9punkt - Die Debattenrundschau

Weltdominanz ist noch keinem geglückt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2019. In der SZ erinnert Karl-Markus Gauß daran, dass das heute so ethnisch-homogene Osteuropa einst ein Inbild der Vielfalt war.  In der FR, der Welt und im Bundestag wird über China gestritten: Ist seine Expansion so harmlos, wie Politikwissenschaftler Parag Khanna in der FR versichert? Die FAZ porträtiert den französischen Philosophen Gaspard Koenig, der Künstliche Intelligenz mit Leibeigenschaft vergleicht. In der New York Times erklärt ein Student, warum er als Rassist angesehen wird, obwohl er ein Linker ist: Er ist Jude und verteidigt Israel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.11.2019 finden Sie hier

Europa

Teile der katholischen Kirche in Polen betreiben im Schulterschluss mit der PiS-Partei weiterhin ein totales Abtreibungsverbot, berichtet Hella Camargo bei hpd.de. Auch Sexualkunde-Unterricht soll möglichst unterbunden werden: "Erst im Oktober stimmte die PiS-Partei Reuters zufolge noch für einen Gesetzesentwurf, der es verbieten solle, unter 15-Jährige zu sexuellen Handlungen aufzufordern. Was zunächst wie ein Schutz Minderjähriger klingt, könnte sich in das komplette Gegenteil entwickeln, wenn Unterricht zur sexuellen Aufklärung im Rahmen eines solchen Gesetzes als Aufforderung ausgelegt und damit verboten würde. Da Schulen keine Aufklärung betreiben und Jugendliche auf ein Familienleben vorbereiten sollen, bleibt die Aufklärung Freiwilligenorganisationen überlassen. Sollte der Gesetzesentwurf schließlich erlassen werden, wäre das besonders fatal in einem Land, in welchem eine Abtreibung kaum möglich ist."

Ebenfalls bei hpd.de bespricht Armin Pfahl-Traughber einen programmatischen kleinen Band der "Säkularen Sozis", die in der SPD bekanntlich keinen Arbeitskreis gründen dürfen (unsere Resümees). Auch die Partei werde in dem Band kritisiert, so Pfahl-Traughber, der eine Passage zitiert: "Seit 1945 hat sie keineswegs weltanschaulichen Pluralismus praktiziert, sondern … das pessimistische patriarchalische Menschenbild insbesondere der katholischen Kirche kritiklos übernommen, sich peu à peu vor den Karren der Kirchen spannen lassen und damit zur Machtsicherung des katholischen Klerus samt seiner vormodernen … 'Hirtenideologie' beigetragen"

Was die nationale Vielfalt betrifft, war der Osten einmal so reich, wie es der Westen heute gern wäre, schreibt Karl-Markus Gauß in der SZ: "Damals waren es die Staaten des Westens, die ethnisch und sprachlich homogene Territorien zu schaffen trachteten, der Nationalismus galt ihnen als zukunftsmächtige Kraft, die den überkommenen Wildwuchs kleiner und kleinster Identitäten beseitigen und dem Fortschritt breite Bahn bereiten werde. Im Osten hingegen lebten in jeder Region, jeder Kleinstadt oft mehr als ein Dutzend Nationalitäten zusammen, und einen bunten Flickenteppich bildeten auch die Religionsgemeinschaften mit ihren zahllosen Sekten, abtrünnigen Gemeinschaften, geduldeten Ketzern. (…) Dem aufgeklärten, sich nationalstaatlich zurüstenden Westen von 1900 galt der ethnisch durchmischte Osten jedoch als welthistorisch rückständige Provinz, gerade weil er noch nicht vom Geist des Nationalstaats erfasst worden war. Rückständig mutet vielen von uns der Osten auch heute an, und zwar just, weil manche Staaten dort nachzuholen versuchen, was der Westen schon längst hinter sich hat."

Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan hat der italienischen Zeitung La Repubblica ein Interview über die schon in türkischen Grundschule beginnende nationalistische Indoktrination gegen Kurden gegeben, in einer Übersetzung der belgischen Zeitung Le Soir wurde das Interview ohne Erdogans Wissen abgedruckt und verfälscht, dort hieß es etwa "Wir lernen von der Grundschule an, Kurden zu hassen". Die russische Nachrichtenagentur Sputnik griff das Interview auf, türkische Medien entfesselten eine Kampagne gegen Erdogan, die in Folge mit dem Tode bedroht wurde. Im FAZ-Gespräch mit Karen Krüger erklärt Erdogan: "In der Türkei braucht man immer wieder eine Figur, um den Hass in der Gesellschaft zu kanalisieren. Das war schon immer so, und nun, in diesen Tagen des Krieges und der Wirtschaftskrise, sind solche Figuren vielleicht besonders wichtig. Außerdem trifft es seit einiger Zeit vermehrt kritische Stimmen, die mit Deutschland zu tun haben. Denken Sie an Can Dündar oder Deniz Yücel. Jetzt bin offenbar ich an der Reihe."

