Efeu - Die Kulturrundschau

Dem Fragilen kannst du trauen

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02.09.2022. Die SZ besucht Wolfgang Tillmans, der demnächst 1.800 Quadratmeter Ausstellungsfläche im Moma bespielen wird. Der Tagesspiegel taucht ein in das informelle Universum des ukrainischen Künstlers Fedir Tetyanych. Das Zeit-Magazin porträtiert den Designer von Balenciaga, Demna Gvasalia, als unperfekten Messias. Die Welt wird in Venedig Zeuge, wie Lars von Trier die Gesetze der Schwerkraft aushebelt. Die FAZ erliegt beim Musikfest Berlin der Zärtlichkeit der Tenöre in Beethovens "Missa solemnis". Die nmz lässt sich auf der Ruhrtriennale Sarah Nemtsovs Kammermusik um die Ohren fliegen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2022 finden Sie hier

Bühne

"Haus" von Sarah Nemtsov bei den Ruhrfestspielen. Foto © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2022


Als "musiktheatrale Raumperformance" würde ein nicht unbeeindruckter Joachim Lange in der nmz die Uraufführung von Sarah Nemtsovs "Haus" auf der RuhrTriennale beschreiben. Oder auch als "eine Art aus der Form geratene, in einer Halle explodierende Kammermusik umschreiben. Vier instrumentale Solisten, Laurent Bruttin (Klarinette), Valeria Kafelnikov (Harfe), Susanne Peters (Flöte) und Jonathan Shapiro (Perkussion), versuchen immer wieder, in der Verfremdung durch Elektronik und Synthesizer für die Sebastian Berweck sorgt, den Ton anzugeben und die Richtung des Klangstromes zu bestimmen. Aus diesem Wechselspiel entsteht eine ganz eigene, den Raum füllende und jeden - zunächst sich frei im Raum bewegenden - Zuschauer umspielende, packende Wirkung."

Weiteres: Im Standard überlegt Stephan Hilpold, wer Nachfolger von Burgtheaterdirektor Martin Kušej werden könnte, falls dessen Vertrag nicht verlängert wird. Besprochen werden außerdem Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Sturm" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Benny Claessens Weltuntergangs-Disco "White Flag" im Zürcher Theater Neumarkt (nachtkritik).
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Musik

Sehr glücklich kam FAZ-Kritiker Clemens Haustein aus der von John Eliot Gardiner dirigierten Aufführung von Beethovens "Missa solemnis" beim Musikfest Berlin. Ihm "stockt einem der Atem", etwa darüber, "wie abgrundtief sich bei Gardiner das Loch der Vergangenheit auftut beim 'ante omnia saecula', dem 'vor aller Zeit' des 'Credo', in tiefer Lage nur mehr geflüstert von den Männerstimmen; wie ungeheuerlich schließlich die Zärtlichkeit, die aus den Tenören spricht beim 'et incarnatus'. John Eliot Gardiner ist nicht nur ein Kenner der menschlichen Stimme, sondern auch einer der menschlichen Gefühlswelt. Wie er sein Wissen an die Ensembles, den Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, weitergibt, dass es sich dem Hörer am Ende präzise mitteilt, das wird mit viel konzentrierter Arbeit zu tun haben, vielleicht auch mit einem Stück Magie." Tye Maurice Thomas bespricht den Abend im Tagesspiegel. Eine Aufzeichnung der Aufführung finden Sie bis zum 11. September hier.

Weiteres: Der russische Rockmusiker Boris Grebenschtschikow spricht in der NZZ mit Ueli Bernays unter anderem über die Lage russischer Musiker im In- und Ausland - er singe nur noch "für ein russisches Publikum im Ausland", meint er verzweifelt. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über die besten Yeahs der Musikgeschichte.

