Efeu - Die Kulturrundschau

Erectur Ejectus

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2023. Leicht überfodert wirken die Filmkritiker nach Ari Asters "Beau is Afraid" mit Joaquin Phoenix als angstgestörten, mittelalten Amerikaner mit Mutter-Komplex und sexueller Ladehemmung: Bisschen viel Freud für SZ und FR, zu viele Peniswitze für die taz. Die Welt hört Singeli, eine sehr nervöse Musik aus dem tansanischen Daressalam. Der Freitag macht sich Sorgen um den ESC. Die NZZ amüsiert sich königlich mit Birgit Minichmayr und Stephanie Reinsperger über alte weiße Männer. Die FAZ besucht einen neuen Ausstellungsraum in der Pariser Banlieue: den Hangar Y.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2023 finden Sie hier

Film

Ruhepause zwischen Peniswitzen: Joaquin Phoenix' in Ari Asters surrealer Groteske "Beau is Afraid"

Die Feuilletons stürzen sich auf "Beau is Afraid", den dritten Film von Ari Aster. Mit seinen intellektuellen Horrorfilmen "Hereditary" (unser Resümee) und "Midsommar" (unser Resümee) hat er sich als neue Stimme des US-Autorenfilms etabliert. Sein neuer Film verlässt das Genre, stürzt Joaquin Phoenix in einen dreistündigen, ziemlich überkandidelten Parforceritt und wirft den "Blick in den Kopf eines angstgestörten, mittelalten Amerikaners mit Mutter-Komplex und sexuellen Ladehemmungen", wie Andreas Busche im Tagesspiegel schreibt. Aster lässt "den Exzess von Beaus Wahnbildern auf immer absurdere Weise eskalieren. Und das, wohlgemerkt, trotz einer Eröffnungssequenz, die selbst schon an eine Zombie-Apokalypse erinnert."  Zumindest die erste Hälfte des Films sei denn auch "sehr gelungen und auf grausame Art komisch, mit seiner Kaskade an immer verrückteren Katastrophen", hält Philipp Stadelmaier in der SZ fest. Da in Hollywood drei Stunden Laufzeit heute eigentlich nur noch Superheldenfilmen gegönnt werden, "ist Asters origineller Autorenfilm-Exzess unbedingt zu würdigen. Doch irgendwann wird es monoton, die psychoanalytischen Motive, bis hin zur Begegnung mit einem väterlichen Riesenphallus auf dem Dachboden, wirken arg überstrapaziert."

So sieht es auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, der einem Plot folgt, der sich immer mehr auf eine Weise verknotet, "als habe sich eine Gruppe von Surrealisten zusammengesetzt und mit dem Drehbuchpapier Cadavre Exquis gespielt". Und "eigentlich müsste man diesen außergewöhnlichen Film für seine Einfalls- und Detailfülle feiern, doch das übergeordnete Thema bremst seine Freiheit zugleich aus. Das Spiel mit den Freud'schen Klischees verliert bei aller Absurdität doch alles wirklich Spielerische." In diesem Film sieht man ja den Wald vor lauter Schwänzen kaum, findet tazlerin Arabella Wintermayr: "Peniswitze machen einen Großteil des Gag-Arsenals aus. Mal trägt ein Bordell den Namen 'Erectur Ejectus', mal zieren Phallusgraffiti den Hintergrund." Welt-Kritiker Jan Küvelver braucht nach diesem Film "zur Erholung bitte erst einmal einen Spider-Man".

Weitere Artikel: Valerie Dirk spricht für den Standard mit Isabelle Huppert über deren aktuellen Film "Die Gewerkschafterin" (unser Resümee). Der bulgarische Regisseur Teodor Uschew hat aus Solidarität mit der Ukraine eine russische Filmauszeichnung abgelehnt, meldet Barbara Oertel in der taz.

