Efeu - Die Kulturrundschau

Gestritten wird eh

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15.02.2023. Der Guardian stellt die Künstlerin Alice Neel vor, die Kritiker einfach sexy fand. Die FAZ berichtet von den ideologischen Säuberungen in Russlands Museen. Die NZZ ist froh, dass sie von einigen Regisseuren nur manipuliert und nicht mit Elektroschocks behandelt wird. In der Welt bewundert Alexander Kluge, wie Friederike Mayröcker die Revolte der Wörter anführte. In ZeitOnline fordern die Schauspielerinnen Gesine Cukrowski, Jasmin Tabatabai und Ruth Reinecke neue Rollenbilder für Frauen über 50.  Im Tagesspiegel empfiehlt Farangies Ghafoor den BerlinerInnen, zur Aufpeppung ihres Kleidungstils den Besuch einer afghanischen Hochzeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2023 finden Sie hier

Kunst

Alice Neel: John Perreault, 1972. © The Estate of Alice Neel

Es gibt auch KünstlerInnen, die ihre Kritiker klasse fanden: Zungeschnalzend betrachtet Adrian Searle im Guardian die Porträts der amerikanischen Künstlerin Alice Neel, der die Londoner Barbican Gallery die Ausstellung "Hot off the Griddle" widmet. Neel porträtierte - neben dem Kunstkritiker John Perrault - Kriegsverweigerer, Black Panther, schwule Paare, Latinos in Spanish Harlem: "Als in den 1950er Jahren ein paar FBI-Agenten an die Tür der Künstlerin klopften, fragte Neel, ob sie für sie sitzen würden. Sie lehnten ab. Wer, selbst ein verklemmter FBI-Agent, würde sich nicht gerne von Neel malen lassen? Ihre gemalten Begegnungen destillierten den Eifer ihrer Sujets, ihr Selbstbewusstsein und ihre Freude daran, von dieser furchtlosen, unerschütterlichen Frau gemalt zu werden. Niemals ganz expressionistisch, fast karikaturistisch, manchmal herrlich schräg und häufig sexy, beweist Neel in ihren Porträts Aufmerksamkeit für die Körpersprache, für körperliche Manierismen und Verletzlichkeiten."

Der Kunsthistoriker Konstantin Akinscha berichtet in der FAZ von den Umwälzungen im russischen Kunstbetrieb, wo bereits die Direktorin der Moskauer Tretjakow-Galerie und der Direktor des Staatlichen Russischen Museums in Petersburg abgesetzt wurden. Auch die Direktorin des Puschkin-Museum muss jetzt um ihren Posten bangen: "Es scheint, dass die Forderungen von Reaktionären des Kulturlebens wie Nikolai Burljajew, dem Vorsitzenden der 'Kulturfront Russlands', die eine strenge Säuberung der Museumsleiter forderte, nicht auf taube Ohren gestoßen sind. Putins Regierung beschloss, Russlands Museen unter strenge ideologische Kontrolle zu stellen und starke Persönlichkeiten durch gesichtslose Bürokraten zu ersetzen." 

Besprochen wird die Ausstellung zu Ruth Wolf-Rehfeldts Schreibmaschinen-Kunst im Potsdamer Minsk Kunsthaus (FAZ).
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Bühne

Die Wellen, die der Eklat von Hannover geschlagen hat, ebben allmählich ab: Der Standard meldet, dass sich Hannovers suspendierter Ballettchef Marco Goecke nach seinen ersten flapsigen Worten inzwischen etwas ernsthafter bei der attackierten Kritikerin Wiebke Hüster entschuldigt hat. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube findet Goeckes Entschuldigung für seinen angriff auf Hüster (die laut Wikipedia Kaubes Frau ist) nicht glaubhaft. In der FR bedauert Sylvia Staude, dass und wie Marco Goecke seine Karriere selbst zerstört hat. In der NZZ sinniert Paul Jandl über Narzissmus, Kränkung und all die anderen unguten Dynamiken, die immer am Theater walten: "Der Regisseur versucht mit seiner Arbeit Darsteller und Publikum zu manipulieren. Dafür muss er zwar ein Menschenkenner sein, ist aber vor seinen eigenen blinden Flecken nicht geschützt. Eine toxische Mischung, die im Fall Goecke gerade öffentlich sichtbar wird. Was im Inneren der Theater geschieht, bleibt oft unsichtbar, hat aber die gleichen Quellen. Demütigungen sind an der Tagesordnung, und wer die Geschichten über die alten Recken der Regie kennt, hat auch die Blaupause für das, was sich heute noch tut. Peter Zadek hat seine Schauspieler bei der Arbeit so sehr erniedrigt, dass dem Burgtheater-Ensemblemitglied Ignaz Kirchner einmal der Kragen platzte: 'Ich bin so froh, dass ich mit dir als Regisseur arbeiten darf. Wenn du nicht Regisseur wärst, dann wärst du vielleicht Psychiater. Und das wäre furchtbar. Deine Patienten würden jeden Tag Elektroschocks kriegen.'"