Besprochen werden die Compilation "Sleepers.Poets.Scientists" mit neuen Arbeiten aus der georgischen Elektronikszene (taz), Julia Jacklins Album "Pre Pleasure" (Tsp) und Volker Hagedorns Buch "'Flammen'. Eine europäische Musikerzählung 1900 -1918" (FAZ).
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Design

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Im ZeitMagazin porträtiert Gabriel Proedl Demna Gvasalia, den Chefdesigner von Balenciaga. Mit einer wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine kurzfristig umgewidmeten Show machte er vor wenigen Monaten sehr von sich reden: "Er tauschte manche Looks, entwarf ein Ensemble in Gelb und ein Kleid in Blau, den Farben der Ukraine. Die dröhnende Musik bei der Show erinnerte an einschlagende Bomben, die Models kämpften sich durch den Kunstschnee. Aus einer Klimageschichte wurde innerhalb einer Woche eine Fluchtgeschichte. Kritiker feierten die Show, sprachen davon, dass Balenciaga wieder mal alles richtig gemacht habe. Dass das Ganze eigentlich als Kommentar zur Klimakrise gedacht war und bloß spontan umgemodelt wurde, erwähnte kaum jemand. Die Unsicherheit der Luxusbranche im Umgang mit Krisen und Krieg ist groß, und in Demna hat sie ihren unperfekten Messias gefunden. Weil er es schafft, sich glaubwürdig mit den größten Katastrophen auseinanderzusetzen - und der Branche so vielleicht eine Relevanz zurückgeben könnte, die ihr vielerorts abhandengekommen ist."
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Film

Völlig losgelöst: Lars von Triers "Riget: Exodus"

25 Jahre nach dem Ende der zweiten Staffel hat Lars von Trier seiner TV-Serie "Riget" (hierzulande als "Hospital der Geister" bekannt geworden) endlich eine Fortsetzung gegönnt, die beim Filmfestival Venedig als fünfstündiger Film gezeigt wurde. "Ungeheuren Spaß" hatte Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek bei dem Spektakel und zwar vor allem wegen "der unerbittlichen Konsequenz, mit der Lars von Trier sämtliche Regeln der Logik (und des Serienmachens) souverän missachtet - je länger der Film dauert, desto mehr; irgendwann hebt er sogar für ein paar Minuten die Schwerkraft auf. Es gibt wieder Kräfte des Bösen und des Guten, und irgendwann taucht auch Willem Dafoe auf, von dem wir natürlich sofort vermuten, dass er der Satan persönlich ist."

Im Elfenbeinturm der Kultiviertheit: Cate Blanchett spielt Lydia Tár

Todd Fields Dirigentinnendrama "Tár", für das Cate Blanchett den Taktstock schwingt, wird in Venedig weit besprochen. Erst hat der Film die Presse "elektrisiert" und dann auch noch "gespalten", berichtet Daniel Kothenschulte in der FR - denn Field erzählt eine lesbischen MeToo-Geschichte, besetzt mit zwei heterosexuellen Darstellerinnen. Das "steht in Konflikt zu Diversitätsvorgaben - die selbst heftig umstritten sind. Ebenso zu erwarten sind Einwände gegen eine solche Handlungskonstruktion aus der Feder eines männlichen Filmemachers. Doch schon in der ersten Szene lässt Field keinen Zweifel daran, dass wir es eben mit nichts anderem als einer Konstruktion zu tun haben. Ähnlich Ruben Östlunds Satire 'The Square' zielt dieser Film auf einen elitären, scheinheiligen und von kommerziellen Interessen bestimmten Kulturbetrieb, der Verfehlungen begünstigt. ... Dieser verstörend-faszinierende Film gerät nie in Realismus-Verdacht. Und das sollte ihn vor schematischer Ablehnung schützen."

Für eine "scharfzüngigen Anti-Wokeness-Tirade" der Hauptfigur gab es gar Szenenapplaus in der Pressevorführung, erzählt Andreas Busche im Tagesspiegel. Doch "man tut Todd Field mit dem Applaus Unrecht (nicht hingegen Blanchett für ihre Szene), denn so eindeutig outet sich der Regisseur nicht als konservativer Kulturkämpfer, im Gegenteil. 'Tár' ist eine fast atemlose Studie von toxischen Machtverhältnissen, in einem Milieu, das sich viel auf seine Kultiviertheit einbildet. ... Wie Field dieses Leben im Elfenbeinturm in langen, unterkühlten Einstellung umzirkelt, hat eine geradezu hypnotisierende Wirkung." Weitere Besprechungen in taz und FAZ. Außerdem bespricht Rüdiger Suchsland auf Artechock den Eröffnungsfilm, Noah Baumbachs "White Noise" (mehr dazu hier).

