Efeu - Die Kulturrundschau

Gott in Kätzchengestalt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2023. Morgen abend endet die Berlinale. Die FAZ ist nicht glücklich: sie sah nur ein Kunterbunt des Mittelmäßigen. Die taz unterhält sich mit der ukrainischen Regisseurin Alisa Kovalenko über ihre Filmdoku "My ne zgasnemo" und über ihren Fronteinsatz. Die SZ freut sich über die Wiederauferstehung von Rainald Goetz in Berlin, der neuerdings Verhaltenslehren der Wärme predigt. Der Tagesspiegel geht "Chez Icke", wo man die schönsten Kneipenfotos bewundern kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2023 finden Sie hier

Film

Morgen abend endet die Berlinale. Andreas Kilb zieht in der FAZ schon mal Bilanz: Er beobachtet eine Homogenisierung des Festivals - früher war mehr Reibung zwischen den Sektionen: "Unter dem neuen Programmdirektor Carlo Chatrian hat sich diese Spannung aufgelöst. Das ohnehin geringe Gefälle zwischen Wettbewerb und Nebenreihen ist fast völlig verschwunden, und die von Chatrian erfundenen 'Encounters' haben nur eine weitere Arthouse-Schublade aufgezogen. Das heißt aber nicht, dass es mehr gute Filme gibt. Es bedeutet, dass sich wenige gute Filme auf immer mehr Sektionen verteilen, die voneinander immer schwerer zu unterscheiden sind. Wenn sich das Kunterbunt des Mittelmäßigen, das diese Filmfestspiele geprägt hat, auf Dauer durchsetzt, dann schadet die Berlinale nicht nur ihrem Ansehen. Sie gefährdet auch ihren Status als A-Festival."

Mit Hocker gegen nationale Traumata: "Suzume" im Wettbewerb

Auf der Zielgeraden laufen aber noch ein paar Filme im Wettbewerb. Makoto Shinkais japanischer Animationsfilm "Suzume" etwa, eine Fantasy-Geschichte rund um ein Mädchen, das zur Retterin der Welt wird - stets auf der Spur eines Gottes in Kätzchengestalt und an der Seite eines dreibeinigen Stuhls, in den Leben gefahren ist. Der Regisseur gilt seit "Your Name" und "Weathering With You" als der neue großen Star am Anime-Firmament. "Zum Teil ist der Film ein überdrehter Jugendspaß mit Märchenelementen", schreibt Philipp Bovermann in der SZ, "aber das Mädchen und ihr Hocker-Held reisen eben auch in die japanischen Traumata, in die Gegenden, wo ganze Stadtteile von Erdbeben zerstört und unter Erdrutschen begraben wurden." Andreas Busche vom Tagesspiegel hatte viel Freude an diesem "Crowdpleaser, dessen Seltsamkeit und J-Pop-Gefühlskitsch man sich schwer entziehen kann". Perlentaucherin Thekla Dannenberg bleibt skeptisch: Ein Nachfolger für den großen Hayao Miyazaki ist mit Makoto Shinkai nicht gefunden: "Mitreißend ist der Film durchaus, aber an die Stelle der Poesie tritt hier der Eskapismus, an die Stelle der Fantasie der Einfall."

In der taz spricht die ukrainische Regisseurin Alisa Kovalenko, deren noch vor dem Krieg gefilmter Dokumentarfilm "My ne zgasnemo" junge Ukrainer porträtiert, über ihre eigenen Erfahrungen an der Front im letzten Jahr: "Es war meine eigene Entscheidung, an die Front zu gehen, niemand hat mich gezwungen. Ein paar Mal gab es so heftige Schusswechsel, dass ich dachte, ich werde sterben. Das waren traurige Momente, weil ich befürchtete, meinen Sohn nicht wieder zu sehen, ihm nicht mehr meine Liebe geben zu können. ... Dieser Krieg wird lange dauern, darauf müssen wir uns einstellen. Aber trotzdem weiß ich, dass wir Licht in uns haben und dieses Licht wird gegen die Dunkelheit gewinnen. Daran glaube ich."

