Efeu - Die Kulturrundschau

Predigt im Discoambiente

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2023. Der Standard versteht nicht, warum die Theater unter Publikumsschwund leiden. Sind vielleicht polemische Kritiken daran schuld? Die Welt sekundiert: Bevor man das Theater kritisiert, muss man erst mal hingehen. Die SZ überlegt, ob deutsche Literatur sich im Ausland zu schlecht vermarktet. Die NZZ fragt, ob wirklich ausgerechnet Norman Foster den Wiederaufbau Charkiws planen sollte. Die Musikkritiker trauern um den Gitarristen Jeff Beck, die Modewelt um das Model Tatjana Patitz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2023 finden Sie hier

Bühne

Die Pandemie ist vorbei, aber die Theater immer noch leer (meistens jedenfalls). Woran liegt's? Im Standard hat Margarete Affenzeller darauf auch keine Antwort, denn die Theater bieten ihrer Meinung nach eigentlich alles, was ein Publikum sich wünschen kann. Sie fürchtet vielmehr die Kritiker, "die schon länger Dünkel gegenüber den Entwicklungen der zeitgenössischen Bühnenkunst hegen. Ein irritierender, manchmal erschreckend abfälliger, immer polemischer Diskurs bricht sich derzeit Bahn über die Frage, was Theater (künftig) sein soll, vor allem aber darüber, wie falsch oder gar schädlich der eingeschlagene Weg sei. Die aktuelle Krise wird somit zum Katalysator einer Diskussion über Werthaltungen und Meinungen, eine Diskussion, die an sich begrüßenswert ist, würde sie nicht von populistischen Phrasen dominiert werden, deren Gehalt entweder jeder Grundlage entbehrt oder zumindest fragwürdig bleibt."

In der Welt ist Jan Küveler trotz der sinkenden Besucherzahlen optimistisch: Denn obwohl sich nach einer Umfrage der Uni Hildesheim nur ein Drittel der Bevölkerung fürs Theater tatsächlich interessiert, wünschen sich doch 86 Prozent, dass es weiter gefördert wird. Ein Widerspruch? Küveler ist da nicht so sicher. "Vielleicht klingt im kollektiven Unterbewusstsein auch noch der Satz nach, mit dem Willy Brandt 1972 im Düsseldorfer Schauspiel die Saison eröffnete: 'Theater ist die Schwester der Politik!' So gesehen verhandeln die Bühnen, wenn sie zuletzt arg um sich selbst kreisen, Machtmissbrauch in den eigenen Reihen anprangern oder statt ästhetischer Opulenz das humorlose Klein-Klein identitätspolitischer Debatten anbieten, im besten Fall avantgardistisch, was das Land als Ganzes umtreibt. Vielleicht nicht gerade in den Biergärten, aber in den Universitäten und Parlamenten."

Ariel Ashbel & Friends im Hau. Foto: Joseph Wegmann


Reichlich irritiert kommt Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung) aus einer Performance im Berliner Hau von Ariel Ashbel & Friends, die ein Duett über Gott aus Arnold Schönbergs "Moses und Aron" mit Elektrosound mischen. So weit mag sie noch folgen, doch "bald taucht ein weiterer Performer auf, der Autor Senthuran Varatharajah, der salbungsvoll einen eigenen exegetischen Text zum Exodus vorliest und damit jede spielerische Ebene verlässt. Die Performance wird zur Predigt im Discoambiente, die im Wechsel mit allerlei spektakulären Laserlightshows, Elektroknackeffekten und gefälligen Pop-Gospels eines 'Show Choir' das religiös unbeschlagene HAU2-Publikum mitwippen lässt. ... Jedem Oberhirten müssten Freudentränen kommen."

