Efeu - Die Kulturrundschau

Gott ist ein Tonband

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23.10.2015. Die Welt bewundert den Auftritt des Charolais-Ochsen "Easy Rider" als Goldenes Kalb in Schönbergs "Moses und Aron". Die NZZ informiert über das geplante "Erste irakische Filmfestival gegen den Terrorismus". Die Berliner Zeitung verwandelt sich unter den Harfenklängen Joanna Newsoms zum großäugigen Fan. Die Presse deutet das Unbehagen an Kermanis Gebetsaufforderung
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.10.2015 finden Sie hier

Bühne


"Moses und Aron" von Arnold Schönberg. Foto: Bernd Uhlig

Der brennende Dornbusch und die orgiastischen Tänze fielen zwar weg, dafür hatte der 1,5 Tonnen schwere, goldfarbene Charolais-Ochse "Easy Rider" einen schönen Auftritt als Goldenes Kalb in Romeo Castelluccis Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aron" an der Pariser Oper, lobt Manuel Brug in der Welt. Von diesem Auftritt mal abgesehen inszenierte Castellucci "nicht wirklich, er schafft eher eine neutrale, ja nüchtern diskursive Installation darüber, ein Ideal zu verbreiten ohne seine ursprüngliche Kraft zu verraten. Gott ist ein Tonband, sein Wort fällt als schwarzer Magnetstreifen vom Himmel herab. Der zunächst nur hinter einem weißen Schleier zu ahnende Moses rafft, sammelt und knautscht es, später wird Aron in Abwesenheit von Moses wie ein Schamane unter dem kleidartig an ihm herabhängenden Gekräusel verschwinden. Der ganze erste Akt ist fast bewegungslos", kurz: ein "tönendes Artefakt von makelloser Kühlheit", resümiert der beeindruckte Kritiker.

In der NZZ berichtet Joseph Croitoru von der Zusammenarbeit hoher irakischer Kulturbeamter mit dem Militär. So gab es im Juni in Bagdad das "Erste irakische Theaterfestival gegen den Terrorismus" und jetzt gerade wird das "Erste irakische Filmfestival gegen den Terrorismus" für nächsten Oktober vorbereitet: "Ausgesuchte Cineasten sollen hier Filme zeigen, die sich mit den Untaten der IS-Jihadisten und auch mit Terrorismus im Allgemeinen auseinandersetzen. Am Vorbereitungstreffen im August nahmen wohlgemerkt auch Vertreter der irakischen Sicherheitskräfte teil. Einer von ihnen, Saad Maan, Brigadegeneral der Staatssicherheit und Sprecher des Innenministeriums, forderte sogar, dass sich die Filmregisseure vor Beginn der Dreharbeiten von Sicherheitsbeamten beraten lassen."

Weiteres: Barbara Villiger Heilig begleitet für die NZZ als embedded journalist das Schauspielhaus Zürich zu einer Aufführung von Dürrenmatts "Physiker" beim Wuzhen Theatre Festival. Regisseur Andreas Kriegenburger spricht im Interview mit dem Standard über seine Inszenierung von Gorkis Sozialdrama "Wassa Schelesnowa" am Burgtheater. Für die SZ besucht Paul-Anton Krüger in Teheran den Schauspieler Saman Arastu, der nach einer Geschlechtsumwandlung vor sieben Jahren lange Zeit gar nicht und derzeit nur vor kleinem Publikum in kleinem Haus auftreten darf.

Besprochen werden die österreichische Erstaufführung von Theresia Walsers "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" am Wiener Hamakom Theater (Standard) und das am Berliner HAU aufgeführte, mit der Ästhetik von Computerspielen arbeitende Stück "Toxik" des Kollektivs machina eX (SZ).
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Musik

Auch Jens Balzer, Chef-Popkritiker der Berliner Zeitung, schmilzt dahin bei den fragilen Klängen, die Joanna Newsom auf ihrem neuen Album "Divers" kredenzt: Die Musikerin "wandelt auf den Pfaden der unsichtbar gewordenen Geschichte und singt über das Vergessen und Wiedererinnern, und in dem schönsten und strahlendsten Moment sammelt die komplexe Harmonik und Rhythmik sich plötzlich zu einem Einklang, und Joanna Newsom schwebt mit ihrer Stimme und ihren Worten hoch droben im Himmel über den Dingen und über der unerbittlich verrinnenden Zeit und blickt auf die Jahrhunderte nieder wie auf einen funkelnden Kristall aus reinem Jetzt. ... [Sie] ist die größte Pop-Künstlerin ihrer Generation." Andreas Hartmann von ZeitOnline verirrt sich unterdessen genüsslich in diesem "gigantischen Labyrinth voller musikalischer und intertextueller Unergründbarkeit". Ihr aktuelles Video:



Tazlerin Stephanie Grimm lernt im neuen Album des Pianisten Lambert einiges für das spätnächtliche Wachsein und hört auch in Max Richters Komposition "Sleep", bei der wiederum Tim Caspar Böhme irgendwann sonderbare Visionen ereilen: Er imaginiert "ein Gebilde, das halb an eine Skulptur, halb an ein Milchhörnchen mit unappetitlich rauer Oberfläche denken lässt. Das Motiv kommt in variierter Form zurück, beim zweiten Mal ragt ein deformierter Fuß in den Vordergrund, der wie von einer Erdkrume umgeben ist."

