Efeu - Die Kulturrundschau

Krispe Digitalität

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2015. Der Standard erwandert sich das Kunstprojekt "Politische Landschaft" im Salzkammergut. In der Zeit erklärt der Architekt Rainer Hascher, warum Großprojekte in Deutschland nicht mehr funktionieren. Der taz gefällt die souveräne Longtailhaftigkeit der Longlist für den Bücherpreis. Die Filmkritiker diskutieren Peter Bogdanovichs "Broadway Therapy".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.08.2015 finden Sie hier

Kunst


Florian Hüttner, Unterschlupf (Schildkröte), 2015. Höhlenmalerei nach dem Agitationsplakat "Partisanen, zu den Waffen!", Aufruf in ukrainisch an die sowjetische Bevölkerung in den besetzten Gebieten, Sowjetunion, Juli 1941. Foto © Rainer Iglar

Anne Katrin Feßler erwandert für den Standard das Kunstprojekt "Politische Landschaft" im Ausseerland. Die Gegend rum um den Altaussee war erst Künstleridylle, dann "Nazi-Walhalla", aber auch Ort des Widerstands. "Auf der Flucht nutzten die Nazis jene Höhlen und Almhütten, die zuvor den Widerstandskämpfern als Versteck gedient hatten. Einen dieser Felsunterschlupfe hat der Künstler Florian Hüttner mit einem Propagandamotiv aus dem russischen Partisanenkampf versehen. Man muss auf allen vieren unter den Stein kriechen, um die Arbeit zu entdecken. Man muss die Haltung ändern, sich in eine ungewohnte Position begeben, um das Bild zu sehen: Darin liegt der bereits erwähnte Unterschied zur beiläufig konsumierten Kunst. Das persönliche Erleben verleiht der Kunst ein Plus an Authentizität."

Weitere Artikel: Jan Köhler wandert für das Blog der Berliner Festspiele durch Kreuzberg und die Ausstellung "7713. Politische Kunst im Widerstand in der Türkei" in der nGbK. Nach dem Trubel um Ai Weiweis Zeit-Interview plädiert Christiane Peitz im Tagesspiegel dafür, Ai erst als Künstler, dann als Chinesen und schließlich erst als Dissidenten wahrzunehmen: Dann legen sich auch die hoffnungsvollen Vorstellungen, die westliche Intellektuelle auf ihn projizieren. Für den Freitag porträtiert Stuart Jeffries den Mail-Künstler Mr. Bingo, bei dem man eine ganze Weile lang via Twitter "Hate Mail", also kreativ gestaltete Beleidigungen auf Postkarten, bestellen konnte. Marie Schmidt fragt sich in der Zeit anlässlich einiger Ausstellungen in Berlin, Frankfurt und Venedig, warum Hacker die neuen Shooting Stars der Museen und Galerien sind.

Besprochen werden eine Ausstellung der chinesischen Künstlerin Cao Fei in der Wiener Secession (Standard), die Fotoausstellung "Die Idee der Landschaft" im Artfoyer in Frankfurt (FR), eine Ausstellung der Fotografien Willy Spillers in der Photobastei in Zürich (NZZ), die Ausstellung "Radikal Modern" in der Berlinischen Galerie (NZZ), die Ausstellung "Die 80er: Figurative Malerei in der BRD" im Frankfurter Städel (SZ) und die Ausstellung "1000 Jahre Kaiserdom Merseburg" ebendort (FAZ).
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Film


Krisp und digital: Owen Wilson befindet sich nach dem Kino vor dem Kino.

Gestern in der taz hatte uns Sven von Reden noch die Vorfreude auf "Broadway Therapy", Peter Bogdanovichs Rückkehr zur Kinoleinwand nach 15 Jahren, noch genommen, heute lässt Nikolaus Perneczky im Perlentaucher doch wieder aufmerken: "Ein kleines Altersmeisterwerk" liege hier vor, das den von vielen Kritikern gezogenen Vergleich mit Bogdanovichs Komödienklassiker "Is" was, Doc?" im Grunde genommen eigentlich gar nicht nahelege, da der Film anders als jener "dialogzentriert" sei. Überdies stimme der Film sehr hoffnungsvoll: Die "krispe Digitalität" des Films markiere "die spezifische Zeitlichkeit dieser Screwball-Komödie als "nach dem Kino", zumindest nach dem des klassischen Hollywood, an das Bogdanovichs frühere Filme noch direkt anzuknüpfen suchten. Die hocherfreuliche Moral dieses äußerst lebendigen Stücks Filmgegenwart: Nach dem Kino ist vor dem Kino."

