9punkt - Die Debattenrundschau

Symbol dieser Apartheid

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2020. Das Kopftuch für Mädchen, die noch nicht in der Pubertät sind, wird an deutschen Schulen häufig akzeptiert, kritisiert Necla Kelek in der Zeit. Dabei zementiert es "eine Rollenzuschreibung, die sich nicht mit dem Grundgesetz verträgt". Ebenfalls in der Zeit wehrt sich Mouhanad Khorchide gegen die "angebliche Spaltung unserer Gesellschaft nach Religionszugehörigkeit". Dank Trump geht es  New York Times, Washington Post und CNN besser denn je, sagt der New-York-Times-Kolumnist Ben Smith in der SZ. Überall, nicht nur in Polen, verschlechtert sich die Lage beim Thema Abtreibung, konstatieren die taz, Alice Schwarzer bei emma.de und die SZ. Wenig Berichte in den großen Medien über die Google-Finanzierung großer Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.10.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Das Kopftuch für Mädchen, die noch nicht in der Pubertät sind, war lange Zeit auch in islamischen Staaten unüblich. Es hat sich erst mit dem Erstarken des Islamismus durchgesetzt. In Deutschland wird es bisher akzeptiert, kritisiert in der Zeit Necla Kelek, die auch im Verein "Terre des Femmes" unermüdlich gegen diese Praxis kämpft. Denn das Kopftuch bedeute "eine Rollenzuschreibung, die sich nicht mit dem Grundgesetz und den Grundsätzen einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft verträgt: Konservative Muslime leben in der Vorstellung, dass Mann und Frau gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt seien. Dem Koran nach ist der Mann das überlegene Wesen. 'Männer stehen über den Frauen', heißt es in Sure 4, Vers 34. Die sexuelle Verfügbarkeit der Frau, sagt der anerkannte Islamwissenschaftler Tilman Nagel, sei 'Kern und Inbegriff des Verhältnisses von Mann und Frau' im Islam. Das Kopftuch - also das Verbergen der weiblichen Reize vor Fremden durch Verhüllung in der Öffentlichkeit - ist so etwas wie das besitzanzeigende Symbol dieser Apartheid, der Trennung nach Geschlechtern." Die Zeit veröffentlicht flankierend eine Umfrage: 71 Prozent der Deutschen lehnen ein Kopftuch für Mädchen unter 14 Jahren ab.

Ebenfalls in der Zeit äußert Mouhanad Khorchide, der für einen reformierten Islam eintritt, Zweifel am Sinn des neu gegründeten "Expertenkreises gegen Muslimfeindlichkeit" im Bundesinnenministerium. So nützlich der Kampf gegen Diskriminierung, so sehr fürchte er, "dass die immer einseitigere Rede von den 'durch die Mehrheitsgesellschaft' diskriminierten Muslimen eine falsche Trennlinie zieht: zwischen Nichtmuslimen und Muslimen, zwischen Mehrheit und Minderheit. Als stünden sie sich in Deutschland als feindliche Blöcke gegenüber. So ist es aber nicht. Das Beharren auf der angeblichen Spaltung unserer Gesellschaft nach Religionszugehörigkeit ist ein identitätspolitischer Irrtum, der den Identitären gefallen dürfte - seien sie nun Rechtspopulisten oder Vertreter des politischen Islams. Letztere treten auch deshalb so vehement als Anwälte einer benachteiligten Minderheit auf, um sich selbst gegen Kritik zu immunisieren. Zugleich betreiben sie Hetze gegen Muslime wie mich."
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Kulturpolitik

Chemnitz soll 2025 die deutsche Kulturhauptstadt werden. Auf Zeit Online begrüßt Steffi Hentschke die Entscheidung: "Es ist kein Zufall, dass nun ausgerechnet eine Stadt, die zu einem Synonym für den Rechtsruck in Deutschland geworden ist, mit dem Titel Kulturhauptstadt ausgezeichnet wird. Die Ernennung ist implizit auch eine Würdigung der Chemnitzer Zivilgesellschaft, die sich damals gegen die Rechten aufgebäumt hat, Gegendemonstrationen und Konzerte organisierte und seitdem ohne Pause an einem besseren Bild von Chemnitz gearbeitet hat."
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Medien