Mehr vom Festival: Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel von einem Talk mit Cate Blanchett, die als Special-Gala ihren neuen (ebenfalls im Tagesspiegel besprochenen) Film "Tár" zeigt. NZZ-Kritiker Andreas Scheiner hat viel Freude an Anthony Ings auf dem Festival gezeigten Kurzfilm "Jill, Uncredited", der sich vor der Statistin Jill Goldston verneigt, die in über 2000 Filmen durchs Bild huscht. Susanne Kippenberger porträtiert für den Tagesspiegel die Filmemacherin und Plattformbetreiberin Nadia Parfan und den Kinobetreiber Ilko Gladshtein, die beide aus der Ukraine das Festival besuchen. Nadine Lange spricht im Tagesspiegel mit dem Festivalmacher Bohdan Zhuk, der ein queeres Festival in Kiew plant. Auf dieser Berlinale wurde mit "The Good Mothers" erstmals eine Serie mit einem Preis ausgezeichnet, berichtet Kurt Sagatz im Tagesspiegel.

Aus dem Festival besprochen werden Christian Petzolds "Roter Himmel" (ZeitOnline, taz, mehr dazu hier), die Dokumentarfilme "In Ukraine" und "Iron Butterflies" (taz), die zwei im Wettbewerb und in Encounters gezeigten Filme von João Canijo (Tsp), Vitaly Manskys und Yevhen Titarenkos "Shidniy front" (taz) und Tanja Egens "Geranien" (Tsp).

Weitere Texte vom Festival im Laufe des Tages in unserem Berlinale-Blog. Außerdem liefert Artechock kontinuierlich Kurzkritiken und längere Texte vom Festival. Cargo schickt SMS vom Festival, daneben schreibt Ekkehard Knörer von Cargo hier etwas ausführlichere Notizen. Und für den schnellen Pegelstand beim Festival unverzichtbar: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de.

Aus dem regulären Kinobetrieb besprochen werden Ari Folmans Animationsfilm "Wo ist Anne Frank" (Perlentaucher, FAZ) und Sonja Heiss' "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Literatur

SZler Peter Richter traut seinen Augen nicht: Auf einmal steht da Rainald Goetz leibhaftig am Podium, eben jener Rainald Goetz, der früher bei jedem feuilletonrelevanten Event zumindest im Publikum anwesend war, aber seit Jahren von der Bildfläche verschwunden ist. Der Schriftsteller präsentierte in Berlin die neue Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte, in der sich mit "Absoluter Idealismus" ein neuer "Bericht" des Büchnerpreisträgers findet. Dieser Goetz-Text ist "eine absolut hin- und mitreißende Kaskade der Beobachtungen und Gedanken über das Beobachten und das Denken, über das Lesen und das Schreiben, über die Beglückung durch Zeitungsausschnitte und die Qual, sie in eine 'rezeptive Ordnung' zu bringen, sie also irgendwie aufräumen zu müssen, 'weil schon das Weglegen des Papiers, des Ausdrucks oder der Zeitung, ein Zuviel an Wegschaffen und Beseitigen der Ideen, um die es da geht, bedeuten würde.'" Und dann noch dies: "In konkreter Abgrenzung zu dem Boshaftigkeitskitsch von Maxim Biller plädiert Rainald Goetz dafür, dass bei aller Genauigkeit des Blicks auch Freundlichkeit und Wärme in der Beschreibung von Menschen, Institutionen, sozialen Zusammenhängen der Wahrheitsfindung dienstbar gemacht werden könnten. Ausgerechnet Rainald Goetz predigt und praktiziert neuerdings Verhaltenslehren der Wärme, dass selbst Betroffene im Saal große Augen machen."

Auch Timo Feldhaus von ZeitOnline ist ziemlich hin und weg: "Im Verlauf der halben Stunde hält Goetz eine unnachahmliche Rede auf die spezielle Metaphysik und Aura einer gedruckten Zeitschrift im Allgemeinen und dieser für Ideengeschichte im Besonderen, was die Macher immer wieder so überglücklich dreinschauen lässt wie bei der Erstkommunion."

Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht, kommentiert Björn Hayer im Freitag die Causa Roald Dahl, in der ein britischer Verlag eine Neuausgabe von Sensitivity Readern durcharbeiten ließ. Sicher, findet Hayer, "dort, wo aus heutiger Sicht sprachliche Abwertungen und überkommender Diskursschrott deutlich wird, sollte man zurecht junge LeserInnen aufklären. Richtig ist aber ebenso, dass Streichung und Abmilderung dafür kein Sensorium schaffen. Wer beispielsweise nie über Begriffe wie 'fett' stolpert, dem dürfte nie klar sein, warum sie überhaupt problematisch anmuten. Die literarische Erlösung, wie sie der Puffin-Verlag von unserer verkommenen patriarchalen, kolonialen, sexistischen Kultur anstrebt, muss scheitern, weil sie das wohl wichtigste Moment kindlicher und jugendlicher Lesesozialisation verhindert: den Dialog. Statt verletzende Stellen zu glätten, sollte man nämlich eher über sie ins Gespräch kommen. Nur so wächst auch ein historisches Bewusstsein für die Entwicklung von Vorurteilen und Klischees."

Weitere Artikel: Mario Vargas Llosa erzählt in der NZZ von seiner Re-Lektüre von William Faulkners Erzählung "Der Bär". In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Lyriker Franz Josef Czernin glaubt im Standard-Gespräch nicht daran, dass künstliche Intelligenz in Zukunft Gedichte schreiben kann - schließlich konnte das die künstliche Intelligenz, mit der er vor nur drei Jahrzehnten experimentierte, auch nicht. Simon Sales Prado spricht für die SZ mit der Schriftstellerin Fatma Aydemir, deren letzter Roman "Dschinns" gerade am Berliner Gorki-Theater adaptiert wurde, unter anderem über das Erdbeben in der Türkei.

Besprochen werden unter anderem neuaufgelegte Bücher von Brigitte Reimann (Zeit), neue Übersetzungen lettischer Romane (FAZ), Isaac Blums "Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen" (SZ) und Maxim Znaks "Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis" (NZZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Anna Lehmann-Brauns, Mierendorffplatz, 2022, © Anna Lehmann-Brauns


Es gibt Zeiten, da ist man in der Kneipe "Chez Icke", wie die Ausstellung heißt, die in der Kommunalen Galerie Berlin Kneipenfotos von Anna Lehmann-Brauns, Friederike von Rauch und Stefanie Schweiger zeigt. Gunda Bartels hat sie für den Tagesspiegel besucht und mit den Fotografinnen gesprochen: "80, 90 Kneipen hätten sie dafür sicher besucht, sagt Stefanie Schweiger, die sich mit ihren Kolleginnen ausgerechnet im Corona-Lockdown, als der soziale Ort Kneipe brach lag, für das Thema zu interessieren begann. Von ihr stammen die Porträts von Wirtsleuten, die laut Schweiger die Identität einer Kneipe vorgeben. ... Die Kneipe als Ort der Verheißung, als ein in die nächtliche Stadt hinausleuchtendes Versprechen ist am ehesten in den farbstarken Nachtbildern von Anna Lehmann-Brauns zu finden." Friederike von Rauch, die gerade einen Band über Klosterbauten publiziert hat, sieht eine Gemeinsamkeit von Kneipe und Kloster: "'die extreme Gemeinschaft'. Und das Bierbrauen hat ja ehedem auch im Klöstern begonnen, fällt einem da gleich als nächste Analogie ein. Beim Betrachten von Rauchs puristischen Tageslicht-Stillleben mit Gilbgardine, Ascher, Mobiliar kann man den Raum förmlich riechen. Keinesfalls jedoch Gemütlichkeit."

Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn von einem glamourösen Empfang in der Neuen Nationalgalerie mit Cate Blanchett, Willem Defoe, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Alexander Skarsgård, Maria Schrader, Maren Ade, Detlef Buck, Yael Bartana und Sunnyi Melles, um nur ein paar Namen zu nennen. Anlass war der Idee, dem noch zu bauenden Museum des 20. Jahrhunderts eine Filmabteilung zu spendieren, "im besten Fall wie das Film-Department des MoMA. Larry Kardish, viele Jahre Senior Curator des Departments und selbst eine Filmlegende, nickte am Rande beifällig dazu, bevor Staatsministerin Claudia Roth am Mikrofon die Notwendigkeit aus ihrer Sicht bestätigen konnte. ... Applaus für eine gute Idee, darin waren sich die Anwesenden einig, auch wenn es an Institutionen in der Stadt nicht fehlt, die den Film vertreten."