Weiteres: Alexander Menden trifft für die SZ den Schauspieler André Kaczmarczyk im Restaurant des Schauspielhauses Düsseldorf und spricht mit ihm über die - tatsächlichen und angeblichen - Erwartungen des deutschen Theater- und Fernsehpublikums und die Erfahrungen der dritten "Generation Ost". Besprochen werden "Die große Pension Europa Show" des Aktionstheaters im Wiener Werk X (Standard) und Giuseppe Verdis Oper "Ernani" an der Flandrischen Oper Gent (FAZ).
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Musik

Die Feuilletons trauern um den Gitarristen Jeff Beck. Er "konnte mit der Fender Stratocaster Bomben fallen lassen wie Jimi Hendrix, nur kontrollierter als der geniale Kollege", schreibt Tobi Müller auf ZeitOnline. "Er zog die Saiten auf dem Griffbrett so sicher zum gewünschten Ton hin, dass man oft nicht wusste, ob das noch Bendings sind, ob er den Tremolohebel dazu benutzte oder nur etwas Vibrato auf die Fingerkuppen drückte. Das gelang ihm oft sogar sauberer und doch flirrender als Eric Clapton. Und seine Klangforschungen mit übersteuerten Verstärkern und dazwischen geschalteten Effektgeräten, welche die Riffs des schwarzen Chicago Blues ins psychedelische Zeitalter verlängerten, wurden in England sofort gehört, zum Beispiel von Jimmy Page, der mit Robert Plant die Band Led Zeppelin gründete."



In einer Szene aus Antonionis "Blow Up"ist zu sehen, wie Beck seine Gitarre zertrümmert, erinnert Ueli Bernays in der NZZ. "Die finale Destruktion des Instrumentariums mochte bald zur rituellen Geste der Rockermesse geraten. Jeff Beck aber hatte es eigentlich mehr mit Konstruktion. So kultivierte er im Dialog mit dem Verstärker Echo- und Halleffekte, er nutzte früh schon die Möglichkeiten des Verzerrers und des Vibrato-Hebels." Weitere Nachrufe in Tagesspiegel, Welt und FAZ. Philipp Rießenberger hat für die SZ Reaktionen auf Becks Tod gesammelt.



Die mehrstündigen Aufnahmen auf Kali Malones neuem Drone-Album "Does Spring Hide Its Joy" (auch den Vorläufer "Living Torch" kann der Musik-Perlentaucher übrigens sehr empfehlen) entstanden unter den Eindrücken der ersten Pandemiemonate in den Hallen des Funkhauses Nalepastraße in Berlin, erzählt Jana Sotzko in der taz. "'Does Spring Hide Its Joy' übersetzt eine von veränderter Wahrnehmung geprägte Zeit in polyphone Schichtungen aus Sinuswellen, Gitarrendrones und einem sich immer wieder widerborstig herauswindenden Cello. Bereits die flirrenden Oszillatoren im Eröffnungsstück suggerieren eine Dringlichkeit und Schärfe, die den Gesamtklang bei aller Mythisierung des Aufnahmeortes - große, leere Hallen! - fest in der dystopischen Gegenwart verankern. ... Am Stück gehört wird Malones Musik zur hypnotischen Erfahrung, herausfordernd und faszinierend zugleich. Ein dramaturgischer Höhepunkt ist dabei die dritte der namenlosen Kompositionen. Sie klingt wie ein in sich geschlossener, zwanzigminütiger Trip in den Abgrund und spendet allem Wummern von Feedback und Flimmern der Oszillatoren zum Trotz eine trostreiche Wärme."



Außerdem: Lars Fleischmann staunt in der taz über die vitale Musikszene, die sich in Düsseldorf gebildet hat. Besprochen werden Daniel Barenboims Konzert mit Martha Argerich und den Berliner Philharmonikern (online nachgereicht von der Zeit, hier bei Dlf Kultur zum Nachhören), ein Konzert von Sir John Eliot Gardiner mit seinen Baroque Soloists (Standard) und Cordula Kablitz-Posts Kino-Doku "FCK 2020" über Scooter im Lockdown (ZeitOnline).
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Kunst

Die ukrainische Künstlerin Olga Barashykova spricht im Interview mit der taz über die Sammelausstellung "Sense of War" in der Hamburger Galerie Frappant. Jens Müller besucht für den Tagesspiegel die große Hans-Hartung-Ausstellung in der Berliner Galerie Max Hetzler. In der FAZ schreibt Stefan Trinks zum Tod des Kunsthistorikers Hans Belting. Außerdem meldet die FAZ, dass Andreas Hoffmann, bisheriger Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forums in Hamburg, Geschäftsführer der Documenta in Kassel wird.
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Literatur

