Efeu - Die Kulturrundschau

Akt der Verwilderung

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25.02.2015. Viel diskutiert wird heute Clint Eastwoods Film "American Sniper" über den Scharfschützen Chris Kyle. Die NZZ erzählt derweil die tragische Geschichte des Kriegsveteranen Eddie Ray Routh, der Kyle im Wahn erschoss. Und sie liest ein schon 1967 erschienenes Buch von Pierre Guyotat, "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", das vom Rausch des Mordens singt. Die Zeit versucht den Deutschen den berühmtesten lebenden Dramatiker der Welt schmackhaft zu machen. Die FAS unterhält sich mit Björk über ihre Moma-Retrospektive.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2015 finden Sie hier

Film


Bradley Cooper als "American Sniper"

Clint Eastwoods in den USA enorm erfolgreiches Kriegsfilmdrama "American Sniper" über den Irakveteranen Chris Kyle sorgte in den USA für eine große Debatte, die Andrea Köhler in der NZZ zusammenfasst. Sie erzählt dabei auch die Geschichte des psychisch gestörten Kriegsveteranen Eddie Ray Routh, der den echten Kyle und dessen Freund Chad Littlefield erschoss und dafür gerade zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. "Kyles Mörder war offenbar nicht nur psychisch labil, sondern psychotisch. Wie Nicholas Schmidle in einem Essay aus dem Jahr 2013 im New Yorker berichtete, wurde Routh mit einem hochpotenten Cocktail aus Psychopharmaka gegen PTSD behandelt und - nach mehreren Gewaltausbrüchen und Morddrohungen - auf Wunsch der Eltern mehrfach in die Psychiatrie und ein Veteranen-Hospital eingeliefert. Doch trotz inständigen Bitten der Mutter, die sowohl um das Leben des Sohnes als auch um ihr eigenes fürchtete, wurde Routh immer wieder entlassen. ... Der beschämende Mangel an Fürsorge hat seinen Preis. Eine Studie des besagten Departments ergab, dass sich jeden Tag 22 Veteranen in den USA das Leben nehmen."

Sehr gallig bespricht etwa Simon Rothöhler in der taz den Film: Nicht nur ermüde dessen ständiger Fokus auf gelungene Shots aus der beengten Perspektive des Scharfschützen, auch politisch ist der Blick des Films vielsagend zugeschnitten: "In dieser Fiktion des Zweiten Irakkriegs erinnert sich niemand mehr an niemals gefundene Massenvernichtungswaffen." In Anke Westphals Augen (Berliner Zeitung) zeigt der Regisseur auf beeindruckende Weise, "wie sich Heimkehrer nicht mehr zurechtfinden im zivilen Leben", weshalb sie dem Film bescheinigt, ein "Antikriegsfilm voller hochverdichteter Actionszenen" zu sein.

In der FAZ stellt Patrick Bahners den historischen Chris Kyle vor, der in seiner Autobiografie seine Gegner durchgehend "Wilde" nannte: "Dass er seinen Opfern demonstrativ die Menschlichkeit abspricht, ist ein Akt der Verwilderung, den man kaum als unbewussten einstufen kann. Auszusprechen, dass er selbst zum Wilden geworden ist, bringt Kyle allerdings nicht fertig." Weitere Besprechungen des Films bringen FAZ und SZ.

Weitere Artikel: Cristina Nord unterhält sich für die taz mit der Regisseurin Céline Sciamma über deren Banlieue-Film "Girlhood". Für die Welt plaudert Barbara Möller mit dem Regisseur von "Ziemlich beste Freunde", Éric Toledano, über dessen neuen Film "Heute bin ich Samba", Houellebecq und das Attentat auf Charlie Hebdo. In der Zeit bespricht Thomas Mießgang Peter Kerns neuen Film "Der letzte Sommer der Reichen". In der FAZ staunt Dietmar Dath über das crossmediale japanische Anime-Phänomen "Black Rock Shooter", das binnen kürzester Zeit den Sprung von einer "ausgezeichneten" Fernsehserie in Comics, Popmusik, Videospiele und Mode geschafft hat. Die erste Folge gibt es Englisch untertitelt auf Youtube:



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Literatur

Dieses 1967 erstmals erschienene Buch schockiert immer noch: Pierre Guyotats "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", eine "Endlosschleife wiederkehrender Szenen und Motive", erklärt der abgestoßene Rezensent Thomas Laux in der NZZ, "eine wilde, vollkommen sich selbst überlassene und selbstreferenzielle Soldateska mit den heftigsten Ausschlägen bis in die letzten vorstellbaren Exzesse der Gewalt: Ständiges Morden bzw. wildes Abschlachten sowie Vergewaltigungen und sonstige sexuelle Übergriffe sind Legion. Man erfährt freilich - womit man sich natürlich noch auf einer vorab postulierten Sinnebene befindet - weder einen Grund, noch wer gegen wen kämpft und warum überhaupt so grausam gekämpft wird." Roland Barthes hatte vorgeschlagen, sich einfach dem Rausch der Sprache hinzugeben. Laux verspürt dennoch nichts als Widerwillen.

