Efeu - Die Kulturrundschau

Ab jetzt schaut jedes Auge einzeln

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22.05.2014. In Cannes lief unter anderem Jean-Luc Godards erster 3D-Film "Goodbye to Language" und hat critic.de das Schielen gelehrt. Die Welt feiert die kolossale Freiheit des Gerhard Richter. Die taz betrachtet die toten Kreisläufe des Politkünstlers Paul Chan. Der Freitag liest Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" ganz neu im magazinigen Pop-Appeal. Und Charles Aznavour wird neunzig.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2014 finden Sie hier

Film

Cannes, 8. Teil. Cristina Nord hat im Grand Theatre Lumiere Naomi Kawases "Still the Water" gesehen und berichtet von vereinzelt "großartigen Momenten", auch wenn es für ihren Geschmack "manchmal zu viel Naturmystik und zu viel Einverständnis in den unvermeidlichen Lauf der Dinge" gab.

Mit großer Spannung erwartet wurde auch "Lost River", das Regiedebüt von Ryan Gosling. Der hat damit einen "transzendentalen Horrorfilm im Zeichen der Finanzkrise" vorgelegt, berichtet Fréderic Jaeger auf critic.de. Zwar findet dieser die Anordung des Films "ein bisschen zu brav", wundert sich dann aber doch, "wie betörend [der Film] dann doch wirkt. Wie die Räume einer vergangenen Zeit ins immer stärker Abstrakte überführt werden und eine unwirkliche Intensität bekommen."

Außerdem lief "Goodbye to Language", der neue Film von Jean-Luc Godard und dessen erste 3D-Arbeit überhaupt. Auf eine Begegnung mit dem Film unter Heimmedien-Bedingungen sollte man allerdings nicht hoffen, schreibt Nino Klingler auf critic.de: Godard hat "den ersten 3D-Film gedreht, von dem es niemals eine 2D-Variante geben wird. Niemals. Denn es ist unmöglich, dieses Biest durch Wegnahme einer Dimension zu zähmen. Schmeißen wir also alles über Bord, was bisher gemacht wurde mit der stereoskopischen Technik: weg mit der geheuchelten Räumlichkeit, weg mit den gesteigerten Immersionseffekten. Stattdessen lassen wir uns abstoßen, lassen wir uns den Blick entreißen, lassen wir zwei Schichten Flachheit anstelle einer illusionären Tiefe treten. Ab jetzt schaut jedes Auge einzeln. Und jedes Ohr hört für sich."

Katja Nicodemus bilanziert in der Zeit die erste Hälfte von Cannes und hebt besonders Nuri Bilge Ceylans türkischen Wettbewerbsfilm "Winter Sleep" als "tiefenpsychologisches Panorama der Stagnation und Sprachlosigkeit" hervor.

Ansonsten empfehlen die Feuilletons viel Geschichte: In der SZ schreibt Fritz Göttler kurz über die Filme von Michael Snow, die das Filmmuseum München zeigt. In Berlin laufen David-Bowie-Filme, schreibt Detlef Kuhlbrodt in der taz. Und das Zeughauskino Berlin bringt eine Reihe mit Filmen zum D-Day, erfahren wir von Julia Brummert in der taz.

In einem Blog zur Aktion "Everyday Rebellion" stellen die beiden iranischen Filmemacher und Brüder Arash und Arman Riahi die Aktivistin Meron Estefanos vor, die in Eritrea den Widerstand gegen Machthaber Isaias Afewerki organisiert.

Besprochen werden Dennis Villeneuves "Enemy" (Perlentaucher, Welt), Johannes Nabers "Zeit der Kannibalen" (Freitag, Tagesspiegel, ZeitOnline), Fred Schepisis "Words and Pictures" (NZZ) und der neue "X-Men"-Film (Freitag, Welt, Perlentaucher).
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Kunst

Einfach schlagend findet Hans-Joachim Müller in der Welt die Gerhard-Richter-Ausstellung in der Fondation Beyeler, die auf Chronologie und ästhetische Verträglichkeiten keine Rücksicht nehme: "Es ist kolossale Freiheit, auf der Richters Malerei gründet. Und eindrücklicher ist selten zu erleben gewesen, wie er immer alles offen und keine Regel gelten ließ, die er sich nicht selber gegeben hat. Keine Gesetze, keine ästhetischen Notwendigkeiten, keine Bedienung eines Stils, keinerlei Rücksicht auf marktdienliche Konsequenz. Vielleicht hat ja wirklich seit Picasso keiner mehr so frei mit den eigenen Möglichkeiten gespielt." (Bild: Gerhard Richter, Lesende, 1994,)

Das Schaulager Basel widmet sich in einer Ausstellung den Arbeiten des enigmatischen Künstler Paul Chan, der sich als Intellektueller in Szene setzt und im Eigen-Ebook-Verlag unter anderem Bücher von Saddam Hussein herausbringt. Carmela Thiele hat sich damit auseinander gesetzt und berichtet in der taz: "Die Mythen des Abendlands dienen ihm wie die Produkte der Unterhaltungsindustrie als Zitatenschatz. Von der Bibel über die Odyssee bis zu Super Mario, alles wird genutzt und umgewertet, um zu zeigen, dass nichts mehr unkommentiert Bestand hat. Diese Totalkritik ist schwer auszuhalten. In seinen neuesten Objektinstallationen, den 'Non-Projections', verbindet Chan Beamer mit Stromkabeln und Steckdosen. Es wird aber gar nichts projiziert, und woher der Strom kommt, ist auch fraglich. Tote Kreisläufe, die nichts mehr zeigen."