FAZ-Kritikerin Irene Bazinger besucht die Proben zu Jonathan Meeses neuem Stück an der Volksbühne: Die Suche nach der "Monosau" führt sie natürlich zu der einzelnen Kraft, um die sich alles dreht und die auch die Sonne sein könnte, aber wohl eher nicht ist: "Vibrierend von mimetischer Energie steigt Martin Wuttke später mit einem wirren Monolog hinaus auf den Laufsteg. Er verehrt Meese, und Meese verehrt ihn, und Grenzen interessieren beide nicht."
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Literatur

Alexander Kluge erzählt der Welt, welche Bücher ihn geprägt haben. Friederike Mayröckers "Pathos und Schwalbe" ließ ihn von der Revolte der Wörter träumen: "Wie die Brüder Gracchus, wie Spartacus, wie Toussaint Louverture beschleunigten Joyce, Schwitters, Hans G Helms, Arno Schmidt, Reinhard Jirgl und Friederike Mayröcker die Befreiung der Wörter von ihrem Joch, boten Kolonisation, also neue Äcker für die Sklaven. Aber arbeiten wollten die Sklaven nicht: Wir sind nie Sklaven gewesen, sagten die Wörter, wir lassen uns nicht wie römische Legionäre oder wie Sklaven des Spartacus neu ansiedeln. Unsere Revolte ist eine Dauerrevolte. Wie will man uns unterdrücken, wenn wir der Grund dafür sind, dass es die Menschheit und deren Verfassung überhaupt gibt? Wir sind selbstbewusste Lebewesen, man darf uns, die Wörter, nicht unterschätzen."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners dem Germanisten Hermann Kurzke zum 80. Geburtstag. Christian Gasser (NZZ) und Thomas Spang (Tsp) gratulieren dem Comiczeichner Art Spiegelman zum 75. Geburtstag. Außerdem wird Elke Heidenreich 80 - Gerrit Bartels (Tsp), Michael Krüger (SZ) und Gustav Seibt (SZ) gratulieren.

Besprochen werden unter anderem Solvej Balles "Über die Berechnung des Rauminhalts I" (taz), Nico Bleutges Lyrikband "schlafbaum-variationen" (FR), Sarah Jollien-Fardels "Lieblingstochter" (NZZ), Wolfgang Böhms "Zwischen Brüdern" (Standard), ein von Erika Thomalla herausgegebener Band von Text+Kritik über literarischen Journalismus (FAZ), neue Bücher über die Wiener Unterwelt der Strizzis (Standard) und Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" (FAZ).
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Film

Im ZeitOnline-Gespräch fordern Gesine Cukrowski, Jasmin Tabatabai und Ruth Reinecke mehr und bessere Rollen für Schauspielerinnen in der zweiten Lebenshälfte. Reinecke geht es "auch um Sensibilisierung. Welche Altersbilder sind in unserer Gesellschaft sichtbar? Wir leben in Deutschland in einer offenen Gesellschaft, aber die zweite Lebenshälfte wird gerne ausgeblendet. Wie viele Menschen über 50 siehst du auf einem Plakat, siehst du irgendwo abgebildet, siehst du als role model? Es gibt sie nicht. 21 Millionen Frauen, ein Viertel der Gesellschaft, werden nicht abgebildet. ... Die fiktionalen Rollenangebote für Frauen in der zweiten Lebenshälfte stimmen alle nicht mehr. Frauen sind nicht mehr nur Ehefrauen, bis sie in die Grube gehen. Wir brauchen Geschichten, die anders erzählt werden, mutiger."

In der NZZ empfiehlt Martin Walder die Zürcher Filmreihe "As Time Goes By" über filmische Langzeitbeobachtungen von Michael Apted über Volker Koepp bis zur Helena Třeštíková. Letztere ist eine "Spezialistin für Langzeitstudien, mitunter auf prekärem sozialem Terrain. Nach der Premiere von 'René' (2008), dem Porträt eines Gewohnheitsverbrechers, dessen Leben bald nur zwischen dies- und jenseits von Knastmauern pendelt, musste sie ihre eigene Rolle reflektieren: Durch den Film ist der Mann zur öffentlichen Person geworden. Man bleibt im Briefkontakt, sie hat René mit Büchern versorgt, später sogar einer Kamera (die er für Pornos missbraucht). Er beginnt zu schreiben, wird publiziert, gewinnt an Statur, schafft es als 'asozialer Intellektueller' (Třeštíková) schließlich in Tabloids und in Talkshows, wo er rasch weiß, wie man Pointen setzt. Mehrere Frauen wollen ihn retten. ... Der Folgefilm 'René - The Prisoner of Freedom"' (2021) hat sich aufgedrängt; er führt ins Herz der Problematik. Immerhin scheint es dem Mann zwischen Freiheit und Knast zu gelingen, sich als eine Art Sisyphus im Sinne Camus', den er zitiert, zu akzeptieren."

Außerdem: Hanns-Georg Rodek erinnert in der Welt an Godards Science-Fiction-Film "Alphaville". Valerie Dirk porträtiert im Standard Jane Fonda, die beim Wiener Opernball zu Gast ist.

