Efeu - Die Kulturrundschau

Alles freudlos und aschgrau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2022. Die FAZ bewundert die glamouröse Tilda Swinton in einer Mode-Performance mit  Kostümen aus Pasolini-Filmen. Ebenfalls in der FAZ erinnert sich Christoph Ransmayr an eine Reise mit Enzensberger in den Kernschatten des Mondes. Die Jungle World verabschiedet sich nach elf Staffeln "The Walking Dead" vom Zombiefilm, der nur noch resignative Utopien formuliere. Und dem Standard graut vor Sidos Rückkehr auf den Rap-Dampfer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Swinton in Laura Bettis scharlachroter Robe aus den Erzählungen von Canterbury
FAZ-Kritiker Marc Zitzmann hat sich eine jener glamourösen Mode-Performances angesehen, die Tilda Swinton zusammen mit dem Kurator Olivier Saillard in Pariser Industriehallen abhält. Es war nicht die stärkste Revue, räumt Zitzmann ein, aber beeindruckt hat ihn schon, was Swinton mit Kostümen aus Pasolinis Filmen veranstaltete, die sie sich auf der Bühne anzog: "Immer wieder ahmt Swinton eine Geste, eine Mimik nach, nimmt gefrorene Posen an, als transponiere sie Filmstills in die dritte Dimension. Orgelmusik der Renaissance, ein belcantistisches Chopin-Nocturne, Strawinskys 'Histoire du soldat' oder Instrumentalstücke aus Namibia begleiten das spröde Ritual."

Weiteres: In der taz zeigt Chris Schinke Verständnis für die jüdischen Studierenden, die Wajdi Mouawads Ergolgsstück "Die Vögel" als antisemitisch gebrandmarkt und gegen das Münchner Metropoltheater dessen Absetzung  durchgesetzt haben (unser Resümee). Ihm missbehagt, wie hier der Identity-Komplex verhandelt wird: "Ob der Kulturbetrieb einen souveränen Umgang mit der Kritik der Studierendenverbände, die bei ihren Positionen bleiben, findet, wird die weitere Debatte zeigen."

Besprochen werden John Neumeiers Tanzstück "Dona Nobis Pacem" zu Bachs h-Moll-Messe (das dezidiert vor dem Krieg gegen die Ukraine konzipiert wurde, wie Sylvia Staude in der FR betont), Christian Stückls Inszenierung der "Brüder Karamasow" am Münchner Volkstheater ("Alles freudlos und aschgrau. Hartes Theaterbrot", seufzt Christine Dössel in der SZ), Wagners "Lohengrin" an der Bayerischen Staatsoper (Kornel Mundruczós Inszenierung findet FAZ-Kritiker Florian Amort etwas wirr, aber François-Xavier Roths Dirigat durchaus elegant) und Reinhard Keisers Barockoper "Ulysses" in Schwetzingen (FAZ).
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Literatur

Der Schriftsteller Christoph Ransmayr erinnert sich in der FAZ an eine gemeinsame Reise mit Hans Magnus Enzensberger (hier die resümierten Nachrufe) im Sommer 1999, um die Sonnenfinsternis ("Sofi") besser beobachten zu können. Als der "Mond still und unaufhaltsam wie die Nacht selbst vor die Sonne glitt und zunächst alles war wie berechnet und vorhergesagt, wurde alles ganz anders: Als wären wir die einzigen Menschen in dieser Minutennacht gewesen und hätten niemanden gehabt außer uns, weder zum Kämpfen noch zum Lieben, noch zur Hilfe, senkte sich eine eisengraue Dunkelheit herab und mit ihr eine bis an den Zenit reichende Verlassenheit, und es erhob sich ein wie vom Ende der Zeit kommender Wind, der Finsterniswind." So war denn "von den Reisen, die ich im Verlauf von Jahrzehnten mit Magnus gemeinsam machen durfte - durch Europa, an den Polarkreis, nach Nord- und Südamerika oder China -, die Reise in den Kernschatten des Mondes die in die größte Ferne."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In einem Longread für 54books wirft Sebastian Galyga einen Blick auf Verschwörungsglaube in der Literatur. Hannes Hintermeier ärgert sich in einer FAZ-Glosse, dass man in einem großen Münchner Buchkaufhaus zwar gut Kaffee trinken und auch Bücher von Annie Ernaux kaufen kann, aber wenig Lyrik und noch viel weniger Hans Magnus Enzensberger (unser Online-Buchladen Eichendorff21 listet im übrigen um die 1200 lieferbare Lyrikbände).

Besprochen werden unter anderem Yevgenia Belorusets' "Anfang des Krieges" (Standard), Hans Wollschlägers "Briefe 1988-2007" (FR), Andreas Fischers "Die Königin von Troisdorf" (SZ), Sheree Domingos und Patrick Späts "Madame Choi und die Monster" (Tsp), der Band "Botschaft aus der Ukraine" mit Reden von Wolodymyr Selenskyj (taz) und die Erstveröffentlichung von Julius Meier-Graefes in den Dreißigern verfassten Roman "Der Kampf um das Schloss" (FAZ).
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Film

Nur die Harten kommen in das, was vom Garten übrig blieb: "The Walking Dead"

Philipp Böhm verabschiedet sich in der Jungle World mit einem vergifteten Nachruf-Longread von der sich nach elf Staffeln in den Ruhestand verabschiedenden Serie "The Walking Dead", die vom Überleben nach der Zombie-Apokalypse handelt, die ganzen Zehnerjahre hindurch lief und dabei teils Traumquoten erzielte. Dass Zombiefilme einem etwas Grundsätzliches über die conditio humana verraten, wie viele Fan-Kommentatoren nahelegen, kauft Böhm dem Ganzen nicht ab. Die Serie "hätte ein interessantes Korrektiv werden können, doch aus diesen Bildern sprach vielmehr ein relativ abstraktes Unbehagen an Gesellschaft an sich. ... In der Absage an Gesellschaft und an Solidarität jenseits der engen Gemeinschaftsgrenzen beschwört 'The Walking Dead' eine resignative Utopie, indem sie ein simples, vielleicht brutales, aber dennoch funktionierendes Leben in den Ruinen des Kapitalismus behauptet, in dem die Gegenwart weggedrängt wird. Wo alles zusammengebrochen ist und die Menschheit in verfeindete Banden zerfällt, muss man sich auch nicht mehr mit lästigen gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen."