Schlicht "virtuos" findet es Frank Olbert in der Berliner Zeitung, wie der Regisseur neben einer kopfstehenden Welt auch die zahlreichen Querverweise im Griff habe: "Bogdanovich kennt seine Filmgeschichte eben aus dem Effeff". Im Tagesspiegel amüsiert sich Jan Schulz-Ojala königlich über den krachend-drastischen Humor dieses Films: "Braucht die Welt diesen Film? Natürlich nicht. Aber das ist ja gerade das Schöne."

Haben sie also alle gelacht
? Nicht ganz. In der FAZ beklagt Verena Lueken die Gestrigkeit des Films: Da liege doch spürbar "Mehltau" drauf. Im Freitag kann Barbara Schweizerhof dem nur beipflichten: Dem Film mangele es "an Tempo, an witzigen Dialogen, an Leichtigkeit".

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Marion Löhndorf über die Renaissance des Regent Street Cinema, des ältesten Kinos Großbritanniens. In der Welt fragen sich Karsten Kastelan und Hanns-Georg Rodek, warum der Film "Boy 7" in einer deutschen und einer holländischen Version gedreht wurde. Tilman Baumgärtel plaudert in der taz mit den Polit-Aktivisten und Guerilla-Regisseuren von den Yes Men, deren neuer Dokumentarfilm diese Woche anläuft. Das Berliner Kino Arsenal zeigt den tschechischen Klassiker "Tausendschönchen" der letztes Jahr gestorbenen Filmemacherin Vera Chytilová, freut sich Thomas Groh in der taz. Für ZeitOnline porträtiert Mascha Jacobs die Berliner Offszene-Schauspielerin Tabea Blumenschein. Beim Deutschlandfunk kann man Georg Seeßlens und Markus Metz" sehr schönes Feature über Christoph Schlingensiefs Jahre als Filmemacher nachhören. Außerdem bei Deutschlandradio Kultur: Ein ausführliches Radiogespräch mit Christian Petzold, in dem dieser über seine Arbeitsweisen Auskunft gibt.

Besprochen werden Antoine Fuquas Boxerdrama "Southpaw" mit Jake Gyllenhaal (taz, Berliner Zeitung) und Johannes Schaafs auf DVD veröffentlicher Debütfilm "Tätowierung" aus dem Jahr 1967, das laut Ekkehard Knörer (taz) seinerzeit "völlig zu Recht sehr gefeiert" wurde.
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Architektur

Warum klappt es in Deutschland nicht mehr mit den architektonischen Großprojekten? In einem wundervoll konkreten Interview mit der Zeit erklärt es der Architekt Rainer Hascher: Erst setzen Politiker die Baukosten bei der Ausschreibung zu niedrig an, um die Bevölkerung nicht zu verstimmen. Dann bekommen oft Firmen den Zuschlag, die völlig unrealistisch niedrige Angebote abgeben. Die obersten Posten der Baubehörden sind - außer in Bayern - oft mit fachfremden Kräften - Juristen etwa - besetzt, die sich gerade mit Billigangeboten betuppsen lassen. Bei Großprojekten sollten daher die Chefs aller beteiligten Firmen im Lenkungsausschuss sitzen, fordert Hascher. Wie ist es dagegen heute? "Ein Beispiel: Wir haben das Gebäude einer großen Unternehmensberatung geplant, rund hundert Millionen Euro, ein großes Bauvolumen. Und als ich in die Besprechung kam, saßen mir bis zu fünfzehn Controller gegenüber. Fünfzehn! Ein Controller für Elektrofragen, einer für die Heizung, für die spätere Vermietung, die Sicherheitstechnik, sogar für die Tiefgarage - lauter Leute, die nicht das Gesamtprojekt im Auge haben, sondern bloß ihren Teilbereich. Und jeder einzelne Controller versucht, seine Forderungen durchzubringen, und sichert sich ab. Dadurch steigen die Baukosten, und niemand übernimmt Verantwortung fürs Ganze."