Besprochen werden Steven Soderberghs "Magic Mike: The Last Dance" (critic.de), Fanny Liatards und Jérémy Trouilhs SF-Coming-of-Age-Film "Gagarine" (Standard), die in der ARD-Mediathek gezeigte ORF-Serie "Tage, die es nicht gab" (FAZ) und ein neuer "Ant-Man"-Superheldenfilm (taz, SZ).
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Design

In Berlin darf man alles, nur keinen Wert auf seine Kleidung legen. Vor allem, wenn das mit Farben verbunden ist. Dann ziehen Leute, für die das Wort normcore praktisch erfunden wurde, ein missbilligendes Schnütchen, stellt Farangies Ghafoor im Tagesspiegel fest. Sie empfiehlt den Dezenten, wenigstens einmal im Leben eine afghanische Hochzeit zu besuchen. "Hier ist einfach alles aufs Schönste too much: viel Essen, laute Musik, grelle Farben, extra dicker Lipliner, extra prachtvolle Kleider, extra viel Haarspray. ... Auf einer afghanischen Hochzeit fragten ich und ein paar andere Kinder eine Tante (die nicht wirklich unsere Tante war, sondern irgendeine Frau im Alter meiner Eltern), warum diese Frauen im grauen Hosenanzug so unbeholfen tanzten. Nur: Die Tante konnte keine Frauen im Hosenanzug entdecken. Wir Kinder hatten aber auch keine Gespenster gesehen. Sondern die deutschen Freundinnen der Braut."
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Musik

Die Musikkritiker trauern um den Wiener Komponisten und Dirigenten Friedrich Cerha, der im gesegneten Alter von 96 Jahren gestorben ist. Die Wiener Schule prägte ihn, doch suchte er eigene Wege, schreibt Daniel Ender im Standard. "Für seinen spektakulärsten Fund ... war jedoch ein plakativer Ausdruck bei der Hand: 'Klangflächen' aus über weite Räume ausgebreiteten, höchst differenzierten Tönen und Klängen, die mit minimalen Entwicklungen größte Wirkung entfachten. Sein musikhistorisches Pech war, dass seine prominenten Kollegen György Ligeti und Krzysztof Penderecki etwa zeitgleich um das Jahr 1960 herum etwas ganz Ähnliches fanden. An einem Prioritätenstreit hat sich Cerha nie beteiligt, aber gerne die Anekdote erzählt, sein Freund Ligeti habe, als er ihn einmal besuchte und ausgebreitete Manuskriptseiten überflog, ausgerufen: 'Was machst du da? Du schreibst ja mein Stück!'" Ender nennt das Orchesterwerk "Spiegel" als typisches Beispiel für diese Methode:



"Cerha war der Typ des Bewegers, der das allemal Fragment bleibende Ganze von Kunst, Leben und Gesellschaft im Auge behielt", schreibt Gerhard R. Koch in der FAZ. Cerhas Klangflächen-Kompositionen "waren herausragende Beispiele schillernd klaustrophobischer Textur: Labyrinthe als Weltbilder mit theatralischer Untersicht." Und "noch im Werk seines berühmtesten Schülers Georg Friedrich Haas meint man etwas wiederzuerkennen von der klangschwelgerischen Eleganz, mit der Cerha selbst den klassischen Orchestersatz beherrschte", ergänzt Michael Stallknecht in der SZ: "Delikat und nonchalant, weltmännisch und darin zugleich sehr österreichisch, hält seine Musik immer ein Stück Distanz und bewahrt sich damit eine moderne Objektivität."



"Technisch war er ein Meister", schreibt Judith von Sternburg in der FR, "prädestiniert dadurch für die Aufgabe, die ihn am berühmtesten machte: Bergs Fragment gebliebene 'Lulu' schrieb er aus Skizzen fertig, so dass sie ins Repertoire einziehen konnte. Gestritten wurde auch darüber, aber gestritten wird eh."

Leider nur sehr knapp bespricht Gregor Dotzauer im Tagesspiegel Evgueni Galperines von den Feuilletons bislang übersehenes (und nach Meinung dieses Perlentauchers ziemlich großartiges) Album "Theory of Becoming": Im Werden begriffen ist darauf "ein Bewusstsein unheilbarer Trauer. ... Die Soundscapes, die Galperine im Studio zu einer 'augmented reality of acoustic instruments' zusammengefügt hat, stehen" den Titeln der Stücke "an surrealistischer Düsternis in nichts nach. Das Unheil pfeift aus allen Ritzen. Das Pochen und Dröhnen von Synthesizern vermählt sich mit Samples und den stotternden Fanfaren von Sergei Nakariakovs elektronisch multiplizierter und bis in Posaunen- und Tubaregionen transponierter Trompete." Vollends überzeugt ist Dotzauer allerdings nicht.



Besprochen werden Kelelas Album "Raven" (SZ, Standard. mehr dazu bereits hier) und ein neues Album von Elif (Tsp).
Archiv: Musik