Schon gestern kritisierte Thomas Steinfeld in der SZ Venedigs Bürgermeister Luigi Brunaro, der den Klimawandel für die verheerenden Zerstörungen durch das Hochwasser verantwortlich machte. (Unser Resümee). Heute legt Steinfeld nach: Längst hätte der hydraulische Damm fertig sein können: "Mit den Planungen für dieses Bauwerk wurde im Jahr 1966 begonnen, bald nachdem die bislang höchste Flut überhaupt die Stadt heimgesucht hatte. Entworfen wurde es in den Achtzigern, die ersten Arbeiten wurden im Jahr 2003 ausgeführt, und spätestens im Jahr 2016 hätte es in Betrieb gehen sollen. Daraus wurde nichts, vor allem, weil der Damm einer regionalen Elite aus Politikern und Geschäftsleuten zur persönlichen Bereicherung diente. Jetzt sollen noch etwas mehr als zweihundert Millionen Euro zur Fertigstellung fehlen, woraufhin die Anlage dann im Dezember 2021 ihre Funktion erfüllen könnte. Doch auch wenn jetzt überall nach einem entsprechenden Beschluss gerufen wird: Es gibt ihn noch nicht."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Blake Flayton ist Student an der George Washington University Universität und betrachtet sich seit je als Linker, der sich unter anderem für LGBT-Rechte einsetzt. Da er aber Jude ist und wie 95 Prozent der amerikanischen Juden das Existenzrechts Isreals verficht, sieht er sich an seiner Uni komplett ausgegrenzt - denn natürlich spricht sich die Studentenvertretung seiner Uni für die Israelboykottbewegung BDS aus. In der New York Times schreibt er: "Diese Gruppe wie so viele andere Gruppen an meiner Uni und in vielen Universitäten im ganzen Land sehen Zionismus in Nachäffung jahrzehntealter sowjetischer Propaganda als Rassismus. Wer auch nur die Worte 'Recht auf Existenz' auszusprechen wagt, ist für sie unbestreitbar ein Rassist. Da sich praktisch alle Juden für Israel aussprechen, auch wenn die Mehrheit von uns der israelischen Regierung kritisch gegenübersteht, betrifft diese Intoleranz eine große Zahl junger amerikanischer Juden. Ich bin einer von ihnen."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Politische Online-Werbung muss gesetzlich reguliert werden, fordert Julian Jaursch vom Thinktank Stiftung Neue Verantwortung in der SZ und schlägt unter anderem vor: "Direkt im Newsfeed müsste ersichtlich sein, woher die Werbung kommt, wer sie finanziert, welche Eigenschaften für das Targeting wichtig waren und welche Menschen somit ausgeschlossen wurden. Neben den Plattformen sind hier die Parteien gefragt, Verantwortung für eine offene politische Kommunikation zu übernehmen."
Archiv: Internet

Politik

Für die FR protokolliert Arno Widmann ein Gespräch zwischen dem Schriftsteller Friedrich Christian Delius, der in seinem jüngsten Roman "Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich" skizziert, wie Europa zunehmend in die Abhängigkeit Chinas gerät, und dem amerikanischen Politikwissenschaftler Parag Khanna, der in seinem Buch "Unsere asiatische Zukunft" das Wiedererstarken Asiens nach Kolonialismus und Kaltem Krieg beschreibt. Delius erzählt, wie sein Protagonist beobachtet, "wie ökonomische Macht schleichend oder offen zu politischer Macht wird. Unsere mühsam erkämpfte Gewaltenteilung und die Grundrechte, das sind nicht gerade die Maximen Chinas, und mein Journalist wundert sich da nur, wie wir an so vielen Punkten defensiv werden. Gerade die Deutschen, die immer noch meinen, fast überall die besten und tollsten zu sein. Dieser fürchterliche Weltmeisterfimmel macht uns so blind für die wirkliche Lage und die Zukunft." Khanna wiegelt ab: "Was ist Besonderes daran, wenn China expandiert? Warum tun wir so, als wäre China die Ausnahme? Noch etwas: 'Weltdominanz' ist noch keinem geglückt."

Bei einer Rede im Bundestag distanzierte sich der Linken-Abgeordnete Stefan Liebich von den Protesten in Hongkong und behauptete, dass auch Hongkong einst durch die britische Armee "China militärisch abgepresst" wurde. Es sei gut, dass dieses koloniale Unrecht zu Ende ist. In der Welt ärgert sich die Hongkong-Chinesin und politische Aktivistin Glacier Kwong: Erstens sei "die kommunistische Partei" eher rechts als links, sie beute ihre Arbeiter aus und "bete den Dollar an", hält sie fest und stellt dann klar: "Damals, im 19. Jahrhundert, wurde China von den Mandschu regiert, die seinerzeit selber in China als Ausländer galten. China damals ist nicht China heute. Hongkong wurde nicht der Volksrepublik militärisch abgepresst, sondern von den Briten kolonisiert - anstelle der Mandschu. Historisch gesehen war zudem die Republik China die Erbin der Qing-Dynastie - die Republik, die nach dem Bürgerkrieg 1929 bis 1949 nach Taiwan ausgewichen ist. Deshalb stimmt auch Liebichs Behauptung vom kolonialen Unrecht nicht. Wenn, dann müsste Hongkong an Taiwan, die Republik China, zurückgegeben werden und nicht an die Volksrepublik."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

