Efeu - Die Kulturrundschau

Ergebnis geglückter Arbeit

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14.09.2016. Ganz hingerissen sind die Feuilletons von Fatih Akins "Tschick"-Verfilmung, besonders beeindruckt ist die FAZ vom jungen Anand Batbileg und seiner coolen Frisur. Die NZZ wünscht sich mehr Kunst im öffentlichen Raum. Auf wenig Verständnis stößt der Widerstand des Berliner Staatsballetts gegen Sasha Waltz als neue Leiterin: Die SZ attestiert dem Ensemble einen antiquierten Ballettbegriff, auch die taz begrüßt den Abschied von gut getanzten Nettigkeiten. Der Tagesspiegel bedauert allerdings, dass die Berliner Kulturpolitik nicht auch im Ensemble etwas Lust am Aufbruch verbreitet hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2016 finden Sie hier

Film



Große Zufriedenheit bei den Kritikern: Fatih Akins Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs längst als Klassiker einsortiertem Roman "Tschick" ist geglückt. Es "spricht, in erstaunlicher Konsequenz, Wolfgang Herrndorf selbst", stellt ein nachblätternder Tobias Kniebe in der SZ fest, womit er einen Grund für das Gelingen schon genannt hat: Akin nehme sich zurück und stelle sich ganz in den Dienst der Vorlage - mit Ergänzungen dort, wo es tatsächlich einen Gewinn darstellt. Außerdem tragen auch die beiden jugendlichen Hauptdarsteller Tristan Göbel und Anand Batbileg dieses Roadmovie einfach ziemlich gut auf ihren Schultern, freut sich Bert Rebhandl in der FAZ. Göbel kennt und schätzt er bereits, und Debütant "Batbileg ist großartig. Er kommt in den deutschen Film so, wie er bei Maik in die Klasse kommt. Mit einer Frisur, für die sich selbst Fußballer genieren würden, mit einem Wissen, das ihm endlose Überlegenheit verschafft, aber keine Freunde. Batbileg muss ein Kind spielen, das aus einer (angedeuteten) Welt kommt, die mit dem Leben schon abgeschlossen hat. Diese Gratwanderung gelingt mit einer Unschuld, die nichts anderes als das Ergebnis geglückter Arbeit sein kann."

In der Welt konstatiert Marc Reichwein: "Wir sehen 'Tschick' weniger nostalgisch, als wir ihn lasen." Nur Maurice Lahde von critic.de ist sanft enttäuscht: Er rät dazu, sich nochmals Hark Bohms ähnlich gelagerten "Nordsee ist Mordsee" aus den Siebzigern zu vergegenwärtigen: "weniger als Kritik und Korrektur denn als Rückgewinnung eines Möglichkeitsraums."
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Kunst

Die Kunstprofessorin Sabine Gebhardt-Fink verleiht in der NZZ verhalten ihrer Freude Ausdruck, dass die Kunst im öffentlichen Raum in ihrer aktivistischen Variante wieder präsent ist, könnte aber gut mehr davon haben: "Künstlerische Strategien können dazu beitragen, präzise Taktiken zu entwickeln bezüglich der Nutzung urbanen Terrains, um gemeinschaftlichen Grund zunehmender Privatisierung zu entziehen. Derartiges künstlerisches Agieren hat politische Kraft und Brisanz und bedeutet eine Praxis, die wir gegenwärtig dringend benötigen."

Daniele Muscionico empfiehlt außerdem in der NZZ Christian Philipp Müllers "Kunst-Karambolage" im Nidwaldner Museum Stans: "Konzeptkunst trifft auf Institutionskritik."

Besprochen werden Gordon Parks' Fotoschau im C/O Berlin (Tagesspiegel), Lee Lockwoods Bildband "Castros Kuba" (FR) und die Installation "Food-Ökologien des Alltags" bei der Triennale der Kleinplastik in Fellbach (SZ). Außerdem führt der Tagesspiegel durchs Programm der Berlin Art Week.
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Literatur

In der FAZ kann Niklas Bender nur den Kopf schütteln über stetig wiederkehrende Versuche, Michel Houellebecq doch irgendwie der Linken zuzurechnen , wie es gerade Gavin Bowd in seinem Buch "Mémoires d'outre-France" versucht: "Wenn ein Schriftsteller über Jahrzehnte immer wieder um ein Thema kreist, dann mag er noch so geschickt jonglieren: es ist eine Obsession. Literaturkritik und -wissenschaft, durch die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler so abgeklärt wie kurzsichtig, haben Rauch gesehen, aber nicht das Feuer. Ist Houellebecq rechtsextrem? Sicher nicht, sein Werk hat nur eine Tendenz, und die weist nicht nach links."

In The Vulture meldet Dee Lockett die Shortlist für den Man Booker Prize. Im Guardian bemerken Alison Flood und Mark Brown, dass große Namen wie JM Coetzee und AL Kennedy nicht mehr dabei sind.

Weiteres: René Hamann berichtet in der taz von Delphine de Vigans Berliner Präsentation ihres Buchs "Nach einer wahren Geschichte". Zum hundersten Geburtstag Roald Dahls besucht Freitag-Autor Michael Marek das dem Autor gewidmete Museum in Great Missenden. Für die SZ hat Samir Sellami die Veranstaltungen des Internationalen Literaturfestival Berlin zum Thema "Islamismus" besucht. SZler Peter Laudenbach besucht den Schriftsteller und Dramatiker Volker Braun.