Trotz vier Jahren Trump geht es der New York Times, der Washington Post und CNN besser als je zuvor, sagt New-York-Times-Kolumnist Ben Smith im SZ-Gespräch mit Willi Winkler, in dem er sich auch dagegen ausspricht, dass Twitter oder Facebook Inhalte sperren: "Natürlich kann man eindeutige Lügen, offensichtliche Verleumdung und Aufhetzung blockieren. Ich bezweifle aber, dass Twitter und Facebook überhaupt über die Voraussetzungen verfügen, um beurteilen zu können, was eine verlässliche Nachricht ist und was nicht. Dafür braucht es Journalisten, die das gründlich recherchieren. Allerdings gäbe es die Möglichkeit, dass sie, statt bestimmte Websites zu blockieren, etablierte Medien, von deren Verlässlichkeit sie überzeugt sind, auf eine weiße Liste setzen und sie damit nach vorn spielen."

In der FR berichtet Sebastian Borger, wie Boris Johnson die BBC unter Druck setzt: "An der dauerhaften Feindseligkeit des populistischen Premierministers und seiner engsten Crew besteht kein Zweifel. Medienprofessorin Jean Seaton von der Uni Westminster grub kürzlich einen Blog von Johnsons Chefberater Dominic Cummings aus dem Jahre 2004 aus: Schon damals wurde 'die Unterminierung der Glaubwürdigkeit der BBC' als strategisches Ziel ausgegeben. Nach dem klaren Wahlsieg im vergangenen Dezember verfügte Cummings einen Boykott des Senders." Im FR-Interview mit Borger spricht die Medienexpertin Jean Seaton außerdem über Johnsons Umgang mit der BBC.

Ingo Dachwitz und Alexander Fanta haben bei der Otto-Brenner-Stiftung eine Studie zur Medienfinanzierung durch Google vorgelegt ("Medienmäzen Google", unsere Resümees). Bei Netzpolitik erläutern sie die Ergebnisse ihrer Studie. Google hat vor allem Projekte von Medien wie die FAZ, den Spiegel, die Zeit finanziert: "Die typischen Empfänger des Google-Geldes waren also etablierte große Medienunternehmen aus Westeuropa. Auch Regionalverlage und journalistische Neugründungen sind unterrepräsentiert, so dass der DNI-Fonds den Wettbewerbsvorteil etablierter Großverlage weiter gestärkt hat. Die Liste der deutschen Mittelempfänger:innen liest sich wie ein Who's Who der hiesigen Verlagsbranche. 28 Großprojekte mit einem Volumen zwischen 300.000 und einer Millionen Euro hat Google hier gefördert."
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Europa

Noch vor der Ermordung Samuel Patys hielt Emmanuel Macron eine Rede, in der er sein Vorgehen zur Bekämpfung des "islamischen Separatismus" erklärte, erinnert Sascha Lehnartz in der Welt. Macron machte klar, dass er nicht Muslime bekämpfen wolle, sondern forderte eine "Neustrukturierung" des Islam in Frankreich. Schon damals verstand Erdogan Macron bewusst miss, so Lehnartz: "Denn was der französische Präsident hier skizziert, ist der Aufbau eines Islams in und aus Frankreich, der sich ausländischen Ein- und Geldflüssen entzieht - und der fest auf dem Wertefundament der Republik steht. Macron ist klar, dass er hier eine Utopie entwirft, ein politisches Projekt, das Jahrzehnte dauern wird. Aber am Ende stünde ein Islam, der mit den Ideen der Aufklärung vereinbar wäre. Die Krise zwischen Frankreich und der Türkei erscheint so als Vorbote einer neuen Episode im Kampf der Kulturen. Es geht um die Frage, welcher Islam in Europa eine Zukunft hat. Und wer die Deutungsmacht über ihn besitzen soll. Es ist klar, dass jemand wie Recep Tayyip Erdogan und sämtliche Islamisten einen aufklärungskompatiblen Islam nicht wollen." In der FAZ analysieren Rainer Herrmann und Matthias Rüb den von Tayyip Erdogan und der Al-Azhar-Univerisätt in Kairo neu inszenierten Kulturkampf gegen die Mohammed-Karikaturen - sie wollen es jetzt mit juristischen Mitteln versuchen.