Weiteres: Für die taz plaudert Andreas Hartmann mit dem Experimentalmusiker und Klaus-Lemke-Schauspieler Thomas Mahmoud.

Besprochen werden Stephen Witts Technik- und Musikgeschichte "How Music Got Free" (NZZ), John Grants Album "Grey Tickles, Black Pressure" (NZZ), das Debüt von Karamika (Pitchfork), "Taking Flight" von Ryan Hemsworth & Lucas (taz) und das neue Album von St. Germain (SZ).
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Literatur

In der Presse denkt Anne-Catherine Simon über die Kritik an Kermanis Gebetsaufforderung nach, die sie nicht teilt, aber verständlich findet, bereitet sie uns doch auf das vor, was kommt: "Kein Wunder, dass vielen dabei unbehaglich wird. Aber vielleicht ist das Beste an Kermanis Friedenspreisrede gerade dies, dass sie dieses Unbehagen auslöst. Auf ein größeres Unbehagen nämlich werden sich Verfechter einer restlos säkularisierten Gesellschaft ohnehin einstellen müssen; und auf das Unbehagen religiöser Muslime an der säkularen Gesellschaft. Zwischen ihnen können nicht Atheisten vermitteln, sehr wohl aber Menschen wie Navid Kermani."

Die SZ dokumentiert die Eröffnungsrede der Schriftstellerin A.L. Kennedy zu den Europäischen Literaturtagen in Wachau. Mangelndes Pathos kann man ihrem Aufruf an Künstlerkollegen, sich angesichts der Bilder ertrunkender Flüchtlinge schützend vor Menschenleben zu stellen, nicht nachsagen: "Wir [müssen] irgendwie reagieren - wir müssen die Wächter der Fantasie, des Denkens und Nachdenkens, der Kultur sein. Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir vergessen? Was können wir besser machen? Wahre Kunst ist kein Luxus, sondern fundamentale Verteidigung der Menschheit. Wir sind anscheinend dazu verdammt, diese Wahrheit zu vergessen, neu zu lernen und wieder zu vergessen. Und jedes Mal, wenn wir sie vergessen, sterben einige von uns."

Außerdem: In der Welt erstattet Eckhard Fuhr kurzen Bericht über die Verleihung des Schirrmacher-Preises an Hans Magnus Enzensberger. In der FAZ berichtet Patrick Bahners. Besprochen wird der neue Asterix (Tagesspiegel, FR, taz, FAZ).
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Film

Irgendwann wird alles gut: Auf ZeitOnline würdigt Christoph Schröder die "Schwarzwaldklinik", die vor 30 Jahren den Betrieb aufnahm: Die Serie sei "das makellose, ungebrochene Abbild ihrer Epoche. Keine andere Fernsehserie spiegelt in Sachen Mode, Weltbild, Rollenverteilung und Fernsehästhetik die achtziger Jahre, die Hoch- und Endzeit der friedlichen Bonner Republik so originalgetreu wider."

Weitere Artikel: Der Filmemacher und Künstler Akiz spricht im Interview mit dem Standard über seinen Film "Der Nachtmahr". In der Jungle World schreibt Jakob Hayner über Konrad Wolf, der am 20. Oktober 90 Jahre alt geworden wäre. Der nach Wolf benannte Preis wurde am Dienstag in Berlin posthum an Christoph Schlingensief verliehen - die Nachtkritik dokumentiert Georg Seeßlens Laudatio.

Besprochen werden Evgeny Afineevskys für Netflix produzierter Dokumentarfilm über den Maidan "Winter on Fire" (Welt), Fernando León de Aranoas Film "A Perfect Day" mit Benicio Del Toro und Tim Robbins (FR, Welt) und Michal Rogalskis "Unser letzter Sommer" (SZ).

Und ein Mediatheken-Tipp: Beim RBB ist derzeit Ramon Zürchers beeindruckendes Debüt "Das merkwürdige Kätzchen" zu sehen. "Ein Wunder von einem Film", schwärmte unser Filmkritiker Lukas Foerster nach der Berlinale-Weltpremiere.
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Architektur

Ein "großer Wurf" ist die Ausstellung "Streit um den Wiederaufbau" in Warschau geworden, lobt Werner Huber in der NZZ. "Die von einem reichhaltigen Veranstaltungsprogramm begleitete Ausstellung zeigt die Perspektive der jungen Generation von heute. ... Sie stellen das traditionelle Denkmuster ihrer Eltern, das die Vorkriegszeit romantisch verklärt und die PRL-Zeit verteufelt, infrage. Ein Gebäude ist nicht 'von Geburt an' schlecht, weil es von einem totalitären Regime gebaut wurde, sondern es ist an seinen architektonischen Qualitäten zu messen."
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Kunst

Herwig G. Höller berichtet im Standard über die von den Wienern Wiener Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer kuratierte Kiew-Biennale.

Besprochen werden eine Gruppenausstellung mit Mutterbildern im Lentos in Linz (Presse), die Ausstellung "Klimt/Schiele/Kokoschka und die Frauen" im Wiener Belvedere (Standard), eine Ausstellung des österreichischen Zero-Künstlers Hans Bischoffshausen in der Wiener Orangerie (Standard) und die Ausstellung "Klee & Kandinsky: Nachbarn, Freunde, Konkurrenten" im Lenbachhaus in München (FAZ).
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Stichwörter: Lenbachhaus, Linz