dazu, bereits bestehende Ungleichheiten in der kulturellen Aufmerksamkeitsökonomie zu verstärken."

Weiteres: Für die Zeit spricht Katrin Hörnlein mit der Autorin Angeline Boulley, die im Alter von 55 Jahren mit einen für Jugendliche verfassten Thriller ihr Debüt vorgelegt hat, in dem sie besonders auf die Lage der indigenen Bevölkerung der USA blickt.

Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Unterwegs nach Chevreuse" und Georges Perecs "Lieux" (NZZ), Verena Roßbachers "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" (SZ), Wlada Kolosowas "Der Hausmann" (BLZ) und Maria Edgeworths nach 220 Jahren erstmals auf Deutsch vorliegender Roman "Belinda" (FAZ).
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Film

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Der neue "Batgirl"-Film hat den Produzenten bei Warner offenbar so gut gefallen, dass sie ihn ganz für sich alleine behalten wollen. Der für irgendwas zwischen 70 und 90 Milionen Dollar bereits abgedrehte und nahezu fertig produzierte Film soll weder im Kino, noch auf Streamingplattformen zu sehen sein. "Laut Warner Brothers lag es nicht an der Qualität des Films, sondern am fehlenden strategischen Platz dafür", weiß Kathleen Hildebrand in der SZ mutmaßlich nach der Lektüre dieses Variety-Artikels. Man wolle "weg von der Priorisierung des Streamings und zurück zu prestigeträchtigen Blockbuster-Filmen, die im Kino gezeigt werden. 'Batgirl' allerdings wurde in strategisch anderen Zeiten geplant, als Warner exklusive Filme für seinen Streaming-Dienst HBO Max wollte. Auf kleine Bildschirme angelegt, kann er in puncto Spektakel wohl nicht mit den ganz großen Filmen mithalten. ... Zu klein fürs Kino, zu groß fürs Streaming." Die New York Post allerdings hat von miserablen Testvorführungen erfahren, die womöglich doch ausschlaggebender für diese Entscheidung gewesen sein dürften. Dass der Film irgendwann doch noch einmal ans Tageslicht kommen wird, kann sich Gerrit Bartels vom Tagesspiegel gut vorstellen: "Künstlerische Projekte wie diese, die unvollendet sind, verschwinden oder zensiert werden, von wem auch immer, wecken Begierden und bekommen eine ganz eigene Aura."

Gar nicht wohl wird David Steinitz von der SZ bei dem Ausblick darauf, dass im kommenden Herbst mit Amazons "The Rings of Power" (aus dem Tolkien-Universum) und HBOs "House of the Dragon" (aus dem "Game of Thrones"-Universum) gleich zwei Prestige-Blockbuster-Serien aus dem Fantasy-Genre mit völlig irrwitzigen Budgets ins Rennen um die Publikumsgunst gehen: Im Goldenen Zeitalter der Serien herrscht Abendstimmung, findet er. Noch vor kurzem "verordnete sich fast jeder Streamingdienst und jeder Sender eine Originalitätspflicht." Doch im jetzigen Szenario "klingt alles nicht mehr nach Innovation, sondern nach Copy-and-paste. Und damit nach dem Hollywoodkino der Gegenwart, wo Filme schon lange keine Kunst mehr sind, sondern 'content'. Kunst verunsichert Aktionärsnerven. 'Content' beruhigt Aktionärsnerven - zumal wenn er auf bereits existierendem 'content' beruht." Und dann hat man auch noch No-Names für die Arbeit verpflichtet: "Das macht man eher nicht, wenn man seinen Künstlern die Freiheit geben will, sich auszutoben, sondern wenn man sie an der kurzen Leine halten will."

Außerdem: In der SZ plaudert Tobias Kniebe mit den Produzenten Philipp Käßbohrer und Matthias Murmann, die gerade mit der Serie "King of Stonks" und der Komödie "Buba" auf Netflix durchstarten. Arno Widmann (FR) und Sarah Pines (NZZ) erinnern an Marilyn Monroe, die vor 60 Jahren gestorben ist. Andreas Busche erzählt im Tagesspiegel von seinem Treffen mit dem Schauspieler Brian Tyree Henry, der in der Actionkomödie "Bullet Train" als Widersacher von Brad Pitt zu sehen ist.

Besprochen werden die Actionkomödie "Bullet Train" mit Brad Pitt nach dem gleichnamigen Roman von Kotaro Isaka (FR, taz), Kiyoshi Kurosawas "To the Ends of the Earth" (Perlentaucher), Vincent Maël Cardonas "Die Magnetischen" (Perlentaucher), Régis Roinsards gleichnamige Verfilmung von Olivier Bourdeauts Roman "Warten auf Bojangles" (taz), die DVD-Ausgabe von Dario Argentos "Dark Glasses" (taz, unsere Kritik hier) und die Netflix-Komödie "Buba" mit Bjarne Mädel (SZ, FAZ, ZeitOnline). Außerdem informiert uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche wirklich lohnen und welche nicht.
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Musik

In Haapsalu an der estnischen Ostseeküste, wo einst schon Tschaikowksy Urlaub machte, macht FAZ-Kritiker Max Nyffeler beim Festival für Barockmusik Urlaub vom skandalgeprägten Festivalbetrieb westeuropäischer Façon: Hier geht es auch ohne die "obligate Begleitmusik von MeToo-Klagen, Angriffen theoriebewehrter Kunstbanausen auf die Hochkultur und unersprießliche Sponsorendiskussionen. ... Dass die zeitgeistigen Aufregungen ausbleiben, liegt wohl daran, dass man hier nicht mit dem Musikbusiness verfilzt ist und, in Reichweite russischer Kurzstreckenraketen, weiß, dass es wichtigere Themen als Wokeness gibt." So "ließen im Schlusskonzert mit dem englischen Vokalensemble Tenebrae Consort die Klagelieder des Jeremias des Renaissancekomponisten Thomas Tallis über die verwüstete Stadt Jerusalem unwillkürlich an gegenwärtiges Geschehen denken. Die Halle der festungsähnlichen Domkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert war der ideale Resonanzraum für die gewaltige Komposition, die mit nur fünf Solisten zu größtmöglicher Wirkung gebracht wurde."

Außerdem: Michael Stallknecht überlegt in der SZ, wie man mit Apps und ähnlichem ein junges Publikum fürs klassische Konzert und die Oper begeistern könnte - einen guten Anfang macht seiner Meinung nach schon mal das Münchner Nationaltheater, das seine Stufen vor dem Haus zum sommerabendlichen Treffpunkt mit Bewirtschaftung umgewidmet hat. Frederik Hanssen wirft für den Tagesspiegel einen Blick hinter die Kulissen des Berliner Festivals "Young Euro Classic". Christian Schachinger freut sich im Standard auf ein Konzert von Mdou Moctar.

Besprochen werden Leonhard Hieronymis Buch "Trance" über die Frühgeschichte der Frankfurter Clubkultur (taz), die Memoiren des Musikproduzenten Chris Blackwell (NZZ), Iso Camartins Buch "Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb" (online nachgereicht von der FAZ), das Berliner Konzert der Rolling Stones (Tsp) und das neue Beyoncé-Album (Pitchfork, mehr dazu bereits hier und dort).

Archiv: Musik