Besprochen werden unter anderem Christian Krachts "Die Toten" (taz), Luciana Castellinas Autobiografie "Die Entdeckung der Welt" (taz) und John Burnsides "Wie alle anderen" (FAZ). Mehr aus dem ilterarischen Leben im Netz auf unserem Metablog Lit21.
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Musik

Knut Henkel unterhält sich in der NZZ mit Rapper Vincent Mason alias Maseo über De la Soul und ihr neues Album "And The Anonymous Nobody". Atila Altun spricht für den Tagesspiegel mit dem Reggae-Musiker Patrice.

Besprochen werden Ron Howards Dokumentarfilm "The Beatles: Eight Days a Week - The Touring Years" (taz) und das Debüt der Preoccupations, das zugleich das zweite Album der Vorgängerband Viet Cong darstellt (Spex).
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Architektur

Für den Tagesspiegel besichtigt Frederik Hanssen die bereits fertiggestellten Räumlichkeiten der Berliner Staatsoper. Vor allem das neue Probenzentrum imponiert ihm sehr: "430 Quadratmeter groß, 9,14 Meter hoch, ausgestattet mit einem Spezialvorhang, über den sich die Nachhallzeit regulieren lässt, und einer Galerie, auf der die Sänger sich fühlen können wie auf der Bühne, bietet dieser akustisch vom Rest des Gebäudekomplexes abgekoppelte Raum ideale Arbeitsbedingungen. Die Mitglieder der Staatskapelle sollen nach dem ersten Klangtest Tränen der Rührung in den Augen gehabt haben."
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Bühne

Die als kulturpolitischer Coup geplante Personalie Waltz am Berliner Staatsballett erweist sich angesichts des zornigen Widerstands des Ensembles als "Riesenpleite", meint Christiane Peitz im Tagesspiegel-Kommentar: Nach der Volksbühnen-Debatte sehe es nun einmal mehr "danach aus, als hätten Müller und Renner es vor lauter Lust am Aufbruch versäumt, die Ensembles beizeiten für den Aufbruch zu gewinnen. Wo, wenn nicht in Berlin, ist solche Lust in der Kulturpolitik unverzichtbar?" Das Ensemble ist "krawallerprobt" schreibt Rüdiger Schaper ebenfalls im Tagesspiegel unter Verweis auf die zahlreichen Tänzerstreiks am Haus im vergangenen Jahr. Das Anliegen der Tänzer, Mitspracherecht bei der Personalentscheidung zu haben, stößt bei ihm auf taube Ohren: "Davon hat man in der Welt der Bühnen noch nie etwas gehört." Und: "Künstler sind keine Beamten."

Dass das Ensemble in seiner Petition den weltweit erstklassigen Ruf des eigenen Hauses in die Waagschale wirft, nimmt Dorion Weickmann in der SZ befremdet zur Kenntnis: Den Petitenten "muss entgangen sein, dass der Ruf längst gründlichst ruiniert ist. International spielt die Kompanie seit Jahren keine Rolle mehr. Mit London, Paris, Mailand, Moskau kann sie nicht konkurrieren, auch im Vergleich zu Stuttgart oder Düsseldorf ist sie nicht satisfaktionsfähig. Weil in Berlin einem antiquierten Ballettbegriff gehuldigt wird, der die Klassiker mumifiziert. ... Dieses Desaster haben Berliner Politiker zu verantworten, die das Staatsballett in die Opernstiftung steckten und ihm weder Fürsorge noch Respekt angedeihen ließen. Der rabiate Ton, den die Tänzer in ihrer Online-Petition anschlagen, ist das Echo vieler Demütigungen, die ihnen selbst widerfahren sind."

Schwach findet Katrin Bettina Müller in der taz die Argumente des Staatsballetts, das sie zu sehr in der Kultur der Repräsentation verhaftet sieht: "Sicher steckt in der Berufung von Sasha Waltz auch der Wunsch, das Berliner Staatsballett mehr der Gegenwart zu öffnen und aus dem Spielplan etwas anderes machen als einen bewahrenden Ort für historische Ballette und sehr gut getanzte Nettigkeiten, die ästhetisch glatt und inhaltlich belanglos waren."

Nur Jürgen Kaube, der Soziologe unter den Feuilletonchefs,  schreibt in der FAZ: "Man stelle sich vor, zur Direktorin der Alten Pinakothek in München würde eine Videokünstlerin ernannt."

Weiteres: Im Standard sprechen Thomas Jonigk und Anno Schreier über ihre Oper "Hamlet", mit deren Uraufführung das Theater an der Wien seine Spielzeit eröffnen wird: "'Hamlet' ist aber ein Text, der bis zu einem gewissen Grad gar nicht zu verstehen ist. Das ist eine gute Vorlage." Die Großintendanten Claus Peymann und Frank Castorf, die beide vor ihrer letzten Saison an ihren Berliner Häusen stehen, sind sich trotz aller Differenzen gar nicht mal so unähnlich, stellt Dirk Pilz in der FR fest. In der FAZ berichtet Jan Brachmann vom Ultima-Festival in Oslo, wo Calixto Bieito Benjamin Brittens "War Requiem" auf die Bühne brachte und Bent Sørensens "Vier Jahreszeiten" gezeigt wurden.

Besprochen werden Yael Ronens "Denial" am Maxim Gorki in Berlin (taz, mehr im gestrigen Efeu), ein "Käthchen von Heilbronn" in Mainz (FR), ein "Dornröschen" des American Ballet Theatre an der Pariser Bastille-Oper (FAZ) und der Saisonauftakt am Schauspiel Frankfurt mit Ersan Mondtags "Iphigenie" und Kay Voges' "Königin Lear" (SZ).
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