Léonardo Kahn wirft in der SZ einen Blick auf das Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen deutscher und französischer Literatur: Um die 1300 ins Deutsche übertragene französische Romane stehen etwa 500 ins Französische übersetzten deutschen Romanen gegenüber. Ein Ausdruck von Geringschätzung? Kahn fragt nach bei Nicolas Weill, der bei Le Monde für deutsche Literatur zuständig ist, und bei Johanna Links, die für Aufbau französische Romane liest, und erfährt: "Frankreich gibt mehr Geld aus für die Vermarktung seiner Kultur im Ausland, die französischen Literaturpreise genießen international weitaus höheres Ansehen." Der Büchnerpeis hingegen "habe nicht ansatzweise die gleiche Ausstrahlung. Vorschlag Johanna Links: 'Vielleicht sollten wir uns in Zukunft mehr um die Außenvermarktung unserer Preise bemühen.' Davon rät Nicolas Weill interessanterweise dringend ab: Die Deutschen seien sich, sagt er, ihres Glücks nicht bewusst, auf pompöse Literaturpreise verzichten zu können. Diese nervten nur, lenkten vom Wesentlichen ab, und deutsche Gegenwartsliteratur habe durchaus ihren Platz im französischen Büchermarkt. Aus dem Deutschen würden etwa acht Mal mehr Bücher ins Französische übersetzt als aus dem Arabischen."

In seiner online nachgereichten Zeit-Kolumne ärgert sich Maxim Biller darüber, dass Verlage ihm alles mögliche zuschicken, sofern das Buch vom Thema her auch nur entfernt mit jüdischen Themen zu tun hat. Dabei sieht sich Biller in erster Linie als deutscher Schriftsteller: In seinen Kolumnen schreibe er "über die Gesellschaft, in der ich lebe, über den Westen und das heutige Deutschland, das ihm die Freiheit verdankt, die es selbst nie haben wollte. Wieso macht mich das schon zum ewigen Juden des deutschen Feuilletons?" Dass seine Romanfiguren meist Juden sind stimme zwar. "Warum sie fast immer Juden sind? Weil Martin Walser ja auch nur über Deutsche schreibt und Chimamanda Ngozi Adichie über Nigerianer. Und weil ich selbst als Jude die Juden und ihre Geschichten am besten kenne, verstehe, fühle - und sie darum hoffentlich so gut, so universell verständlich erzählen kann, dass auch ein anderer Deutscher oder Inder oder Amerikaner sie miterleben und auf sich beziehen kann."

Weitere Artikel: Gebannt folgt SZler Alexander Menden Hanif Kureishi, wie dieser nach einem schweren Unfall an den Weihnachtsfeiertagen, der ihn womöglich nie wieder selber schreiben lassen kann, nun auf Twitter (via Diktat) von seinem beschwerlichen Alltag berichtet: Diese Tweets wirken "oft wie Erweiterungen seines sonstigen Œuvres". Besprochen werden unter anderem Aleš Štegers "Als der Winter verschwand" (SZ) und Jochen Schmidts "Phlox" (SZ).
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Architektur

Der 87-jährige britische Stararchitekt Norman Foster hat einen Masterplan für den Wiederaufbau von Charkiw vorgestellt. Warum ausgerechnet Foster, der mit seinem Zukunftsoptimismus und seiner Architektur der großen Gesten etwas aus der Zeit gefallen scheint? Das fragen sich jedenfalls erste Kritiker, berichtet Andres Herzog in der NZZ: "Die Architekturhistorikerin Ievgenija Gubkina kritisierte bereits im vergangenen September in der NZZ, dass die Diskussion hinter verschlossenen Türen stattfinde. Forsters Büro betont, dass mit lokalen Architekten über hundert Workshops durchgeführt worden seien und die Bevölkerung mit einem Fragebogen einbezogen worden sei. Als Norman Foster kurz vor Weihnachten den Masterplan persönlich in Charkiw dem Bürgermeister vorstellte, erzählten die danach verbreiteten Pressefotos jedenfalls eine andere Geschichte als jene von Partizipation und Kollaboration: Zu sehen sind darauf Norman Foster und der Bürgermeister Igor Terejov, die sich über die Pläne beugen. Der Politiker hofft auf den großen Wurf, und der Architekt gefällt sich in der Rolle dessen, der an der Verbesserung der Welt mitwirkt."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Ukraine, Charkiw, Foster, Norman

