Efeu - Die Kulturrundschau

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28.03.2024. Die Kunstwelt trauert um den amerikanischen Bildhauer Richard Serra, der uns "peripatetische Wahrnehmung" lehrte, aber auch berüchtigt für seine Kampflust war, wie die SZ erinnert. Die Filmkritiker diskutieren über Jessica Hausners Film "Club Zero", der Kinder allzu satter Eltern ihre zwischenmenschliche Verstopftheit erbrechen lässt. In der SZ warnt Roberto Ciulli mit Antonin Artaud vor der kommenden Katastrophe eines neuen Faschismus, nicht nur in Italien. Die NZZ recherchiert weiter zum Israelhass im Architekturdepartement der ETH Zürich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Richard Serra. Berlin Curves, 1986. Denkmal für die Opfer der Aktion T4. Foto: Hans Bug / Wikipedia CC-BY-SA 3.0

Im Alter von 85 Jahren ist der amerikanische Bildhauer Richard Serra gestorben. Berühmt wurde er für seine stählernen Großskulpturen, die sich vor allem im Westen Deutschlands großer Beliebtheit erfreuen, erinnert Peter Richter in der SZ. Auch die Idee des Berliner Holocaust-Mahnmals geht auf Serra zurück, aus der Arbeitsgemeinschaft stieg er aber nach einem Streit mit Architekt Peter Eisenmann - und offenbar auch mit dem Bund - aus: "Zwei Dinge waren daran typisch. Seine Arbeiten, so erklärte Serra das gern selbst, erforderten eine 'peripatetische' Wahrnehmung, was nicht einfach nur bedeutet, dass man sie begehen, umrunden, durchwandern soll. Da der Begriff auf Aristoteles und seine Philosophenschule zurückgeht, steckt in diesem Modus des Wandelns immer auch der Anspruch einer Erkenntnistechnik. Nicht nur der Wind sollte durch diese Schluchten zwischen gebogenen Stahlplatten hindurchgehen. Sondern Menschen sollten in Relation zu dieser bestürzenden, oft scheinbar auf sie einstürzenden Monumentalität mit sich selber zu tun bekommen. Andererseits war da Serras notorische Streitbarkeit. In New York war er berühmt, aber auch berüchtigt für seine Kampflust, für wütende Kontaktabbrüche, trotzige Einsilbigkeit."

Serras monumentale urbane Skulpturen hatten nicht nur Freunde, die Skulptur "Titled Arc" etwa wurde nach Protesten in New York wieder abgeräumt, erinnert in der Welt Marcus Woeller, der das beim besten Willen nicht verstehen kann - erlebt er doch in Serras Berliner Stahltunnel "Berlin Junction" einen "Kunstgenuss sondergleichen": "Wer sich in die Krümmung des Raums zwischen den Stahlplatten begibt, verlässt den Alltag. Sofort verändert sich die sinnliche Wahrnehmung. Man hört gedämpfter. Die Augen stellen sich langsam auf Licht und Schatten ein. Man sieht zunächst nichts als korrodierten Stahl, aber wenn man nach oben schaut, einen kühnen Bogenausschnitt des Himmels. Man ertastet die Oberfläche der einander zugeneigten Wände. Die Dichte und Festigkeit des Metalls ist direkt zu fühlen, dafür muss man die Platten nicht einmal berühren." Weitere Nachrufe in Tagesspiegel, Zeit Online, FR, FAZ und taz.

Sehr zeitgemäß sind Otto Pienes Vorstellungen einer besseren Welt, die auf die Verbindung von Kunst und Technologie setzen, nicht mehr, erkennt Maria Becker in der NZZ. So wollte der Mitbegründer der Gruppe "Zero" beispielsweise "Abluft aus Fabrikschloten mit riesigen Filterbeuteln einsammeln und reinigen lassen, um sie schließlich als farbige Ströme ins Meer zu leiten." Und doch erkennt Becker das Visionäre in Pienes Arbeiten in der Ausstellung "Wege zum Paradies" im Basler Museum Tinguely, die sich vor allem auf das Frühwerk des Pioniers der Sky Art konzentriert: "Es war die Zeit von Pienes Experimenten: Er ließ rotierendes Licht durch Raster fließen und setzte damit den Raum in Schwingung. Er schuf Zeichnungen mit Rauch und Feuer und formte aus Beleuchtungskörpern skulpturale Installationen. Was sich in diesen Werken manifestiert, ist die Freude an der Beweglichkeit der Kunst, ein Spiel mit den Möglichkeiten ihrer Entgrenzung."

