Efeu - Die Kulturrundschau

Die Brutalität der Wirklichkeit

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16.07.2016. Regimekritik ist doch auch nur eine Karrierestrategie? Versucht es selbst, antwortet Ai Weiwei in der NZZ seinen Kritikern. In der FR erzählt Parsifal-Regisseur Uwe Eric Laufenberg, wie man in Bayreuth probt. Das Ornament heißt jetzt kommunikative Architektur und ist kein Verbrechen mehr, weiß die NZZ. Die nachtkritik lässt sich von Chris Dercon seine brand erklären. In der Welt erzählt Bov Bjerg seinem Freund Klaus Ungerer, wie es sich anfühlt, plötzlich Bestsellerautor zu sein. Und: Die Literaturkritiker trauern um Peter Esterhazy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.07.2016 finden Sie hier

Kunst


Ai Weiwei, F Lotus, 2016 © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien

Im Interview mit der NZZ verweigert Ai Weiwei jedes ironische oder distanzierte Spiel mit seiner Rolle als berühmtester regimekritischer Künstler Chinas. Er hat nun mal eine Biografie, die andere blass aussehen lässt, und die selbst die viel kritisierten Schwimmwesten im Teich vor dem Schloss Belvedere mit einer Bedeutung auflädt, die sie bei anderen vielleicht nicht haben würden: "Also, ist da jemand, der mit mir tauschen will? Jemand, der ebenfalls zwanzig Jahre seines Lebens in der Wüste Gobi verbringen will? Mein Vater hat die öffentlichen Toiletten geputzt, wir wurden als Staatsfeinde angesehen und ständig beleidigt. So etwas kann man nicht wiederholen. ... Meine Eltern flohen in den dreißiger Jahren durch elf Provinzen Chinas. Später unser Exil in Xinjiang. All diese Erfahrungen kommen mir in den Sinn, wenn ich die Frauen und Kinder sehe, die aus den Flüchtlingsbooten steigen."

Was waren das noch für Zeiten, als küchenaffine Künstler mit Kochkünsten provozierten, seufzt Alexandra Wach im art-magazin. Futurist Marinetti servierte Motorengeräusche und "Pillen statt Pasta", Daniel Spoerri kredenzte den übersättigten Gästen exzessive "böse Bankette". Und heute? Schreibt Olafur Elisasson ein zeitgerecht aufgemachtes Kochbuch voller "global flottierendem Speisenzauber", so Wach: "Keine Frage, er wirkt und schmecken tun die 'Rosa Wurzelsuppen mit Kohlrabi' oder 'Sri-Lankischen Blumenkohl-Sambals' sicherlich auch. Aber sie bedienen auch das Bild eines Künstler-Typus, der mit einem Rundum-Paket auf die Wellness-Bedürfnisse seiner betuchten Kunden reagiert, statt sie im Modus des Enfant terrible mit ihren Lebenslügen zu konfrontieren."

Überraschend frisch wirke die gerade im Berliner Gropiusbau ausgestellte, dissidente DDR-Kunst, staunt Nicola Kuhn im Tagesspiegel: "Viele Werke könnten aus der jüngsten Vergangenheit stammen, schließlich erlebt die expressive Malerei, die Gegenständlichkeit gerade ein Comeback. Wirkte die Kunst aus der DDR zu ihrer Zeit vom internationalen Diskurs noch abgehängt - die damals angesagte Minimal- und Konzeptkunst stieß erst viel weiter im Osten auf Interesse, in Polen und Ungarn -, so kann man die DDR-Werke heute ganz anders goutieren." Für die Berliner Zeitung hat sich Ingeborg Ruthe die Ausstellung angesehen.

In der FAZ gratuliert Freddy Langer dem Fotografen F.C. Gundlach zum Neunzigsten.
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Literatur

Der Tod Peter Esterhazys prägt heute die Literaturseiten. Arno Widmann von der FR ist in großer Trauer um den ungarischen Schriftsteller: Er "war ein Freund der entfesselten Polyphonie und seine Kunst bestand darin, jeden seine Weisen singen zu lassen und als Arrangeur, als James Last des großen europäischen Romans dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne und das Ganze hörbar blieb."