Besprochen werden Rainer Komers' Dokumentarfilm "Miyama Kyoto Prefecture" über das Landleben in Japan (Perlentaucher, FR), Jalmari Helanders finnischer Western "Sisu" (taz, Standard), die siebte Folge der letzten Staffel der Serie "Succession" (TA), Bill Holdermans "Book Club - Ein neues Kapitel" (FAZ), und Lee Unkrichs Luxusband im Taschen Verlag über Stanley Kubricks "The Shining" (SZ). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Musik

Jonathan Fischer erzählt in der Welt von Singeli, der Musik, die ihm in der tansanischen Hauptstadt Daressalam aus unzähligen Bars und Clubs entgegen weht: Aus bis zu 300 Beats pro Minute kommt diese Musik, zu hören ist "nervöses Keyboard-Genudel. Und Swahili-sprachige Chants, die von Armut, Arbeitslosigkeit und Ekstase der samstäglichen Kidogoro Partys erzählen. ... Ein Rhythmus schneller als Drum and Bass oder gar mancher Gabber. Ein Musik gewordener Rauschzustand, der mehr als jedes andere Genre Tansanias Jugend repräsentiert." Denn in dem Land "ist rund die Hälfte der Bevölkerung jünger als 16 Jahre. Es gibt für sie kaum Jobs auf dem formellen Arbeitsmarkt, während die Landflucht die Gettos von Daressalam jedes Jahr um eine halbe Million Einwohner anschwellen lässt." Einer der Stars der Szene ist Sholo Mwamba:



Peter Rehberg macht sich im Freitag Sorgen um den ESC: Nicht nur folgen die Favoriten im Wettbewerb allesamt einer "glatten Musikvideo-Ästhetik", was einen harten Kontrast zu "der Realität von Gewalt und Tod in Europa" bildet. Auch ist der Einfluss der schwedischen Erfolgsformel (auf den auch internationale Acts zurückgreifen) mittlerweile unübersehbar: "Diese Art von Pop ist abstrakt, sie besitzt keine regionale oder nationale Eigenheit und ist von vornherein für ein internationales Publikum produziert. Dieser Pop ist auch meistens 'weiß'. Natürlich sind Abba die Urheber dieser Erfolgsgeschichte, aber als Stil hat sich Schwedenpop längst jenseits individueller Talente etabliert. ... Die ästhetische Dominanz und der kommerzielle Erfolg Schwedens führen aber auch zu einer Homogenisierung des Wettbewerbs. Die 'Peinlichkeiten' und Kuriositäten auf der Bühne, für die der ESC stets geliebt wurde, verschwinden langsam. Derweil fängt ein amerikanisches Fernsehpublikum an, sich für die Show, die auch dort seit fünf Jahren live im Fernsehen übertragen wird, zu interessieren." Unterdessen hat Jan Böhmermann seinen inoffiziell offiziellen Beitrag, die Parodie "Allemagne Zero Points", online gestellt:



Außerdem: Für das VAN-Magazin wirft Nika Parhomovska einen Blick auf Valery Gergievs aktuelle Tätigkeiten, nachdem er im Westen zur Persona Non Grata geworden ist. Marco Schreuder plaudert für den Standard mit dem österreichischen ESC-Duo Teya und Salena. Der Tagesspiegel fragt nach, wozu der ESC eigentlich noch gut ist. Claudius Böhm erzählt im VAN-Magazin die Geschichte des Gewandhausorchesters in der DDR. Reinhard Brembeck wirft für die SZ einen Blick auf die Lage der Laienchöre in Deutschland. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Guadalupe Olmedo und dort Cecilia Pereyra. Simon Sales Prado schreibt in der SZ einen Nachruf auf die brasilianische Rpck-Musikikone Rita Lee

Besprochen werden ein Berliner Rachmaninow-Abend mit dem Pianisten Nikolai Lugansky (Tsp), ein Konzert von Émile Parisien und Vincent Peirani in Frankfurt (FR) und das neue Album von Ed Sheeran (NZZ).
Archiv: Musik

