Efeu - Die Kulturrundschau

Alles aus dem Takt

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31.12.2015. Die Entdeckung, dass sich unter Leonardo da Vincis Mona Lisa ein abweichender Entwurf des berühmten Gemäldes findet, mag die Zeit nicht als Sensation gelten lassen. Kathrin Passig und Clemens J. Setz unterhalten sich auf Volltext.net über asynchronen Gruppensex und postmortale Peinlichkeit. Die Kritiker tun sich schwer mit David O. Russells Wischmopp-Biopic "Joy". Und Alexander Kluge gedenkt auf FAZ.net des vor zwanzig Jahren gestorbenen Theatermanns Heiner Müller mit einem multimedialen Dossier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2015 finden Sie hier

Film


Arsenal pittoresker Unsympathen: Robert de Niro, Bradley Cooper und Jennifer Lawrence in "Joy"

Mit "Joy" steht Jennifer Lawrence zum nunmehr dritten Mal für David O. Russell vor der Kamera. Erzählt wird die wahre Geschichte der Titelfigur, die als Erfinderin des Magic Mop in die Geschichte der Haushaltsutensilien eingegangen ist. Lawrence und Russell wählen dafür den Modus einer "quirligen Tragikomödie", erklärt Anke Westphal in der Berliner Zeitung und stutzt darüber, dass hier "ausgerechnet ein Wischmopp als Instrument weiblicher Selbstverwirklichung" dient. Dass die Hauptfigur nach vielen "Unredlichkeiten und Zumutungen" schlussendlich siegreich hervorgehe, verschafft der Kritikerin aber "tiefste Befriedigung". Anders ist es Jan Schulz-Ojala ergangen, der im Tagesspiegel nur matt abwinkt: Der Film "eiert mit seinem Arsenal pittoresker Unsympathen zwischen Sozialgroteske und All-American-Aufstiegsstory auf und ab. ... 'Joy' ist das Biopic, das die Welt nicht braucht." Barbara Schweizerhof von der taz berichtet sanft irritiert von einem "eigenartigen Genremix": Der Regisseur "wechselt vom Märchenton in den des Sozialrealismus, vom High Drama der Soap-Opera in die praktisch-optimistische Tonlage des Teleshoppings und zurück. Weshalb man diesen Film irgendwie nie zu fassen kriegt." Weitere Besprechungen finden sich im Standard, im Tages-Anzeiger und in der Presse.

Weiteres: In der NZZ wirft Nina Jerzy einen erste Blick auf die Golden Globes, mit denen am 10. Januar in Hollywood die nächste Awards Season eingeläutet wird. Besprochen werden außerdem Naomi Kawases "Kirschblüten und rote Bohnen" (taz, Tagesspiegel), Gavin O'Connors Western "Jane Got a Gun" mit Natalie Portman (Tagesspiegel, SZ), Brian Helgelands Gangster-Biopic "Legend" (NZZ), Grímur Hákonarsons Schafzüchter-Drama "Sture Böcke" (Tagesspiegel), Harald Bergmanns und Ronald Steckels filmische Hommage an den Mystiker Jacob Böhme "Morgenröte im Aufgang" (Tagesspiegel), Werner Bootes Dokumentarfilm "Alles unter Kontrolle" (Presse) und der auf DVD veröffentlichte "Medium Cool" aus dem Jahr 1969 des gerade verstorbenen Haskell Wexler (taz).
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Kunst

Die von Pascal Cotte stark gemachte, von den Ergebnissen einer neuen strahlendiagnostischen Untersuchung unterfütterte These, dass sich unter der Mona Lisa ein weiteres Bild, beziehungsweise ein erster, in einigen Belangen abweichender Entwurf des berühmten Gemäldes findet, findet Frank Zöllner in einem von der Zeit online nachgelieferten Kommentar nicht gar so umwerfend: Sie zeuge "von einem gewissen Unverständnis der künstlerischen Praxis Leonardo da Vincis. Der Künstler, gern als Genie gefeiert, arbeitete bekanntlich sehr langsam und gelegentlich auch mit längeren Unterbrechungen an seinen Gemälden. Spuren von Überarbeitungen und kleineren Änderungen einer ursprünglichen Kompositionen oder einiger Details wären also keineswegs sensationell, sondern genau das, was wir von Leonardo erwarten würden."

Besprochen werden die Ausstellung "De Heksen van Bruegel" im Museum Catharijneconvent in Utrecht (Tagesspiegel), Olafur Eliassons Installationen im Wiener Winterpalais (FR) und eine Ausstellung über Francesco Hayez in Mailand (SZ).
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Literatur

Clemens Setz und Kathrin Passig zeigen in einem Volltext-Gespräch, das jetzt online steht, wie schön es sein kann, wenn sich zwei Schriftsteller über alles mögliche unterhalten. Setz: "Ich war erst ein einziges Mal in meinem Leben in einem Raum voller kopulierender Menschen und da bin ich relativ bald wieder gegangen, weil es so befremdlich ausgeschaut hat, wie der misslungene Versuch, die Teile einer Rube-Goldberg-Maschine zu synchronisieren … Alles aus dem Takt. Andererseits - wie befremdlich wäre es wohl gewesen, wenn alle Körper tatsächlich im Takt gewesen wären?"