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Peter von Becker eine Marcello-Mastroianni-Reihe im Berliner Kino Arsenal. Auf Golem erinnert Peter Osteried an Luc Bessons SF-Film "Das fünfte Element", der vor 25 Jahren in die Kinos kam und einer der letzten Spektakelfilme war, der noch beinahe ohne CGI auskam.

Besprochen werden Ryusuke Hamaguchis "Das Glücksrad" (Zeit, Tsp), Philipp Kadelbachs für Sky entstandene Serie "Munich Games" (Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek lässt sich einfangen "von den schwarzen Wolken, die sich mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie zusammenbrauen"), George Millers "Three Thousand Years of Longing" mit Idris Elba und Tilda Swinton (Standard, Artechock), Doris Dörries "Freibad" (ZeitOnline, Artechock), Travis Tautes "Indemnity" (Artechock) und die Amazon-Fantasyserie "Ringe der Macht" (FAZ, taz).
Archiv: Film

Literatur

Gloria Naylor, Foto: Tom Keller
Im Perlentaucher stellt Angela Schader in ihrem "Vorwort" die Autorin Gloria Nayor vor und ihre Tetralogie über afroamerikanisches Leben in den USA, mit der sie ihre eigene Sprache fand: "Die konzentrische Anlage, die der Autorin für die vier Bücher vorgeschwebt hatte, lässt sich noch ungefähr ausmachen. Brewster Place ist eine heruntergekommene Sackgasse, Linden Hills ein von arrivierten Afroamerikanern besiedeltes Quartier in derselben, namenlos bleibenden Stadt. 'Mama Day' misst größere Distanzen aus, spielt teils in New York und teils auf der fiktiven, zwischen South Carolina und Georgia vor Amerikas Ostküste gelegenen Insel Willow Springs. Wo die beiden ersten Romane vor allem auf gesellschaftliche Milieus fokussierten, bettet die Schriftstellerin die tragische Liebesgeschichte im Zentrum dieses dritten Werks in eine farbenreiche Auseinandersetzung mit dem Magischen und Übernatürlichen. Solche Praktiken, oft mit traditioneller Heilkunst verbunden, hatten ihre Eltern im Süden noch miterlebt... 'Bailey's Café' schließlich steht mit seiner Reihe eindringlicher, mehrheitlich Frauen gewidmeter Porträts in direkter Nachfolge der 'Women of Brewster Place', ist aber aus jeder lokalen Verankerung gerissen. Das Café ist ein schwebender, von Jazz und Blues durchwehter Ort, überall und nirgends zu finden; seine Tür öffnet sich allein jenen, die sich - wo auch immer - mit letzter Mühe 'am Rand der Welt' festklammern." Dazu gibt's eine Leseprobe aus Nayors Roman "Linden Hills".

Weitere Artikel: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im Zeit-Interview erzählt der Schriftsteller Thomas Melle von seiner letzten manischen, nun von einer Depression abgelösten Phase. Elke Heidenreich ärgert sich, dass ihr neuer Memoir von der Redaktion des Buchreport nicht als Literatur, sondern als Sachbuch in den Bestsellerlisten einsortiert wurde, berichtet Felix Stephan in der SZ. In der SZ verrät der Schriftsteller Christian Baron, was er gerade liest. Maximilian Benz schreibt in der FAZ zum Tod des Literaturwissenschaftlers Werner Röckes. Außerdem erzählt die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt der SZ von ihrer schlimmsten Lesung.