Weiteres: Die National Gallery hat ein frühes Mädchenporträt von Max Pechstein erworben, meldet in der FAZ Gina Thomas, die sich freut, dass zwischen Matisse, Picasso,  Van Gogh, Gauguin und Seurat künftig auch ein Vertreter des deutschen Expressionismus den "ästhetischen Austausch" belebt. Daniel Völzke denkt in monopol darüber nach, wie sich die Bedeutung der Friedenstaube seit 1949 gewandelt hat.

Besprochen werden die Gruppenausstellung "Re: Feb. 24/UKR" im Hamburger Westwerk zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine (taz), die Ausstellung "Klimt. Inspired by Van Gogh, Rodin, Matisse..." im Wiener Belvedere (Tsp) und die immersive Filminstallation "Dreams Have No Titles" der Künstlerin Zineb Sadira im Hamburger Bahnhof in Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Als Nachtrag zur Hundekot-Attacke plädiert Roman Bucheli in der NZZ für mehr Unerschrockenheit und weniger Lobhudelei in der Kritik: "Vielleicht hätte Goecke nicht zu tun gewagt, was er getan hat, wenn Wiebke Hüster weniger allein auf weiter Flur stünde. Wenn da noch viele andere Kritiker ihre Aufgabe so ernst nähmen, wie es ihnen ihr Selbstverständnis gebietet und wie es die Kunst verdient. Leute wie Goecke sind entwöhnt von der Kritik. Sie haben von den Direktionen ihrer Häuser gelernt, Kritiker wie zuverlässige Mitarbeiter im Aussendienst zu betrachten, als wären sie der verlängerte Arm der Werbeabteilung. Vergessen wir Goecke. Er hat sich von seiner abstoßendsten Seite gezeigt. Aber er steht nicht symptomatisch für eine Verluderung der Sitten. Der Vorfall müsste vor allem als Mahnung an die kritische Zunft verstanden werden, sich auf ihren Anspruch zu besinnen. Sie hat sich einlullen lassen. "

Weitere Artikel: Ulrich Seidler berichtet in der Berliner Zeitung, dass einige Institutionen die Arbeit mit Goecke weiterführen wollen, darunter das Bayrische Staatsballett. Die Münchner Lach-und Schießgesellschaft ist Pleite, bedauert Patrick Guyton im Tagesspiegel: Grund sind interne Streitigkeiten, lesen wir. Mathias Alexander von der FAZ ist nicht ganz überzeugt von Kulturdezernentin Ina Hartwigs Vorschlag für den neuen Standort der Städtischen Bühne in Frankfurt. Besprochen wird Simon Sollbergs Inszenierung von Henryk Ibsens "Peer Gynt" am Schauspiel Bonn (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

In der FAZ lobt Gerald Felber SPAM (Spandau macht Alte Musik...), das neue Festival für Alte Musik in Berlin. Das Victoria & Albert in London hat sich den 80.000 Stücke umfassenden Nachlass von David Bowie erworben und will daraus ab 2025 eine Dauerausstellung kuratieren, meldet Alexander Menden in der SZ. Karl Fluch freut sich in seiner Standard-Glosse, dass Paul McCartney beim nächsten Rolling-Stones-Album einen Basslauf beisteuern wird: Die Konkurrenz zwischen Beatles und Rolling Stones sei eh schon immer ein Mythos gewesen. Andrian Kreye erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit den Yachtrockern Young Gun Silver Fox.


    
Besprochen werden ein Auftritt von Caroline Polachek in Berlin (SZ) und Jill Barbers Album "Homemaker" (FR). Und in der Frankfurter Pop-Anthologie erinnert Jens Buchholz an Michael Girke, der die Hamburger Schule der Neunzigerjahre mit dem deutschsprachigen Pop seiner Band Jetzt zwar stark beeinflusst hat, über den Status eines Geheimtipps aber nie hinausgekommen ist.

Archiv: Musik