Und Passig: "Ich saß mal im Taxi neben Thomas Macho, einem österreichischen Kulturwissenschaftler aus Berlin. Es ging um den Kittler-Nachlass, und Macho sagte, Kittler habe den Fehler gemacht, als er krank wurde, nicht seine Festplatten zu löschen, die jetzt von Studenten aus Werkausgabegründen durchwühlt werden. Er habe vor, seine Festplatten auf jeden Fall rechtzeitig zu löschen. Ich sagte: Aber man ist doch dann tot, und es ist einem nichts mehr peinlich. Er sagte: Als Österreicher bin ich sehr wohl in der Lage, noch tot alles Mögliche peinlich zu finden."

In der taz freut sich Philipp Rhensius über die Veröffentlichung von William S. Burroughs' CutUp-Experimenten auf CD: Der Autor "war überzeugt, dass wir stets mehr wissen, als wir glauben - und dass Cut-ups mit ihrer sprachlichen Expansion jenseits der Verstandeskapazitäten eine neue Weltwahrnehmung jenseits sprachlicher Kontrolle ermöglicht. In Zeiten überschäumender Informationen, in der Kriege immer mehr auch Kriege um Worte und Bilder sind, ist das kritische Potenzial von Cut-ups als Waffen gegen Manipulation und Gedankenkontrolle aktueller denn je."

Heute vor zwanzig Jahren erschien der letzte Strip aus Bill Wattersons bis dahin zehn Jahre lang ausgelieferter Cartoonreihe "Calvin & Hobbes". Der FAZ ist dies die ganze erste Seite ihres Feuilletons wert. Jürgen Kaube hält es nicht für übertrieben, "wenn man (diese Cartoons) zum Klügsten und Witzigsten zählt, das je über Kinder, Eltern, Schule und Freundschaft erzählt wurde." Und Andreas Platthaus würdigt Wattersons künstlerische Souveränität. Hier kann man den in seiner melancholischen Glückseligkeit rasend schönen Abschiedsstrip der Reihe online lesen.

Weiteres: In der NZZ gratuliert Terézia Mora der Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa zum Siebzigsten. Besprochen werden Michael Chos Comic "Shoplifter: Mein fast perfektes Leben" (FR) und "Luftsprünge", eine von Thomas Geiger herausgegebene "literarische Reise durch Europa" (FAZ).
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Bühne

Im mdr spricht der Theaterkritiker und stellvetretende Vorsitzende der Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft Thomas Irmer über den gestern vor zwanzig Jahren verstorbenen Theatermann Heiner Müller. Auf FAZ.net schreibt Alexander Kluge eine multimediale Würdigung: "Wenn ich die Flüchtlingskolonnen sehe oder die wirren Verhältnisse in der Levante mich beunruhigen, suche ich nach Texten von Müller oder frage mich, welche Stücke er in unseren Tagen geschrieben hätte. Hätte er Metaphern gefunden, die beschreiben, wie sich am 13. November 2015 der Handyhimmel über Paris plötzlich verdunkelt? Irgendwann muss man die Tagesnachrichten durchbrechen. Und dann tut man gut, nach Texten von Heiner Müller zu greifen."

Weiteres: Im DeutschlandRadio Kultur hat sich Timo Grampes mit nachtkritik-Redakteurin Sophie Diesselhorst über politischen Aktivismus auf der Bühne unterhalten. Besprochen wird Wenzel Storchs am Theater Dortmund aufgeführtes Stück "Das Maschinengewehr Gottes" (SZ).

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Architektur

Die Ferdinand Kramer gewidmete Ausstellung "Linie Form Funktion" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt ist ein "Glücksfall", jubelt Eckhard Nickel in FAZ, da "sie in vielem dem Mann ähnelt, dessen Werk sie zeigt: in der Konzentration aufs Wesentliche, der Liebe zum Detail und der stringenten geistigen Ordnung der Dinge."

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Musik

In der Presse unterhält sich Walter Dobner mit dem ungarischen Komponisten Iván Eröd, der in diesen Tagen seinen achtzigsten Geburtstag feiert, über dessen Schaffen: "Es ist nicht so, dass es im Inneren so brodelt, dass man unentwegt gezwungen ist, Noten aufs Papier zu bringen. Es ist eher so, dass man, wenn man diesem Handwerk, dieser Kunst nachgeht, ein Gebiet findet, in dem der Geist am besten walten kann. Ich bilde mir nicht ein, ein Medium zu sein oder mit meiner Musik die Welt zu erlösen, aber ich glaube, auf diesem Gebiet das Maximum bieten zu können. Ein weiterer Aspekt ist die Kommunikation: Man erwartet, dass das auch ankommt, wann und wo auch immer."

Weiteres: Im Tages-Anzeiger spricht Susanne Kübler mit dem Dirigenten Howard Griffiths über die von ihm gegründete Orpheum-Stiftung zur Förderung junge Musiker. In der FR erinnert Hans-Jürgen Linke an den einflussreichen Jazzmusiker Peter Herbolzheimer, der gestern 80 Jahre alt geworden wäre. Besprochen wird das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker mit Anne-Sophie Mutter unter Simon Rattle (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
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