Efeu - Die Kulturrundschau

Mit der Liebe zum Zufall

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09.11.2016. MTV.com huldigt dem russsichen Trickfilmer Yuri Norstein. Die SZ fordert vom Dokumentarfilm etwas weniger Noblesse und mehr Klarheit. Außerdem bewundert sie das rationale Design der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Auf ZeitOnline stellt Georg Friedrich Haas klar: Ohne einen Begriff von Freiheit kann man John Cage nicht verstehen. Der Guardian bewundert Bob Dylan als traditionellen Maler. Der Standard gratuliert Friederike Mayröcker zum ersten Österreichischen Buchpreis - und umgekehrt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2016 finden Sie hier

Design


Braun SK 4, Radio-Phono Kombination, 1956. Hans Gugelot und Dieter Rams. Foto: Ernst Hahn, HfG-Archiv Ulm

In London widmet sich eine Ausstellung der einst höchst wirkungsvollen Hochschule für Gestaltung Ulm, die Jörg Heiser in der SZ gar nicht genug rühmen kann. Deren "Techno-Rationalismus brachte Höhepunkte des Designs hervor. Mit der Stereoanlage Braun SK 4 von 1956, bald 'Schneewittchensarg' getauft, verabschiedete sich häusliche Technik von der Tarnung als Möbelstück. Visionär ist das von der Entwicklungsgruppe E 5 unter Otl Aicher 1962 entwickelte Erscheinungsbild für Lufthansa. Heute sind wir raffiniert glatte Corporate-Design-Konzepte gewohnt, vom kleinsten Zettel bis zum riesigen Firmenlogo; damals war so etwas bahnbrechend."
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Literatur

Friederike Mayröcker erhält für ihr poetisches Diarium "fleurs" den in diesem Jahr erstmals vergebenen Österreichischen Buchpreis. Der Standard nimmt die Entscheidung für die 92-jährige Dichterin nicht gerade enthusiastisch, aber doch positiv auf: "Die Auszeichnung geht  an eine Autorin, über deren Qualitäten man nicht zu streiten braucht und die nach den Bänden 'études' und 'cahiers' die Leser zum dritten Mal intensiv und sprachlich zunehmend radikaler an ihren 'Verbalträumen', Erinnerungen und Sehnsüchten teilhaben lässt. Man kann über diese wenig überraschende Entscheidung angesichts der literarisch starken Shortlist streiten, das Gute ist: Die Latte liegt nun hoch."

An Peter Weiss, der gestern hundert Jahre alt geworden wäre, erinnern die Autoren des Freitag, Katrin Hillgruber im Tagesspiegel und Harald Jähner in der FR. Im Nachtstudio des Bayerischen Rundfunks befasst sich Thomas Kretschmer eine Stunde mit Weiss.

Besprochen werden Teresa Präauers "Oh Schimmi" (taz), Arjen Lubachs Krimi "Der fünfte Brief" (Tagesspiegel), Haruki Murakamis Essaysammlung "Von Beruf Schriftsteller" (FR), Esther Kinskys "Am kalten Hang" (SZ) und Friederike Reents' "Stimmungsästhetik - Realisierungen in der Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert" (FAZ).
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Bühne


Der Chor tanzt: "Liliom" am Theater am Gärtnerplatz. Foto: Thomas Dashuber

In der NZZ zeigt sich Marco Frei recht enttäuscht von Johanna Doderers neuer Oper "Liliom", obwohl er auf die Komponistin wie auch auf Josef Köpplinger als Regisseur und Librettisten große Stücke hält. Doch ihre Adaption von Ferenc Mólnars Budapester Vorstadt-Legende für das Münchner Gärtnerplatz-Theater bleibt in seinen Augen etwas matt: "Abgesehen von einigen clusterhaften Stimmführungen im Chor überwiegt eine Über-Romantik. Das passt sowohl zum k. u. k. Kolorit wie auch zu Molnárs Hang zum Kitsch. Ein kräftiger Schuss Walzerseligkeit rundet das Ganze ab, doch was weder Doderers Musik noch Köpplingers Inszenierung einfangen, ist die Mehrschichtigkeit. Bei Molnár liegen Tragik und Komik dicht beieinander, und ähnlich wie im 'Wozzeck' blicken die Figuren stets tief in den sozialen Abgrund."

Matthias Lilienthal hat in seiner zweiten Saison als Intendant der Münchner Kammerspielen mit reichlich Altensemble-Schwund zu kämpfen, meldet Christine Dössel in der SZ: Nach Brigitte Hobmeier verlassen nun auch Katja Bürkle und Anna Drexler das Haus. Das lasse nach Dössels Ansicht "auf einige Unzufriedenheit in Teilen des Ensembles schließen. Unter Lilienthal haben sich die Kammerspiele vom traditionellen Sprechtheater verabschiedet. Wie Hobmeier sind auch Drexler und Bürkle zuletzt kaum mehr beschäftigt worden. In mediokren Performances wie '50 Grades of Shame' von She She Pop oder 'War and Peace' von Gob Squad war ihr Part eher der von dienstbaren Hilfsarbeiterinnen."