Außerdem: In Berlin diskutiert man weiter über das Humboldtforum, berichtet Michael Zajonz im Tagesspiegel.

Besprochen werden Henning Ritters Buch "Die Wiederkehr der Kunstkammer" über moderne Museen (SZ), eine dem Architekt Bernard Tschumi gewidmete Ausstellung im Centre Pompidou in Paris (SZ), eine Ausstellung hebräischer Handschriften im Jüdischen Museum in Berlin (Tagesspiegel) und die die Ausstellung "Lichtzwang" mit 300 Porzellanbecher von Edund de Waal im Theseustempel in Wien (FAZ).
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Literatur

Das Konzept der Zeitschrift Das Buch als Magazin, die literarische Klassiker in Magazinform in ansprechender Gestaltung und mit flankierenden Artikeln in den Bahnhofsbuchhandel bringt, findet Jan Pfaff im Freitag sehr reizvoll, insbesondere was die aktuelle Ausgabe anbelangt, die Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" gewidmet ist. "Als Magazinstrecke ins Jahr 2014 katapultiert, liest sich Schnitzlers Erzählung über Sehnsucht, Versuchung, sexuelle Wünsche und bürgerliches Eheleben frisch, anders, ja neu. Begleitet wird sie von einer Fotostrecke, die in ihrem Willen um erotische Aufladung vielleicht etwas zu sehr verschwitzte junge Menschen inszeniert - trotzdem gibt sie dem Text aber einen Pop-Appeal, den er sonst so nicht hätte."

(Via Carta) Charlotte Reimann stellt auf ihrem Blog weitere Buch-, Branchen und Rezensionsblogs vor. Vor ein paar Wochen hatte sie dene ersten Teil ihres Artikels geliefert. Eine Hamburger Tagung befasste sich mit Problemen und Konjunkturen der literarischen Biografie, berichtet Gregor Dotzauer im Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem Dietmar Daths neuer Science-Fiction-Roman "Feldeváye" (CulturMag), Zsófia Báns Roman "Als nur die Tiere lebten" (FAZ), Gunnar Cynybulks "Das halbe Haus" (Freitag), Ronald Dworkins "Religion ohne Gott (Zeit) und Jan M. Piskorskis ""Dier Verjagten" (Zeit.
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Musik

Noch vor vier Wochen kannte so gut wie keiner die britischen Sleaford Mods, doch nun sind sie in aller Munde, schreibt Jörg Augsburg im Freitag. Für ihn sind sie "das Musterbeispiel eines Hypes, den alle mitnehmen, die auch nur einen Funken von Interesse für Popmusik von der Insel haben, gänzlich unabhängig davon, welchen Stil man ansonsten im Detail bevorzugt. Aber natürlich hat man einfach auch die Schnauze randvoll von all dem Upperclass-Gegniedel, das einem seit Jahren immer und immer wieder vorgesetzt wird."

Sascha Lehnartz gratuliert dem großen Charles Aznavour, der vor neunzig Jahren als Schahnur Waghinak Asnawurjan geboren wurde und heute Abend in Berlin ein Konzert gibt.

Voilà: "Tu te laisses aller!"




Besprochen werden das neue Album "Everybody Down" von Kate Tempest (ZeitOnline), ein Konzert von Tori Amos (Berliner Zeitung) und das Album "Vor 100 Tausend Jahren war alles ganz anders" der Wiener Band Chuzpe (Standard).
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Bühne

Zum 150. Geburtstag von Richard Strauss hat das Opernfestival in Glyndebourne dessen "Rosenkavalier" in einer spielfreudig expliziteren Variante aufgeführt, berichtet Gina Thomas in der FAZ: "Sich an die Anachronismen dieser 'Komödie für Musik' klammernd, deuten Richard Jones und die Ausstatter Paul Steinberg und Nicky Gillibrand den 'Rosenkavalier' als surrealistische Posse, in der sich die Zeit der Handlung, das Wien von 1740, und die Zeit der Komposition am Vorabend des Ersten Weltkriegs wie im Traum vermengen."

Die Berliner Zeitung bringt ein ausführliches Gespräch zwischen Irene Bazinger und dem Countertenor Jochen Kowalski.

Besprochen werden Hèctor Paaras in München aufgefürte Oper "Das geopferte Leben" (SZ) und der Ballettabend "Balanchine/Millepied" in der Opéra Bastille Paris (NZZ).
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