Iris Mönch-Hahn schließt ihre Librairie allemande in Paris, berichtet das Börsenblatt. Grund ist letztlich zu wenig Kundschaft, trotz der 50.000 Deutschen, die in Paris leben: "Auch bezüglich der Bestellungen von Seiten der deutschen Institute oder der Schulen in Paris habe sie keine Unterstützung erfahren. Dazu kommen 'die schwierigen politischen Umstände in der Stadt wie Attentate, Gelbwesten-Bewegung, Streiks - als nächstes wird es unbegrenzt ab 5. Dezember 2019 einen Generalstreik sämtlicher öffentlicher Verkehrsmittel geben. Sie alle verhindern den Besuch von potenziellen Kunden aus dem Umland von Paris.' Seit November 2018 sei der Umsatz an Samstagen wegen der Beeinträchtigungen durch die Gelbwesten-Bewegung dramatisch gefallen." Laut Börsenblatt schließt damit die letzte deutsche Buchhandlung in Paris.
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchhandel

Überwachung

Die Polizei will immer häufiger komplexe Aussagen aus DNA-Analysen von Tätern ableiten, nicht nur Haar- oder Augenfarbe. Im Gespräch mit Anna Biselli von Netzpolitik warnt die Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt: "Aus DNA kann man nichts 'ablesen', denn da gibt es keinen Text, in den etwas hineingeschrieben ist. DNA ist auch kein Augenzeuge, der auf die Wache kommt und eine Aussage machen möchte. DNA ist ein hochkomplexes Gebilde und WissenschaftlerInnen müssen ungeheuer vielseitige Fähigkeiten haben, um diese Informationen interpretieren zu können... Bei der Verhaltensgenetik versucht man etwa mit großen Datensätzen zu beweisen, dass bestimmte SNPs mit bestimmten Verhaltensweisen oder psychischen Erkrankungen zusammenhängen. Das interessiert nicht nur ErmittlerInnen: Versicherungen beispielsweise würden gern mit solchen Informationen arbeiten."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: DNA-Analysen, Netzpolitik

Ideen

Christian Schubert porträtiert für die FAZ den ungewöhnlichen französischen Philosophen Gaspard Koenig, der sich nicht scheut, für seine Bücher zu recherchieren und Interviews zu führen. In seinem jüngsten Buch "Fin de l'individu" (noch nicht übersetzt) vergleicht er Künstliche Intelligenz mit Leibeigenschaft: "Koenig, der Liberale, bedauert, dass wir schleichend unseren Willen zu eigenverantwortlichen Entscheidungen aufgeben. KI wählt für uns den Partner, die Arbeitsstelle, was wir lesen, essen und mit welchen Freunden wir in Kontakt stehen. 'Auszusteigen wird immer schwieriger. Das unterhöhlt aber die Basis der offenen Gesellschaft. Wie Popper sagte, gehört dazu, dass sich der Einzelne dem Stamm entziehen kann', klagt Koenig."

Außerdem: Maßnahmen gegen die Klimakrise reichen nicht, sagt der Philosoph Charles Eisenstein  ("Klima - Eine neue Perspektive") im Gespräch mit Laura Sophia Jung von der taz, wir müssen ins gesamt ökologisch wirtschaften: "Ich glaube, wir müssen die Erde anders sehen. Sie ist nicht einfach ein Haufen Ressourcen. Sie ist lebendig, heilig, ein bewusstes Wesen."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Dass die Bundesregierung heute über eine Reform der Limbach-Kommission zur Rückgabe von NS-Raubkunst berät, begrüßt Ronald S. Lauder vom Word Jewish Congress durchaus - auch wenn er sich vor noch mehr "lähmender Bürokratie" fürchtet, denn schon bisher hieß es auf Nachfragen der Hinterbliebenen: "Anträge möge man bitte ausschließlich in deutscher Sprache einreichen; und man möge sich doch bitte um vier Uhr morgens bereithalten für Videokonferenzen zur Darlegung des eigenen Falls." Lauder schreibt weiter: "Klar ist jedoch auch, dass diese Reform nicht das Ende aller Bemühungen sein kann und sein wird. Eine jüngst veröffentlichte Studie, wonach allein Museen in Nordrhein-Westfalen über 770 000 Kunstwerke besitzen, die eine unklare Herkunft aus der NS-Zeit vorweisen, verdeutlicht die Dimension. Eine Lösung für private Sammlungen und Stiftungen ist ohnehin längst überfällig."
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