Besprochen werden die Retrospektive "Katalin Ladik. Ooooooooo-pus" im Ludwig Forum Aachen (taz), die Ausstellung "Kunst und Fälschung" im Kurpfälzisches Museum Heidelberg, die Werke aus den Asservatenkammern der Polizei zeigt (Tsp) und die Sonderausstellung "Paris und Köln um 1300" im Schnütgen Museum für mittelalterliche Kunst in Köln (FAZ) und die Ausstellung "Was ist Wiener Aktionismus" im neu eröffneten Wiener Aktionismus Museum (NZZ).
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Bühne

In einem langen Gespräch, das Christine Dössel mit Roberto Ciulli kurz vor dessen 90. Geburtstag für die SZ geführt hat, spricht der Regisseur und Gründer des Mülheimer Theaters an der Ruhr über die Aufgaben des Theaters heute und die Frage, weshalb er in letzter Zeit immer wieder Antonin Artaud auf die Bühne bringt: "Artaud wusste unfassbar viel. Er versuchte, eine neue Sprache zu finden. Und er warnte, es sind die 1930er-Jahre, vor der kommenden Katastrophe. Artaud wird als verrückt interniert, und Hitler wird zur selben Zeit gewählt von Millionen Menschen. Das nur als kleiner Hinweis, warum Artaud so aktuell ist. Wir sind heute wieder so weit. Ich bin Jahrgang 1934. Ich kann mich noch erinnern an den Krieg. Ich sehe die Gefahr. In Italien haben wir bereits eine faschistische Regierung."

Weiteres: Michael Stallknecht (SZ) ist ins schweizerische Dornach gereist, ins Goetheanum, den Stammsitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die mit viel Eurythmie, aber mit Starbesetzung und in klarer Personenregie von Jasmin Solfaghari Wagners "Parsifal" inszeniert hat. Die Symbiose aus Richard Wagner und Rudolf Steiner funktioniert, erklärt Stallknecht.  Im Tagesspiegel blickt Sandra Luzina in die Spielzeit 2024/25 des Staatsballetts Berlin unter Intendant Christian Spuck. Besprochen wird Oliver Maers Inszenierung der Ponchielli-Oper "La Gioconda" mit Anna Netrebko bei den Osterfestspielen in Salzburg (NZZ).
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Film

Forcierte Künstlichkeit: "Club Zero" von Jessica Hausner

Perlentaucher Benjamin Moldenhauer hat sichtlich Freude an der "in dieser Form und Temperatur recht einzigartigen Inszenierung zwischenmenschlicher Verstopftheit", wie sie die Filme von Jessica Hausner bieten. Ihr neuer Film "Club Zero" handelt von jungen Leuten, die sich sektenartig einer kollektiv organisierten Bulimie hingeben. Doch ein Drama über Essstörungen ist dieser Film nicht, er "handelt von etwas anderem: Die Kinder allzu satter Eltern verweigern die Nahrungsaufnahme und wollen die Welt, die sie vorfinden, nicht mehr (in dem Wissen, dass diese Welt keinen Bestand haben, sondern bald brennen wird). Ein denkbar einfaches Bild für den Generationenbruch: Man nimmt nicht mehr in sich auf, was die Alten einem geben wollen. Und radikalisiert sich. Diese Radikalisierung aber ironisiert der Film, als Ergebnis der Sektenbildung durch die nächste Autoritätsperson, gleich mit. In den Filmen Jessica Hausners bleibt nichts Positives, und die Radikalisierung ist kein Ausweg. ... Zu einer, wenn man so will, Message oder gar einer Lösung kommt der Film damit zum Glück nicht."