Literatur

Genervt nimmt Marc Reichwein in der Welt zur Kenntnis, dass J. R. Moehringer, der Ghostwriter von Prinz Harrys Autobiografie, sich im New Yorker gerade ausgiebig über seine Tätigkeit auslässt: "Hören denn jetzt selbst die diskreten Berufe auf, diskret zu sein?" Die NZZ setzt Sergei Gerasimowvs Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Leonardo Sciascias "Die Affaire Moro" (online nachgereicht von der FAZ, unsere Kritik hier), Maria Pourchets "Feuer" (Welt), Ralf Rothmanns "Theorie des Regens" (online nachgereicht von der FAZ), Helena Baumeisters Comic "ohcupid" (taz), Matthieu Berthods und Éric Burnands Comic "Berne, nid d'espions. L'affaire Dubois 1955-1957" (NZZ), Zülfü Livanelis "Der Fischer und der Sohn" (SZ) und Herbert Clyde Lewis' "Gentleman über Bord" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Charkiw

Bühne

Dorothee Hartinger, Birgit Minichmayr, Sabine Haupt. Foto © Marcella Ruiz Cruz


Die Zeiten der "Künstlerfürsten mit despotischer Allmacht" mögen auch am Theater vorbei sein. Doch immerhin erweisen Birgit Minichmayr als Emanuel Striese in "Der Raub der Sabinerinnen" am Wiener Akademietheater und Stephanie Reinsperger als Buscon in "Theatermacher" am Berliner Ensemble den "alten, weißen Männern" nochmal die letzte Ehre, schreibt ein amüsierter Bernd Noack in der NZZ: "Zwei klassische Figuren der dramatischen Literatur dürfen derzeit auf deutschsprachigen Bühnen wüten, toben und leiden. Und zwei Schauspielerinnen zeigen dabei bravourös, was in diesen Männern steckt: Machtgeilheit gepaart mit purer Leidenschaft. ... Und auf einmal, für jeweils zwei Stunden, ist es egal, welchen Geschlechts diese Besessenen sind: Stefanie Reinsperger und Birgit Minichmayr sind ganz einfach und doch auf eine perfide altmodische Art 'Fallensteller', wie es bei Thomas Bernhard einmal heißt, die durch Irritation zu Einsichten führen."

Matthias Pees, neuer Intendanten der Berliner Festspiele, skizziert im Gespräch mit der SZ, wo das Theatertreffen künftig hin will. Den Vorwurf, dass das Festival stelle eine "abgeschlossene Bubble" dar, weist er zurück: "Das Festival und seine öffentliche Wahrnehmung sind viel zu groß, als dass es sich nur an ein paar Eingeweihte richten würde. Außerdem arbeiten wir aktiv daran, es weiter zu diversifizieren ... Aber mich interessiert eine stärkere Öffnung des Festivals in Richtung Mittel- und Osteuropa. Wir teilen mit unseren östlichen Nachbarn dieses lokal oder regional ausrichtete Stadttheatersystem mit festen Ensembles und Repertoireprogramm. Den Aspekt des ernsthaften Einbezugs mittel- und osteuropäischer Perspektiven und Erfahrungen in unsere Auseinandersetzung mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft finde ich eigentlich seit mindestens 20 Jahren wichtig. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das noch einmal dringlicher geworden."

Weitere Artikel: In der Zeit kommentiert Christine Lemke-Matwey den umstrittenen, musikalisch aber brillanten Auftritt Anna Netrebkos im Rahmen der Maifestspiele in Wiesbaden und erinnert daran, dass "eine einzelne Künstlerin Kriege weder führen kann noch beenden". Ein Teil des Hessischen Staatsorchesters war anderer Meinung und spielte auf einer Protestveranstaltung die ukrainische Nationalhymne, bevor es im Staatstheater seine Pflicht erfüllte, berichtet bei van Hartmut Welscher, der auch lang mit dem ersten Solo-Hornisten sprach. Doris Meierheinrich berichtet in der Berliner Zeitung von den Autorentheatertagen am Deutschen Theater.

