Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht eine dumme Antwort

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01.03.2023. Die Welt beobachtet, dass sich amerikanische Linke wieder trauen, für J.K. Rowling Partei zu ergreifen. Die SZ sieht in Todd Fields Film "Tár" Hinweise darauf, dass die Welt doch keine moralischen Sortiermaschinen braucht. Der Disney-Konzern bereinigt allerdings noch die Werkausgaben von Carl Barks und Don Rosa um inkriminierende Stellen. Die taz weiß zu schätzen, dass Laibach in Moskau auf mehr Widerstand stößt als in Kiew.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2023 finden Sie hier

Film

Cate Blanchett in "Tár"

Nichts in der Welt ist nur Schwarz oder Weiß: Daran lässt sich die SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh von Todd Fields "Tár" sehr gerne erinnern. Cate Blanchett spielt darin eine Meisterdirigentin, die jenseits der Bühne mit ihrer Neigung zum Machtmissbrauch allerdings alles andere als ein Prachtexemplar Mensch ist und sich alsbald in einem Fäkalunwetter wiederfindet. "War es nötig, diese Geschichte über Macht und Sex und Cancel Culture an einer Frau durchzuexerzieren? ... Vielleicht schon. Wenn man nicht von einer Moralsortiermaschine träumt, ist es hilfreich, wenn die Dinge von Anfang an schön kompliziert sind." Denn "wann gibt es schon mal einen Film, der lauter kluge Fragen stellt und nicht eine dumme Antwort darauf gibt? Ob Lydia Tár verdient, was mir ihr geschieht, oder doch eher Mitleid - das liegt allein im Auge des Betrachters. Wer gerne eine einfache Antwort darauf hätte, ob das, was man Canceln nennt, richtig ist oder falsch, dem wird Todd Field nicht helfen können." FAZ-Kritikerin Maria Wiesner staunt Bauklötze über Cate Blanchetts souveränes Spiel. Auch der Film überzeugt sie: "Schlaglichter auf Cancel-Culture- oder Metoo-Fragen haken nur Zeitgebundenes ab. Field fasziniert aber das Zeitlose der Geschichte, der Absturz des Genies Lydia Tár.

Auf ZeitOnline erklärt die Intimitätskoordinatorin und Pornoproduzentin Paula Alamillo Rodriguez ihre Arbeit - wie ein Stuntkoordinator Verletzungen verhindern soll, bestehe ihre Aufgabe darin, bei entsprechenden Szenen das "hohe emotionale Risiko" zu senken. Das ist nicht immer konfliktfrei: "Zum einen ist da die Regie, die manchmal sagt: 'Ich mach das schon seit 20 Jahren so. Intimitätskoordination brauche ich nicht.' Regieführende fühlen sich dann angegriffen in ihrer professionellen Ehre. Sie denken, ich würde ihnen böse Absichten unterstellen." Aber "so wie man Kostüm- oder Maskenbildnerinnen hat, die den kreativen Prozess mit ihrer Expertise unterstützen, genauso sind Intimitätskoordinierende da, um die Vision der Regie zu fördern. Nicht um sie zu gängeln oder auszubooten."
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Literatur

In der Welt empfiehlt Hannes Stein den Podcast "The Witch Trials of J.K. Rowling", in dem die angeblich transfeindliche Beststellerautorin ihre Sicht auf die Ereignisse der letzten zwei, drei Jahre schildert, in der sie zum Teil brutal für ihre Positionen angegangen wurde. Ohnehin beobachtet Stein eine Versachlichung der Debatte: Die Journalistin E.J. Rosetta etwa wurde beauftragt, eine Story über die 20 schlimmsten transphoben Aussagen Rowlings zu schreiben und "konnte nach drei Monaten der Recherche nur ihre leeren Hände vorweisen - da war nichts. ... Und immer mehr amerikanische Linke trauen sich, offen die Partei von J.K. Rowling zu ergreifen." In The Free Press erzählt Megan Phelps-Roper, die Macherin des Podcasts ihre Beweggründe dafür - der Text dürfte zum großen Teil auch die Hauptquelle für Steins Artikel sein.