FAS-Kritiker Peter Körte hingegen steht unproduktiv verrätselt vor diesem Film, der auf ihn "wie ein Laborversuch" wirkt: "Es fehlt ein Bewusstsein, wie wirken, wie missverstanden werden kann, was sie zeigt. Wem danach ist, der kann nach dem Film bewusste Ernährung und Opposition gegen die Auswüchse industrieller Lebensmittelproduktion für eine gefährliche Ideologie halten und die jungen Menschen, bei denen einem schon auch die einschlägigen Klimaschutzgruppen einfallen, für Opfer, dämlich und leicht verführbar. Von grassierender Adipositas und den 735 Millionen Unterernährten dieser Welt reden wir lieber gar nicht erst. Dieser Eindruck hat damit zu tun, dass der Film eine Versuchsanordnung an die Stelle von Menschen setzt. ... Aus Charakteren werden dann Schemen und Behauptungen - und der Film wird ein Opfer seiner forcierten Künstlichkeit." Für Artechock besprechen Axel Timo Purr und Rüdiger Suchsland den Film. Tobias Kniebe unterhält sich für die SZ mit der Hauptdarstellerin Mia Wasikowska.

Im großen Rundumschlag seiner aktuellen "Cinema Moralia"-Glosse auf Artechock ärgert sich Rüdiger Suchsland unter anderem darüber, dass hiesige Filmstudenten kaum mit den Dokumentar- und Essayfilmen von Lutz Dammbeck in Berührung kommen, aber stattdessen "zugekübelt werden mit illustrativem 08/15-Kram, mit inhaltistischen Dokumentationen. ... Natürlich liegt dieser missliche Zustand letztendlich an den Studenten selbst", welche zwar "hochempfindlich sind gegenüber allen möglichen eher dem Ästhetischen fernen Fragen. Aber da, wo es um ihr ureigenes Thema, nämlich um ästhetische Bildung geht, sind sie oft genug stumpf wie Holzklötze. Ich werde die Studenten erst dann Studierende nennen, wenn sie wirklich studieren, also von ihren Filmhochschulen nicht 'Repräsentation' von wasauchimmer einfordern, sondern dass ihnen endlich gute und wichtige und auch im internationalen Zusammenhang bedeutsame Filme und Filmemacher vorgeführt werden."

Besprochen werden Bora Dagtekins "Chantal im Märchenland" (Perlentaucher, FR), Neo Soras "Opus" mit Ryuichi Sakamotos letzter Performance vor seinem Tod (FR, mehr dazu hier), James Hawes' "One Life" mit Anthony Hopkins (Artechock), Gil Kenans "Ghostbusters: Frozen Empire" (Filmfilter), Thea Sharrocks "Kleine schmutzige Briefe" (Tsp, Artechock), die auf Paramount+ gezeigte Serie "A Bloody Lucky Day" (FAZ) und die auf Sky gezeigte Serie "Helgoland 513" (taz). Außerdem informiert das SZ-Filmteam, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick mit allen Filmdienst-Kritiken zur aktuellen Kinowoche.
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Joann Sfars autobiografischer Comic "Die Synagoge" (taz), Fien Veldmans "Xerox" (NZZ) und Wolfgang Matz' Neuübersetzung von Julien Greens "Treibgut" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Architektur

Vergangene Woche hatte der Architekturhistoriker Stephan Trüby in der NZZ den Israelhass im Architekturdepartement der ETH Zürich offengelegt (Unser Resümee). Nun soll dort der französische Aktivist Léopold Lambert sprechen, seines Zeichens Chefredakteur des Architekturmagazins The Funambulist, dessen Weltbild Lucien Scherrer in der NZZ so zusammenfasst: "Islamistische Terroristen sind Freiheitskämpfer, gegen Israel gerichtete Vernichtungsphantasien Pflicht für jeden anständigen Menschen. Selbst die Geiselnahmen der Hamas rechtfertigt Lambert." Weder zu Trübys Artikel noch zu Lamberts Auftritt bezieht die ETH klar Stellung, ärgert sich Scherrer: "Die ETH versicherte im Zuge der Publikation von Trübys Artikel, man nehme das Problem ernst und wolle mit den Betroffenen reden. Eine Interviewanfrage an den ETH-Präsidenten Joël Mesot lehnte die Medienstelle letzte Woche ab. Die Frage, wo die Institution die Grenze zwischen Aktivismus und Wissenschaft ziehe, bleibt bis anhin unbeantwortet."