Außerdem: Jörg Sundermeier (taz) informiert sich in Amt Cobbers" Buch "Abgerissen: Verschwundene Bauwerke in Berlin" über das abhanden gekommene oder, wie der Anhalter Bahnhof, bruchstückhaft überlieferte alte Berlin: "Diese Unruhe, die das hiesige Stadtbild so maßgeblich prägt, macht vielleicht den Charme Berlins aus. Es zeigt aber auch sein merkwürdiges Selbstverständnis." Lars Weisbrod zieht für die Zeit mit dem Architekten Philipp Meuser durch Astana, die ideale neue Hauptstadt in der postmodernen Diktatur Kasachstan.
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Literatur

Der Deutsche Buchpreis hat seine Longlist veröffentlicht (hier die Nominierungen samt Links zu unseren Rezensionsnotizen im Überblick). Was sagt die Literaturkritik dazu? Sie markiert demonstrative Indifferenz, wie etwa Gerrit Bartels im Tagesspiegel, oder sie kann sich soweit ganz gut damit arrangieren, wie etwa Dirk Knipphals in der taz: Diese Liste sei im Hinblick auf den zurückliegenden Bücherfrühling souverän in ihrer "Longtailhaftigkeit", weise eine spürbare Neigung zu Romanen von stattlicher Leibesfülle auf und warte zudem noch mit einigen Lesetipps abseits des allgemeinen Radars auf.

Weitere Artikel: Julika Bickel schreibt in der taz über die dänische Schrifstellerin Inger Christensen, die derzeit im Berliner Brecht-Haus gefeiert wird.

Besprochen werden Louis Calafertes "Requiem für die Schuldlosen" (NZZ), Giuliano Musios Roman "Scheinwerfen" (NZZ), Wilfrid Lupanos und Paul Cauuets Comic "Die alten Knacker" (FR), Victor Klemperers "Man möchte immer weinen und lachen in einem" (Freitag), Mercedes Lauensteins Erzählband "nachts" (ZeitOnline), Ilja Trojanows "Macht und Widerstand" (FAZ) und Kevin Barrys "Dunkle Stadt Bohane" (SZ, mehr).
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Bühne

Besprochen werden Henry Purcells, von Thomas Hengelbrock in Salzburg inszenierte Oper "Dido and Aeneas" (Presse, Standard, FAZ) und die Eröffnung der Ruhrtriennale mit der Musiktheater-Collage "Accatone" (NZZ).
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Musik


Julie Andrews und die Trapp-Familie in "The Sound of Music"

In der Welt hängt Slavoj Zizek sein Herz daran, Josef Fritzl mit dem Julie-Andrews-Musical "The Sound of Music" zu verknüpfen, um schließlich beim Laibach-Konzert in Nordkorea zu landen: "Ist Nordkorea nicht auch eine Art Fritzl-Land? Oder eher eines, in der eine Figur wie die Mutter Oberin aus "The Sound of Music" die Macht innehat? Dafür spräche der Text eines populären Liedes: "Oh, Koreanische Arbeiterpartei, an deren Brust / mein Leben beginnt und endet / Ob ich in der Erde vergraben oder in den Wind gestreut werde / bleibe ich dein Sohn und kehre an deine Brust zurück!""

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Tim Caspar Böhme den Elektromusiker Sam Shackleton, dessen "abstrakter elektronischer Ansatz reichlich intellektuelle Anreize" biete. Alexandra Welsch wirft in der taz einen interessierten Blick in die Welt der Wohnzimmerkonzerte. Jens Balzer plaudert in der Berliner Zeitung mit der japanischen Band X-Japan. Und Christian Schröder gratuliert im Tagesspiegel Depp-Purple-Sänger Ian Gillan zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Gesprächsband mit dem Bariton Christian Gerhaher (FR), zwei Konzerte des West-Eastern Divan Orchestra in Luzern (NZZ) und ein Konzert von Nneka (FR).
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