Lothar Müller würdigt in der SZ Esterházys Heiterkeit: Diese "hatte ihre Entsprechung im Werk, in dem die Sprache über die Stränge schlägt, Haken schlägt, tänzelt, Finten antäuscht und sich nicht scheut, gelegentlich auch den Herrgott, 'der sich ausschließlich mit sich selbst unterhalten kann', unter die komischen Figuren einzureihen. ... Die unbändige, grenzenlose, schamlose Heiterkeit, die Péter Esterházy durch sein Schreiben in die Welt setzte, war seine Antwort auf das, was er einmal 'die Brutalität der Wirklichkeit' genannt hat. Er kannte sie, weil er ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts war." Weitere Nachrufe in taz, Tagesspiegel, ZeitOnline und Welt. Hier ein Überblick über Esterházy im Perlentaucher.

Klaus Ungerer plaudert in der Welt mit dem Autor Bov Bjerg bei Späti-Bier im Prenzlauer Berg über Schreibblockaden, den "anstrengenden" und überraschenden Riesenerfolg seines Romans "Auerhaus" und die anstehende Verfilmung. Das sah in Zeiten des Debütromans "Deadline" noch anders aus, weiß Ungerer: "200 Stück hat er davon verkauft. Die übrigen sind verbrannt, 2013, bei der großen Kleinverlagskatastrophe, als bei Leipzig eine Lagerhalle mit 5 Millionen Büchern in Flammen aufging. 'Wenn 'Deadline' damals ein Erfolg geworden wäre', sagt Bov, 'dann wäre ich jetzt vielleicht Avantgardeautor und würde jedes Jahr schräges Zeug bei Suhrkamp rausbringen.'"

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Hanna Klimpe die Hamburger Schriftstellerin Isabel Bogdan. Im literarischen Wochenend-Essay der FAZ schreibt die Schriftstellerin Sabine Kray über Kurt von Vonneguts "Schlachthof 5", der in neuer Übersetzung von Gregor Hens erscheint: Dieser habe "den Vonnegut-Sound nahezu perfekt abgebildet."

Besprochen werden unter anderem Ralph Dutlis Buch über die Heidelberger Studentenzeit Ossip Mandelstams (NZZ), der Antiroman "Wischera", der letzte Band der vorbildlichen Matthes-und-Seitz-Werkausgabe Warlam Schalamows (NZZ), Martin Leidenfrosts Reportageband "Expedition Europa" (NZZ), Eduard Engels "Deutsche Stilkunst" (Welt), Max Annas' "Die Mauer" (taz), die Debütromane von Alexandra Kleeman und Anneliese Mackintosh (taz) sowie Christian Enzensbergers "Ins Freie" (FAZ).
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Architektur


Kunstmuseum Basel

Ornament ist kein Verbrechen mehr, im Gegenteil, es erlebt gerade ein Revival, stellt Ursula Seibold-Bultmann in der NZZ fest. Allerdings spricht man heute eher von "kommunikativer Architektur", erklärt sie: "Auch Digitalfassaden, die wie beim Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel das Ornament ephemer und beweglich machen, lassen sich unter dem Oberbegriff der Kommunikation fassen. Was aber durch einen Bau und seine Ornamentik kommuniziert wird - etwa seine Zweckbestimmung, ein Lokalbezug, soziale Ambitionen der Bauherrschaft oder die Aura einer Marke -, unterscheidet sich im Einzelfall stark und erfordert ein scharfes Hinschauen. Denn Kommunikation ist ein zunächst einmal wertfreier Vorgang, durch den sich nicht jedes Ornament automatisch legitimieren lässt. Andererseits: Akzeptiert man, dass Ornamente ein besonderes kommunikatives Potenzial haben, so rücken sie fast zwangsläufig ins Zentrum bestimmter Bauprojekte."