Besprochen werden die Fassbinder-Adaption "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Theater Basel, für die nach dem Ausfall von Emilie Charriot Anna Bergmann sehr kurzfristig die Regie übernahm (FAZ), Stephanie Mohrs Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" am Landestheater Linz (Standard), die deutsche Erstaufführung von Missy Mazzolis Oper "Breaking the waves" (nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier) in der Inszenierung von Toni Burkhardt am Stadttheater Bremerhaven (nmz) und in einer Mehrfachbesprechung unter anderen Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Sonne, los jetzt" und Rafael Sanchez Inszenierung von Thomas Melles Diskursstück "Ode" im Rahmen der "Autor:innentheatertage" am Deutschen Theater Berlin (BlZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Ursula, femme et paon de nuit, 1972, Privatsammlung, Bild: Museum Ludwig

Wie schon Tagesspiegel-Kritikerin Helga Meister (unser Resümee hier) kann es auch Kathrin Lorch in der SZ kaum fassen, dass die Werke der Künstlerin Ursula Schultze-Bluhm so lange so wenig Beachtung fanden. Sie jedenfalls ist begeistert von den "irren, bunten und gewaltigen" Traumwelten, die die 1999 verstorbene Künstlerin erschaffen hat und die nun (endlich) in der Retroperspektive "Ursula. Das bin ich. Na und?" im Museum Ludwig in Köln zu sehen sind: "Überraschend ist nicht nur die Qualität. Sondern auch, dass die nun erstmals ausgewickelten Gemälde so frisch wirken, fast zeitgenössisch. Die meisten könnten direkt auf Kunstmessen oder Malereiausstellungen in Los Angeles, London und Berlin gezeigt werden. Schon wegen der unbekümmerten und sehr privaten Motivik, die sich zu einem unüberschaubaren, vielgestaltigen und verwirrenden Kosmos auffächert, während die Brillanz, Schönheit und Virtuosität der Großformate die Präsentation zusammenhalten."

In der FAZ schildert Max Zitzmann seine Eindrücke vom Austellungsraum Hangar Y, der in einer ehemaligen Flugzeughalle in der Pariser Banlieue eröffnet wurde: "Offen und hell ist die renovierte und behutsam modernisierte Halle heute erst recht. Ihre Hauptfront ist vom Boden bis zur Spitze des Satteldaches verglast, mit einem sehr edel wirkenden, im Durchblick nach außen hochtransparenten Glas. Dessen filigrane Metalleinfassungen verweisen in heutiger Stilsprache auf die grazilen Eiffel-Tragestrukturen der warmbraunen Holzdächer über dem Hauptschiff und den beidseitigen Mezzaninen. Der neue Hangar Y wirkt weiträumig, aber nicht einschüchternd, funktional, aber nicht unbeseelt, modern, ohne seine Geschichte zu verleugnen." Der Projektleiter Frédéric Jousset erläutert im Artikel seine Idee eines "Ausstellungsraums ohne Schwellen". Es gibt einen "Skatepark, ein Restaurant, Ateliers für Kinder. Und einen Ort, der die fünf Sinne anspricht: durch die Kunstwerke, die Düfte des Parks, die Skulpturen zum Anfassen, die durch den Sternechef Guillaume Sanchez ausgefeilten Speisen, demnächst auch durch Konzerte und - ab 2024 - Aufführungen der Tanzschule von Benjamin Millepied und vieles mehr." Ob die Bewohner der Banlieue das bezahlen können, verrät Zitzmann nicht.

Weitere Artikel: Zum 25-Jährigen Jubiläum der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) trifft monopol-Kritikerin Sarah Alberti deren Direktorin Franciska Zólyom für ein längeres Interview. Hanno Hauenstein kommentiert in der Berliner Zeitung den offenen Brief, in dem Künstler und Kulturschaffende den Initiator der Digitalkunst-Ausstellung "Dimensions" in Leipzig Walter Smerling und ihren Hauptsponsor, das US-Datenanalyse- und Überwachungsunternehmen Palantir, des "Artwashings" bezichtigen.

Besprochen werden die Ausstellung "Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912 - 2023" im Albertinum Dresden (FAZ), die Ausstellung "UFO 1665. Die Luftschlacht von Stralsund" in der Kunstbibliothek im Kulturforum Berlin (taz), die RAW-Fototriennale in Worpswede (taz), die Installationen des Künstlers Rirkrit Tiravanija im Haus der Kunst in München (monopol), die Ausstellung "In your Anger, I see fear" mit Werken der Künstlerin Lydia Pettit in der Galerie Judin in Berlin (tsp) und die Ausstellung "Glasblick und Wachshaut" über das Wiener Panoptikum im Photoinstitut Bonartes in Wien (Standard).
Archiv: Kunst