Film

Schaut mit Marx und Engels aufs Humboldt Forum: "Schlachthäuser der Moderne"

Ekkehard Knörer ist in der taz von Heinz Emigholz' neuestem Architektur-Essayfilm "Schlachthäuser der Moderne" sehr enttäuscht: Die kühl distanzierte Haltung der vorangegangenen Filme weicht hier dem Wille zur Kommentierung im Stil grobschlächtiger Kapitalismuskritik. Die Reise führt von Buenos Aires über El Alto zurück nach Berlin, zum Humboldt Forum. Als "Vorschlag zur Güte" plädiere der Filmemacher "für den Abriss der Stadtschloss-Replik und an ihrer Stelle die Errichtung eines Prachtbaus in der Architektur Freddy Mamanis. Das ist als witzige Idee, der die Bedeutung und Rolle Mamanis egal ist, so wohlfeil, wenn nicht töricht, wie die windschiefe Konstruktion des ganzen Films, der sich an der Differenz von Genitivus obiectivus und Genitivus subiectivus seines Titels um Differenzierung herum assoziiert."

Weiteres: Fabian Tietke empfiehlt im Tagesspiegel die Filmreihe "Überblendung - Vergessene Bilder von Ost und West" im Berliner Brotfabrik-Kino.
Archiv: Film

Design

Dirk Peitz versenkt sich für ZeitOnline zum Tod von Tatjana Patitz ins Gesicht des Supermodels, das in den Neunzigern mit einigen ikonisch gewordenen Modefotografien und nicht zuletzt mit ihrem Auftritt Musikvideo-Klassiker "Freedom" von George Michael für Furore sorgte: Eigentlich ist ihr Gesicht fast schon langweilig in seiner makellosen Schönheit. Doch liegt "im Ausdruck des Gesichts von Tatjana Patitz etwas vollkommen Entwaffnendes. Etwas, das keines Beweises und keiner Negation bedarf, auch keiner kritischen Nachfrage. Etwas in sich Gekehrtes, Ruhiges, völlig Selbstsicheres, Müheloses, auch ein wenig Melancholisches. Es ist das Gesicht einer damals kaum Mittzwanzigerin, aber man sieht eine vollkommen erwachsene, keine junge Frau. Und keine manipulierte. ... Sie war total da - und doch nicht. Und diese Wirkung scheint visuell zu belegen, was man der da noch sehr kleinen Kaste der Supermodels, den sogenannten Big Five, zu denen Patitz gehörte, bewundernd nachsagte: dass sie nämlich die ersten ihres Berufszweigs waren, die wirklich unabhängig waren, die die Regeln mitbestimmten, die zu wichtig wurden, als dass die Männer der Schönheitsindustrie sie noch unterjochen und erniedrigen konnten, die stinkreich wurden in dem Job, die Geschäftsfrauen der Schönheit waren." Einen weiteren Nachruf schreibt Jürg Zbinden in der NZZ. Hier ihr Auftritt für George Michael (ab 3:30):



Tillmann Prüfer prüft für das ZeitMagazin die Farbtrends 2023. Die Kandidatinnen fürs Erste: "Goldgelb und Zitronengelb, dazu ein Cherrytomatenrot und Feuerrot, Krokus-Lila, Sorbet-Rosa, ein Granatapfel-Pink, ein Aquamarinblau und auch Tiefseeblau, ferner Salbeigrün, Pfirsich- und Mangoorange, Salatgrün, Smaragdgrün und Khaki, dazu Mokka und Macchiato-Braun, abgeschmeckt mit Vanille."
Archiv: Design