Außerdem in der NZZ: Jürgen Tietz stellt den irischen Architekten Niall McLaughlin vor, der die Architektur des 19. Jahrhunderts mit der heutigen versöhnen will.
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Film

Hanns-Georg schreibt in der Welt zum Tod des brasilianische Regisseur Héctor Babenco. Besprochen wird Maren Ades "Toni Erdmann" (Freitag, unsere Kritik hier).
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Stichwörter: Toni Erdmann, Ade, Maren

Bühne

Für die FR hat Judith von Sternburg mit Uwe Eric Laufenberg gesprochen, der den neuen Bayreuther "Parsifal" inszeniert. Nicht nur gibt es eine kleine Spitze gegen Thielemann, den Laufenberg spöttisch als selbsternannten "Weltmeister in der akustischen Erforschung des Festspielhauses" bezeichnet, sondern auch Einblicke in die Art und Weise, wie im Hause eine Inszenierung auf die Bühne kommt, nämlich "in allem umgekehrt. Sie stellen zuerst das Bühnenbild her, das sie dann beleuchten. Dann kommen Sie hierher und inszenieren mit den Sängern im Raum, obwohl der verdeckte Orchestergraben es schwer macht, zwischen Zuschauerraum und den Menschen auf der Bühne Kontakt herzustellen. Dann kommt der Chor für nur einen Tag auf die Bühne. Und dann geht es auf die Probebühne und Sie machen das, womit Sie normalerweise anfangen. ... Es funktioniert, weil jeder, der kommt, hundert Prozent vorbereitet ist und das wahnsinnig gerne macht." Für den SWR hat sich Herbert Spaich ausführlich mit dem Regisseur unterhalten - hier zum Nachhören.

Wolfgang Behrens wollte sich den heftig umstrittenen Chris Dercon mal in seiner natürlichen Umgebung - also unter Museumsleuten - ansehen und ging für die nachtkritik zu der "hoch-höher-höchstkarätig besetzten" Konferenz "Communicating the Museum" im Deutschen Historischen Museum, bei der Dercon eine Rede hielt. Alles lief prima: der Mann sieht gut aus, ist eloquent, bis er verkündet "'Protest is part of our brand.' Hoppla! Was Dercon hier meint, ist, dass er die Tate Modern auch als Raum für Protestbewegungen geöffnet hat. Das ist schön. Aber 'part of our brand'? Hier zuckt das deutsche Theatervölkchen vielleicht zu Recht zusammen. Ein Hauptschrecken der freien Marktwirtschaft ist ja nicht zuletzt der, dass jede Gegen- oder Protestbewegung einfach nach ihrem Marktwert taxiert und im Handumdrehen selbst in den marktwirtschaftlichen Kreislauf eingespeist wird."

Weiteres: Beim Festival in Aix-en-Provence sah Shirley Apthorp von der FAZ Olivier Letelliers Inszenierung von Moneim Adwans "Kalîla wa Dimna" und Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Händels "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno".

Besprochen werden zwei beim Festival Foreign Affairs in Berlin gezeigte Stücke von William Kentridge (Tagesspiegel) und Bellinis Oper "I Puritani" in Zürich und Stuttgart (in der NZZ gibt Thomas Schacher letzterer den Vorzug, Welt).
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Musik

Catherine Tice, Mitherausgeberin der New York Review of Books, erklärt in der NZZ, warum sie mindestens drei, vier mal die Woche ins Konzert geht und dabei immer formelle Kleidung trägt: "Für mich ist sie der vollkommenste Ausdruck meiner Weiblichkeit. Ich fühle mich am wohlsten und in Körper und Seele eins, wenn ich entweder völlig nackt oder aber wie eine Frau gekleidet bin, die ihre äußere Erscheinung als eine Spiegelung des tiefen Glücks begreift, das die Erwartung von drei Klavierquartetten von Brahms beschert."

Weitere Artikel: In der taz stellt Julian Weber neue Bücher und Ausstellungen zum 40-jährigen Jubiläum von Punk vor. Andreas Hartmann vom Tagesspiegel porträtiert den Berliner DJ Max Graef. In der Welt berichtet Michael Pilz von der 27. Zappanale in Bad Doberan. In der FR gratuliert Frank Junghänel der Sängerin Linda Ronstadt zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Memoiren "Fotzenfenderschweine" der Musikerin Almut Klotz (Tagesspiegel), Konzerte von Neil Young und Lana Del Rey beim Montreux Jazz Festival (NZZ), ein Konzert von Beyonce in Zürich (NZZ) und Betty Davis' "The Columbia Years 1968-1969" (Pitchfork).
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