Besprochen werden Tana Frenchs Krimi "Geheimer Ort" (Zeit), Graham Greenes "Reise ohne Landkarten" (Tagesspiegel), Matthew Thomas" "Wir sind nicht wir" (FR), Reinhard Kleists Comic "Der Traum von Olympia" (FR), Mark Vonneguts "Eden Express" (NZZ), Hermann Parzingers "Die Kinder des Prometheus" (NZZ) und Milan Kunderas "Fest der Bedeutungslosigkeit" (FAZ, mehr).
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Bühne

In einem großen Porträt für die Zeit versucht Peter von Becker uns den britischen Theaterautor Tom Stoppard wieder schmackhaft zu machen: Dieser sei "weltweit der vermutlich berühmteste lebende Dramatiker. Im deutschen Theater, das außer in Deutschland, der Schweiz und Österreich nicht mehr so weltberühmt ist, kann man Stoppard inzwischen jedoch als verschollen melden. Ein Vierteljahrhundert lang wurde er zwischen Wien und Berlin an fast allen großen deutschsprachigen Bühnen gespielt. Doch ausgerechnet sein bis heute wohl schönstes Stück, "Arkadien" (...), signalisierte hier einen Bruch."

Besprochen wird Martin Kušejs Inszenierung der "Jagdszenen in Niederbayern" an den Münchner Kammerspielen (NZZ).
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Stichwörter: Stoppard, Tom, Theaterautoren

Architektur

In der Welt fragt Dankwart Guratzsch, ob man die Neugestaltung des Rathausforums in Berlin-Mitte wirklich per Bürgerentscheid planen kann. Besprochen werden die Ausstellung "Klasse Schule - So baut die Welt" in der ifa-Galerie in Berlin (taz) und "Wege der Moderne: Josef Hoffmann, Adolf Loos und die Folgen" im Wiener MAK (SZ).
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Musik


Still aus Björks Musikvideo "All Is Full of Love", 1999

Kann man einer Musikerin eine Retrospektive in einem Museum widmen? Durchaus - zumindest, wenn es sich dabei um Björk handelt, deren Musik immer schon einen stark crossmedialen Aspekt aufwies. Für die letzte FAS hat sich Boris Pofalla bei der Sängerin nach dem Konzept der ihr gewidmeten MoMA-Retrospektive erkundigt. Auf eine bloße Memorabilia-Schau hatte die Musikerin keine Lust, wie sie im nun online nachgereichten Gespräch verrät: "Ich dachte, dass man es vielleicht so machen könnte, dass man nicht meine Geschichte erzählt, sondern die der imaginären Person, von der meine Songtexte handeln. ... Sjón schrieb die Geschichte dieser Figur basierend auf meinen Songtexten; sie wurde dann für den Audioguide eingesprochen. Diese Geschichte ist das Rückgrat der Retrospektive, die sieben Alben umfasst, und gibt der Ausstellung einen visuellen und musikalischen Angelpunkt. Es war ein Experiment."

Auch wenn Enrico Rava seit über 50 Jahren Jazztrompete spielt, ist seine Musik jung und experimentierfreudig geblieben, stellt ein beglückter Thomas Steinfeld nach einem Besuch im italienischen Udine fest, wo der Musiker auch eine Kostprobe seines jüngsten Schaffens zum Besten gab: "Eine solche Musik hat es noch nicht gegeben, und erst recht nicht, wenn sie allmählich auseinanderfällt, sich in freiem Spiel zu verlieren scheint, bevor sie dann, beinahe hymnisch, wiederentsteht." Auf Youtube gibt es ein ganzes Konzert:



Weiteres: In der taz freut sich Tim Caspar Boehme auf die anstehende Tour von Fred Frith, der sich "nie mit den Möglichkeiten von Gitarren üblicher Bauart zufrieden [gab]." Besprochen werden ein Konzert des italienischen Ensembles Il Giardino Armonico (Tagesspiegel) und das neue Album von Moon Duo (The Quietus, hier im Stream).
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Kunst

Im Tagesspiegel heißt Birgit Rieger die von Erich Marx nach Berlin gebrachte Beuys-Installation "Das Kapital Raum 1970-1977" herzlich willkommen. In der Welt freut sich Marcus Woeller über den Beuys. Mahlzeit: Für den Freitag porträtiert Christine Käppeler den Berliner Künstler Gerd Rohling, der für seine Arbeiten auf von Straßen abgekratzte Kaugummis zurückgreift.

Besprochen werden eine Fotoausstellung von Lore Krüger im C/O Berlin (Tagesspiegel) und Miriam Cahns Ausstellung "körperlich - corporel" im Aargauer Kunsthaus in Aarau (NZZ, Bild: Miriam Cahn, "Mein Schutzengel" (Detail), 2014. Courtesy Meyer Riegger, Berlin / Serge Hasenböhler).
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