Besprochen werden unter anderem Michel Friedmans "Fremd" (FR), Gabriele Climas "Der Geruch von Wut" (Tsp) und Friedrich Christian Laukhards "Meine Kampagne in Frankreich" (SZ).
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Kunst

Fedir Tetyanych, Ausstellungsansicht


Das Center for Contemporary Arts in Berlin zeigt derzeit eine Ausstellung des 2007 verstorbenen ukrainischen Künstlers Fedir Tetyanych, der viele Zutaten für seine Werke auf dem Müll fand. Ob er von den kommenden Umbrüchen schon etwas ahnte, fragt sich im Tagesspiegel Christiane Meixner. "Der Künstler, den hierzulande nur wenige kennen, scheint sich über die Zeit zu wandeln. Nach seiner Zeit an der Staatlichen Kunstschule in Kiew widmete sich der 1942 Geborene der monumentalen, dekorativen Wandgestaltung öffentlicher Orte. Doch schon im Studium ödete ihn jede Form von Realismus an. Seine Motive entwickelte Tetyanych aus der informellen Malerei, die Bilder balancieren zwischen Figuration und einer abstrakten Kosmologie. Im CCA hängt nur ein großes Gemälde, doch 'Universe - Infinity' aus den siebziger Jahren vermittelt mit zarten Kreisformen, die sich um ein dunkles Nichts in der Bildmitte organisieren, wie sich Unendlichkeit für Tetyanych angefühlt haben mag: organisch, zärtlich und untrennbar mit dem eigenen Bewusstsein verwoben."

Der Fotograf Wolfgang Tillmans arbeitet gerade an einer großen Einzelausstellung - auf 1800 Quadratmetern! - im New Yorker Moma, die am 12. September eröffnet wird. Catrin Lorch hat ihn für die SZ in seinem Kreuzberger Atelier besucht, wo er an der Hängung bastelt. "Die Hängung für das MoMA, die reflektiert nicht einfach retrospektiv, was da ist. Sondern denkt auch mit, wie alt die Besucher sein werden. 'Viele, die das jetzt sehen, waren in den Neunzigerjahren noch gar nicht geboren', sagt er vor einem Motiv, das ein gewaltiges Banner zeigt, es stammt aus den frühen Neunzigern und dokumentiert den Kampf ums Abtreibungsrecht in den USA. Dass solche historischen Motive unmittelbar wirken, hat auch mit der Präsentation zu tun, Tillmans besteht darauf, seine - inzwischen kostbar gewordenen - Abzüge mit Klebeband und Klammern direkt auf die Wand zu hängen, ohne Rahmen, ohne Schutzglas. ... Er wollte versichern: 'Dem Fragilen kannst du trauen.'"

Viel Tinte wird vergossen über die #metoo-Vorwürfe gegen den Galeristen Johann König. Bewiesen werden kann nichts, konstatiert Ursula Scheer in der FAZ. Zufrieden kann sie das nicht stellen: "Die gleichfalls in der Zeit lancierten, viel schwereren Anschuldigungen gegen Dieter Wedel haben gezeigt, dass alles, was nicht abschließend rechtsfest geklärt ist, im Raum bleibt als anhaltendes Raunen. Die Geschicke der Galerie König könnten sich daran entscheiden, wie das Hörensagen wirkt: abseits der Justiz, als Macht auf einem Markt, der nicht alles allein regeln sollte." Im Standard erinnert Katharina Rustler: "Es gilt die Unschuldsvermutung." Außerdem schreiben dazu Philipp Meier in der NZZ, Christian Gehrke in der Berliner Zeitung und Christiane Meixner im Tagesspiegel.

Weiteres: Wanda Wolf annonciert in der Berliner Zeitung die Berlin Photo Week, die heute beginnt. Besprochen werden die Ausstellung "Kunst nach der Shoah" mit Werken von Wolf Vostell und Boris Lurie im Kunsthaus Berlin-Dahlem (FR), Julian Rosefeldt Filminstallation "Euphoria" auf der Ruhrtriennale (taz) und die Donatello-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie (FAZ)
Archiv: Kunst