Weiteres: Frankfurter Allgemeine Quarterly spricht mit Greta Gerwig unter anderem über ihre Rolle in Noah Baumbachs (im Tagesspiegel besprochener) Verfilmung von Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen". In der FR spricht Ben Becker über seine Gedanken. Nachrufe auf Kristie Alley schreiben Dietmar Dath (FAZ), Jenni Zylka (Tsp) und David Steinitz (SZ).

Besprochen werden Jeanine Meerapfels essayistischer Dokumentarfilm "Eine Frau" (Tsp), Phyllis Nagys "Call Jane" (Standard), die letzte Staffel von "His Dark Materials" (ZeitOnline), das österreichische Klosterschulendrama "Serviam" von Ruth Mader (Standard) und neue Horrorfilme mit Clowns (Presse).
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Kunst

Michel Majerus, 10 bears masturbating in 10 boxes, 1992, © Michel Majerus Estate, 2022. Courtesy neugerriemschneider, Berlin und Matthew Marks Gallery. Foto: Jens Ziehe, Berlin


Georg Imdahl berichtet in der FAZ von zwei Ausstellungen in Berlin und Hamburg, die an den vor zwanzig Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Luxemburger Maler Michel Majerus erinnern. Obwohl Imdahl die monumentalen Bilder von Majerus schätzt, wundert er sich doch, dass sie zur Sammlung vieler gediegener Museen gehören: Das frühe Werk, ausgestellt in den Kunst-Werken, "ist durch und durch gesampelt, auf Wandel durch Nachahmung programmiert, lädt Vorbilder hoch wie allen voran Frank Stella und Willem de Kooning - Majerus spricht von 'Stellamalerei', seinen 'Ab-Ex-Gesten' (nach dem Abstrakten Expressionismus), vom 'Ryman-Weiß' oder davon, wie er 'richtert' à la Gerhard Richter und als 'Denkpause einen De Kooning malt'.  ... Majerus' in einem kurzen Rausch entstandenes, aber stattliches Werk reißt sich die Appropriation Art der Achtzigerjahre nochmals unter den Nagel und produziert zeitgenössische Malerei über die Gleichzeitigkeit der Medien und Bilder im Datenstrom, übrigens auch über die Leere, den gelegentlichen Systemabsturz. Es gibt in der medialen Welt kein Außen mehr."

Weiteres: Ann Mbuti nähert sich auf ZeitOnline leider recht umständlich der brasilianischen Künstlerin Rosana Paulino, deren Arbeiten "Archetypen weiblicher Weiheit" zeigen und in diesem Jahr auf der Biennale in venedig zu sehen waren. In der FR kapituliert Lisa Berin vor dem Dezember und singt ein Loblied auf die Farbe Grau: "In der Zurückgenommenheit liegt der Reiz."

Besprochen werden die große Guido-Reni-Schau im Frankfurter Städel-Museum (SZ) und eine Schau zu weiblichen Skulpturen des 19. Jahrhunderts im Henry Moore Institute in Leeds (Guardian).
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Musik

Eher etwas genervt ist Standard-Kritiker Christian Schachinger davon, wie Sido gerade zur Promotion seines neuen Albums "Paul", in dem sich der Deutschrapper nach einem Totalabsturz wieder zurückmeldet, "mit dieser Geschichte gerade recht eindrucksvoll die deutschen Medien vollheult. ... Kokain, eine Droge, die man nicht nehmen sollte, um damit Sympathiewerte zu gewinnen, und dazu flaschenweise Schnaps haben schon viele abstürzen lassen." Über diese Abgründe singt Sido unter anderem in "Medizin": "Zu weichgespülten House-Sounds erzählt Sido das alte Lied vom Durchhalten. Die altbekannten Texte werden jetzt allerdings nicht mehr zur Veranschaulichung der eigenen Straßenhärte eingesetzt. Sido rückt seine Verletzlichkeit als neues Persönlichkeits-Tool in den Vordergrund. Andere Titel wie die soft-soulige Psychiatrieballade 'Sterne' wühlen ebenfalls tief im Selbstbezichtigungsgenre." Ansonsten gibt es viel "konsenshiphoppige Allerweltsmusik" zu hören.



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel porträtiert Frederik Hanssen die Sopranistin Fatma Said, die in dieser Saison "Artist in Residence" am Berliner Konzerthaus ist. Nachrufe auf den Stax-Records-Gründer Jim Stewart schreiben Karl Fluch (Standard) und Jakob Biazza (SZ). Besprochen werden ein Konzert des London Symphony Orchestras unter Simon Rattle (FR) und ein Berliner Auftritt von London Brass (Tsp).

Außerdem verkündet Peter Margasak auf The Quietus die zehn besten Jazzalben des Jahres - auf dem ersten Platz befindet sich Mary Halvorson mit ihrem Album "Amaryllis/Belladonna" (mehr dazu hier).

Archiv: Musik