Weitere Artikel: In der FAZ erzählt Uwe Ebbinghaus die Geschichte eines Zisterzienserklosters in Neuzelle, das in der NS-Zeit als Schule für den "Führernachwuchs", in der DDR als Institut für Lehrerbildung und ein Priesterseminar und später als Privatschule diente - bis die Mönche 2016, 199 Jahre nach der Zwangsauflösung unter dem preußischen König Friedrich Wilhelm III., zurückkehrten und den Neubau eines Klosters in der näheren Umgebung von Neuzelle planten.
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Musik

Am Karfreitag 1724 wurde in der Leipziger Nikolaikirche Bachs Johannes-Passion uraufgeführt - Michael Maul von VAN staunt darüber und leidet daran, dass kaum etwas davon überliefert ist, geschweige denn überhaupt dokumentiert wurde, wie das epochale Werk seinerzeit von den ersten Ohrenzeugen aufgenommen wurde. Das Geplänkel und Gezerre im Vorfeld der Aufführung sowie das Nachspiel von Bachs etwas kokettem Auftreten gegenüber den Oberen ist zwar bestens belegt. Doch "ein Wort zu Bachs 'Passion'? Auch im Gesprächsprotokoll des Superintendenten Fehlanzeige. ... Angesichts der Dokumentenlage, will man den damaligen Protagonisten rings um Bach mit Matthäus zurufen: 'Wer Ohren hat, der höre!' - und Bach von Herzen wünschen, dass zumindest ein paar beteiligte Thomaner und Stadtpfeifer und eine Handvoll musikalischer Kenner unter den Leipziger Zuhörern wenigstens erahnten, was ihr neuer Kantor da am 7. April 1724 der Stadt und dem Erdkreis geschenkt hatte." Außerdem führt Arno Lücker für VAN mit Klangbeispielen durch diverse Interpretationen der Johannes-Passion. "Unfassbar überzeugend" findet er die von René Jacobs dirigierte Aufnahme der Akademie für Alte Musik Berlin mit dem RIAS Kammerchor:



Als verschollen gilt hingegen die Musik (nicht aber das Libretto) von Bachs Markus-Passion. Deren bisherige Aufführungen basieren auf der spekulativen Montage von Stückwerken anderer Bach-Werke. Einen neuen Weg beschreitet nun der Dirigent und Komponist Nikolaus Matthes, schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ: Er hat auf CD eine Eigenkomposition der Passion vorgelegt, was "erst einmal staunen macht. Denn Matthes schreibt keine wie auch immer geartete moderne Musik, er versetzt sich in die Zeit seines 300 Jahre älteren Vorbilds und komponiert à la Bach, oft schlanker, weniger spekulativ. Das Ganze ist frech, gut gemacht, vertraut klingend und also hörenswert." Doch "letztlich macht Matthes nichts anderes als jene Baumeister des 19. Jahrhunderts, die begeistert von der Gotik deren Baustil einfach kopierten."



Weitere Artikel: Thomas Kramar blickt für die Presse amüsiert auf eine Studie, die nach einer Genanalyse zu dem Schluss kommt, dass Beethoven rein von seiner genetischen Disposition her deutlich weniger musikalisch gewesen sei als der Durchschnitt. In der FAZ gratuliert Gerald Felber dem Komponisten Siegfried Thiele zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Diedrich Diederichsens Buch "Das 21. Jahrhundert" mit gesammelten Texten und Essays seit 2000 (taz), 1010Benjas Album "Ten Total" (Pitchfork) und die restaurierte Wiederaufführung von Jonathan Demmes legendärem Kino-Konzertfilm "Stop Making Sense" mit den Talking Heads (taz, Standard).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Thomas Combrink über "Breaking the Law" von Judas Priest:

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