Mit den Disney-Comics ist es bekanntlich so eine Sache: Der Konzern selbst veröffentlicht schon seit Jahrzehnten keine eigenen Enten- und Maus-Comics mehr - Produktion, Distribution und editorische Pflege des Werks liegen im wesentlichen in der Hand von Lizenznehmern. Wohl aber kann der Konzern im Hintergrund noch immer durchgreifen: Das ist offenbar auch bei Fantagraphics der Fall, dem amerikanischen, auf Comicgeschichte und Autorencomics spezialisierten Verlag, in dem die Werkausgaben der zentralen Entencomic-Zeichner Carl Barks und Don Rosa erscheinen. Bei beiden sind nun in Neuauflagen kommentarlos ganze Geschichten verschwunden, schreibt Stefan Pannor in der FAZ: Es handelt sich dabei um Geschichten mit vereinzelten Auftritten der Figur "Zombie Bombie". "In der vergangenen Woche veröffentlichte der frühere Disney-Zeichner Don Rosa die Mail eines von ihm nicht benannten Verlags, laut der Disney 'als Teil ihrer fortdauernden Hingabe zu Diversität und Inklusion' alle alten Comicgeschichten mit seinen Figuren auf weitere Veröffentlichbarkeit hin durchkämme: 'In der Folge werden einige Geschichten, die nicht mit den Werten der Firma übereinstimmen, nicht länger veröffentlicht werden können.' Das betreffe auch zwei Comics von Don Rosa." Einiges "deutet darauf hin, dass der Konzern nicht nur einzelne Geschichten mit einem Bann belegt, sondern ganze Figurenkomplexe unsichtbar machen will. Statt sich der Tatsache zu stellen, dass man jahrzehntelang mit Rassismus Geld verdient hat, soll alles, was daran erinnern könnte, unter den Teppich gekehrt werden." Mehr zu den Hintergründen hier.

Weitere Artikel: Michael Wurmitzer porträtiert im Standard die Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die in Wien eine Professur antritt. Birgit Schmid von der NZZ wirft einen Blick darauf, wie sich in Literatur und Film das Bild von der älteren Frau, die einen jüngeren Mann liebt, ändert. Thomas Hummitzsch unternimmt in für Intellectures einen Streifzug durch die deutsche Climate-Fiction- und Nature-Writing-Szene. In der SZ führt Alexander Menden durchs Programm der Lit.Cologne. Außerdem melden die Agenturen, dass Ian Flemings "James Bond"-Romanreihe im englischsprachigen Raum zum 70-jährigen Jubiläum mit einer Neuausgabe gefeiert wird, deren Leser nach einer Bearbeitung vor anstößigen Begriffen geschützt werden (zu vermuten steht allerdings, dass Bond auch weiterhin Menschen tötet). In der NZZ gratuliert Roman Bucheli dem Schriftsteller Franz Hohler zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Teresa Präauers "Kochen im falschen Jahrhundert" (Standard), Karin Smirnoffs "Wunderkind" (taz), Hanjo Kestings "Thomas Mann - Glanz und Qual" (SZ) und Monique Roffeys "Die Meerjungfrau von Black Conch" (FAZ).
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Kunst

Gabriele Münter: Mädchen mit roter Schleife, 1908. Bild: Bucerius Kunst Forum

Wunderbare Entdeckungen macht FAZ-Kritiker Wolfgang Krischke in einer Schau mit Gabriele Münters "Menschenbildern" im Hamburger Bucerius Forum: "Mit Gabriele Münters Namen verbindet man vor allem die expressiven und farbstarken Gemälde aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Herausragende Beispiele aus diesem Teil des Werkes in der Hamburger Schau sind das Bildnis der Malerkollegin Marianne von Werefkin, der abwesend-abweisende 'Kandinsky am Teetisch' oder das in zwei Versionen präsentierte 'Mädchen mit roter Schleife', dessen ernster, leicht melancholischer Blick mit der lebhaften Farbigkeit und dem energischen Pinselstrich des Bildes eigentümlich kontrastiert... Nichts von expressionistischer Glut hat dagegen ein ebenfalls meisterhaftes Doppelporträt, das im unterkühlten Stil der Neuen Sachlichkeit gehalten ist. Dessen anheimelnder Titel "Röschen" passt nicht recht: Den Betrachter blicken nicht nur die eisblauen Augen einer jungen Frau an - die Katze auf ihrer Schulter fixiert ihn mit ebenso kaltem Blick."

Besprochen wird außerdem eine Schau der Wandmalerei aus Pompeji im Museo Civico Archeologico in Bologna (SZ).
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Bühne

Daniel Behles: "Hopfen und Malz" Foto: Dirk Rückschloß / Erzgebirgisches Theater

Die Operette, die lange zeit den Ruf der beschwipsten alten Tante genoss, erlebt gerade ihre Renaissance, stellt Michael Stallknecht in der SZ fest, und zwar nicht nur in Berlin, wo ihr Barrie Kosky queeres Flair einhauchte, sondern auf sämtlichen Bühnen von Wien bis ins Erzgebirge. Im Erzgebirgischen Theater etwa sah er beglückt das Stück "Hopfen und Malz" des Tenors Daniel Behle: "Die Operette ist ein unmoralisches Genre. Schon deshalb kann man sie wieder brauchen in Zeiten, in denen die öffentliche Moral in Gestalt sozialer Netzwerke oft nicht mehr allzu viel Raum für Ambiguitäten lässt." Aber sie sei nicht leicht zu inszenieren: "Der Ironie als Gratwanderung droht stets der Absturz in einen von zwei Abgründen: in den der bloßen Blödelei zur einen Seite, in einen sozusagen unfreiwilligen Ernst zur anderen. Dann wird die Sentimentalität larmoyant, wirkt die Moral affirmativ, mit der das Genre nur spielt wie die Katze mit einer halb toten Maus."