Das polnische Abtreibungsurteil (unser Resümee) bedeutet "eine Art Folter, psychische und physische. Mitten in Europa", schreibt Ann-Kathrin Eckardt in der SZ. Aber Polen sei kein Einzelfall: "Laut WHO stirbt alle sieben Minuten auf der Welt eine Frau an den Folgen eines illegal und medizinisch nicht korrekt durchgeführten Abbruchs." Dabei "stehen die Verschärfungen der Abtreibungsgesetze weltweit sinnbildlich für die immer noch ungleich verteilten Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Die 'Babyfabriken' von Menschenhändlern in Nigeria, die systematische Vergewaltigung von Jesidinnen oder aktuell die zum Gebären gezwungenen Polinnen - der weibliche Körper ist Austragungsort ideologischer Feldzüge, deren Ziel es ist, Gesellschaften zu spalten, fragwürdige Bevölkerungspolitik zu betreiben und Frauen zu unterdrücken."

Auch in Deutschland ist Abtreibung nach wie vor verboten und allenfalls so etwas wie ein Gnadenrecht, schreibt Alice Schwarzer bei emma.de. Und auch legale Abtreibung wird immer schwerer, weil immer weniger ÄrztInnen den Eingriff vornehmen: "Sie erlauben es sich entweder im Namen ihrer persönlichen Überzeugung, den Frauen diesen elementaren Dienst zu verweigern, oder aber wagen es nicht mehr, denn in katholischen Krankenhäusern beziehungsweise katholischen Regionen wie Bayern kann sie das ihre Stelle kosten. Ganz zu schweigen von der Bedrohung der ÄrztInnen, die öffentlich über schonende Abtreibungsmethoden aufklären, mit Gefängnis."
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Politik

Selbst wenn Donald Trump in der nächsten Woche abgewählt wird, hinterlässt er ein Erbe, das die USA auf Jahrzehnte prägt - durch die Ernennung der erzkonservativen Richterin Amy Coney Barrett, die das durch das Urteil "Roe gegen Wade" einst erkämpfte Recht auf Abtreibung ablehnt und mit ihren konservativen Ko-Richtern kassieren könnte, schreibt Dorothea Hahn in der taz: "Barrett ist Katholikin und gehört der radikalen Gruppe 'People of Praise' an. Ihre Religiosität ist eine neue Art der Synthese zwischen evangelikalen Christen und Katholiken. Nachdem der Präsident den evangelikalen Fundamentalisten die Abschaffung von 'Roe gegen Wade' versprochen und nachdem Barrett das Grundsatzurteil kritisiert hat, können die evangelikalen Fundamentalisten erwarten, dass die solide rechte Mehrheit im Obersten Gerichtshof das Grundsatzurteil kippen wird, gegen das sie seit Jahrzehnten kämpfen." Trump ist alles andere als ein Vorzeige-Christ und doch halten ihm die evangelikalen Christen nach wie vor die Stange, schreibt auch Jörg Häntzschel in der SZ.
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Ideen