In einem Offenen Brief sprechen sich Theaterregisseur Milo Rau, Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und weitere Kulturgrößen für ein Bleiben der Zürcher Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann (unsere Resümees). Der vom Tages-Anzeiger veröffentlichte Brief ist online nicht zu finden, dafür Ueli Bernays spöttische Replik in der NZZ: "Unter den Feinden des fortschrittlichen Intendantenduos werden, wen wundert's, vor allem auch die Medien ausgemacht. Man könnte meinen, das Repertoire von Stemann und von Blomberg sei nie kritisch gewürdigt worden. Stattdessen wird eine 'monatelange Pressekampagne gegen den vermeintlichen Woke-Wahn' angeprangert. Es scheint, dass die armen Intendanten schutzlos journalistischer Häme ausgesetzt waren. Gewiss haben die beiden ihr Fett abgekriegt. Aber wer ein Stadttheater leitet, muss mit Kritik umgehen und selbst Häme wegstecken können. Von Blomberg und Stemann hingegen wirkten oft betupft und beleidigt."

In der NZZ berichtet Luzi Bernet zudem, dass Alexander Pereira als Intendant der Oper von Florenz hinschmeißt: "Die Erfahrung in Florenz war so traurig, dass ich mich nicht mehr imstand sehe, weiterzumachen", sagte er nach Vorwürfen der Fratelli d'Italia, seine Spesen überzogen zu haben: "Tatsache ist, dass Florenz ein sehr schwieriges Pflaster für Opernintendanten ist. Der Ehrgeiz der Stadt, in der ersten Liga der internationalen Opernwelt zu spielen, kontrastiert augenfällig mit den finanziellen Möglichkeiten."

Besprochen werden Eugen Suchoňs Oper über den großmährischen Herrscher "Svätopluk" (mit der nun auch die Slowakei dreißig Jahre nach ihrer Gründung eine monumentale Nationaloper bekommen hat, wie Reinhard Kager in der FAZ bemerkt) und Georges Bizets Oper "Ivan IV." in Meiningen (Welt).
Archiv: Bühne

Musik

In der taz beleuchtet Robert Mießner die Hintergründe, warum Laibach, die in ihrer Ästhetik immer schon Insignien des Totalitären subversiv aufgreifen, nach Protesten nun doch nicht in Kiew spielen werden. Der vor allem auf Social Media laut gewordene Protest entflammte sich auch daran, dass die Band zu Beginn des Krieges die NATO als Provokateur bezeichnet hatte. Zwar hatte sich die Band "solidarisch mit der Ukraine positioniert, gleichzeitig aber nicht von russischer Kunst verabschieden wollen. Daraufhin wurde ihnen auf Facebook geraten, 'doch nach Moskau zu gehen'. ... Ob man Laibach in Moskau überhaupt wird haben wollen, sei allerdings dahingestellt. Im Herbst 2014, als im Donbass längst unter Stalinfahnen und Zarenbanner von aus Moskau unterstützten Separatisten Krieg gegen die Ukraine geführt wurde, verdammte die russische christliche Jugendorganisation Vero i Delo die slowenischen Künstler aufgrund von 'Verherrlichung von Rohheit, Gewalt und animalischer Instinkte'. Laibach würden 'moralische und religiöse Normen verletzen', ihre Kreativität sei 'explizit satanisch'. Mittlerweile ist diese Hysterie Mainstream der russischen Staatsmedien."

Weitere Artikel: Katharina Rustler porträtiert im Standard den österreichischen Teenie-Star Oskar Haag. Jean-Martin Büttner erinnert in der NZZ an Pink Floyds Hifi-Klassiker "Dark Side of the Moon", der vor 50 Jahren erschienen ist. WamS-Redakteur Michael Pilz bescheinigt dem 80s-Hit "In the Army Now" von Bolland & Bolland eine neue Aktualität.

Besprochen werden Lizzos Auftritt in Köln (FAZ), ein Frankfurter Konzert von Evgeny Kissin (FR), ein neues Album von U.S. Girls (FR) und das Comeback-Album von Deus (Standard-Kritiker Karl Fluch bestaunt "einmal mehr eine Form von in Hässlichkeit geborener Schönheit").

Archiv: Musik