Es gibt noch eine andere Linke in Amerika als jene, die allein auf Differenzen und Identitäten setzt (und sie mit peniblen Kategoriensystemen in Social-Justice-Theorien wie Gender oder Queer Studies definiert), nämlich diejenige Linke, für die der übliche Verdächtige "Neoliberalismus" heißt. Sie organisieren sich bei den "Democratic Socialists of America (DSA)", einer immer einflussreicheren Organisation. Zu ihren Repräsentantinnen gehören Alexandria Ocasio-Cortez oder die Israelkritikerin Ilhan Omar, erklärt Thomas Assheuer in einem lehrreichen Hintergrundartikel in der Zeit. Und auch die Philosophin Nancy Fraser zählt dazu. Für sie ist der "Neoliberalismus" "jene unheilige Allianz aus Marktradikalen und Kulturlinken, die in den Neunzigerjahren von Bill Clinton geschmiedet worden sei. Clinton habe das Versprechen von Freiheit und diversity benutzt, um seiner neoliberalen Politik den Charme des gesellschaftlichen Aufbruchs zu geben. Ohne Rückgriff auf den Feminismus ('mehr Frauen in Vorstandsetagen'), ohne den spirit von Antirassismus und Multikulti, von Lesben- und Schwulenbewegung, kurz: ohne die Verheißung von ethnischer Vielfalt, empowerment und Aufstieg ('Streng dich an, dann schaffst du es') wäre es Clinton niemals gelungen, den Markt von der Kette und das Herz der Wall Street höher schlagen zu lassen - der Widerstand in der Bevölkerung wäre zu groß gewesen." Vielleicht ist es ja auch die Spaltung der Linken in diese beiden gleich gaga Fraktionen, die Trump erst ermöglichte?

Gesellschaft ist keine Organisation, obwohl alle, die davon träumen sie zu ändern, sie wie eine Organisation behandeln wollen, schreibt Armin Nassehi in der FAZ. Von Belang ist diese Einsicht in Bezug auf die Bekämpfung von Corona und die Frage, wie durchsetzbar Maßnahmen sind: "Politische Liberalität hat sich in der europäischen Denkgeschichte vor allem als Schutzrecht gegenüber dem Staat durchgesetzt - wenn man so will: gegen die Organisierbarkeit der Gesellschaft. Sie musste Organisationen erfinden, um koordiniertes Verhalten trotzdem etablieren zu können: die Fabrik ebenso wie die Verwaltung, das Unternehmen ebenso wie Bildungsinstitutionen. Das Selbstbild des 'Gesellschaftlichen' dagegen ist Freizügigkeit in dem Sinne eines möglichst wenig programmierbaren Verhaltens."  Christian Rath kritisiert unterdessen in der taz, dass die neusten Corona-Maßnahmen wieder Grundrechte einschränken - unter den Augen "schläfriger Parlamente".

In der NZZ kann der Philosoph Maurizio Ferraris über jene Kollegen nur den Kopf schütteln, die Coronamaßnahmen wie das Tragen von Masken oder das Einschränken des Versammlungsrechts kritisieren: "Jeder, der es möchte, kann dem eigenen Leben ein Ende setzen (…). Niemand hat jedoch das Recht, einen Infektionsherd zu bilden." Und weiter: "Die Philosophen, die sich gegen die Maskenpflicht auflehnen, bilden eine homogene Gruppe. Sie schreiben allesamt dem Neoliberalismus jene Eigenschaften zu, die in der McCarthy-Ära dem Kommunismus vorgeworfen wurden: Sie sprechen mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit von fortschreitender Verwüstung, von Nihilismus und Herrschaft der Technik, als würden wir noch im 19. Jahrhundert leben."

Ebenfalls im NZZ-Feuilleton rät die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme dazu, die Zeit der Kontaktbeschränkungen zu nutzen, indem wir "unseren eigenen Berührungsbedürfnissen nachspüren, diese zulassen und uns selbst diese erfüllen." Viel retweetet wird eine Visualiserung von Ansteckungsgefahren durch Corona in der englischsprachigen Ausgabe von El Pais.
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