Weiteres: In einem Beitrag für die Nachtkritik preist der Dramaturg Harald Wollf die Stadttheater als "Erfahrungsräume der Demokratie" und Bastionen gegen den Populismus. Felicia Zellers in Saarbrücken gezeigte Big-Data-Offline-Allegorie "Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du" ist für einige Lektionen gut, meint Cornelia Fiedler in der SZ, zum  "Das angesagte, blauäugige Nichts-zu-Verbergen-Haben ist ein Luxus."

Besprochen werden Michael Rufs in Berlin gezeigtes Stück "NSU-Monologe" (Tagesspiegel), Michael Thalheimers "Prinz Friedrich von Homburg"-Inszenierung in Frankfurt (taz) und die Londoner Aufführung des David-Bowie-Musicals "Lazarus" (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Film

Im anspruchsvolleren Dokumentarfilm gelten journalistische Einsortierungen oder gar ein erklärende Voice-Over als ziemlich gewöhnlich und somit unerwünscht, schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Angesichts dieser feinen Noblesse vor Kulisse schwelender Konfliktherde empfindet er jedoch zunehmend Unbehagen. Konkret geht es ihm um Filme wie Gianfranco Rosis Berlinale-Gewinner "Seefeuer" (unsere Kritik), Friedrich Mosers "A Good American" und Hupert Saubers Afrika-Doku "We Come As Friends". Kniebe glaubt, diese Art des Dokumentarfilmemachens habe "sich inzwischen zu Tode gesiegt. ...  Sie scheuen keine Mühen, um relevant zu sein. Aber was sie dann scheuen, ist Klarheit." Kniebes klare Forderung: Wer Filme über die Sauereien auf dieser Welt dreht, muss "bereit sein, in jedem Moment um Klarheit, Verifizierung und Verständlichkeit zu ringen. Mit allen verfügbaren künstlerischen Mitteln, mit allen nötigen Erklärungen und Kommentaren, mit allen Recherchen und Nachfragen, die machbar sind."

In einem sehr liebevollen Artikel erzählt Brian Philipps auf MTV.com die Geschichte des Trickfilmzeichners Yuri Norstein, der seit 37 Jahren an einer Adaption von Nicolai Gogols Geschichte "Der Mantel" arbeitet. Philipps erzählt von Norsteins Kindheit in einer russischen Kommunalka, den unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von Zeit und Norsteins Vorstellung von künstlerischer Perfektion. "Technische Perfektion ist nicht das oberste Ziel der Kunst. Kunst braucht Menschlichkeit, darum können Kinderzeichnungen fesselnd sein, während ihn Computeranimationen physisch krank machen. Kleine Fehler machen eine Arbeit menschlich und schön."

Weiteres: Hans-Jörg Rother resümiert in der FAZ das Festival DOK-Leipzig.

Besprochen werden die Netflix-Serie "The Crown" (NZZ), Martin Gressmanns Langzeitdokumentarfilm "Das Gelände" über den Wandel des Areals, auf dem sich in Berlin heute die Topographie des Terrors befindet (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und Woody Allens "Café Society" (FAZ, mehr dazu in unserer Rundschau anlässlich der Premiere des Films in Cannes).
Archiv: Film

Kunst


Bob Dylan: Manhattan Bridge, Downtown New York, 2015-2016. Foto: Adam Reich, Halcyon Gallery

Als Dichter mag Bob Dylan modern sein, als Maler ist er es nicht, stellt Jonathan Jones im Guardian kategorisch fest, der sich in der Londoner Halcyon Gallery Bilder des neuen Nobelpreisträgers angesehen hat: Der Mann malt, was er sieht. Aber natürlich gefällt es Jones trotzdem: "This guy can look. His drawings are intricate, sincere, charged with curiosity. He has a living, loose line that stops them descending into mere pedantry. Life astounds him. Most of his sketches are of places on the edge of town or on run-down corners, the fading, interstitial essence of Americana: coffee shops, drive-ins, all-nite venues. Myth haunts these stage sets of American stories and songs, yet they are secretive, mysterious. They are seen from outside by an artist who does not try to learn more or less than his eyes tell him."

Die von Jochen Volz kuratierte Biennale in Sao Paulo biete neben viel politischer und fragmentarischer Dokumentar-Kunst auch Möglichkeiten zur "Flucht vor der Gegenwart in die mystischen Schönheiten des Uralten", berichtet Niklas Maak in der FAZ. Für den Freitag besucht Moritz Scheper Stuttgart, die zum dritten Mal nach 2012 und 2014 deutsche Kulturhauptstadt des Jahres geworden ist.

Besprochen wird eine Ausstellung zum 100. Todestag des impressionistischen Malers Waldemar Rösler in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

Die Zeit hat Cordula Reyers Gespräch mit dem Komponisten Georg Friedrich Haas online nachgereicht, in dem sich dieser nicht nur zu seinen sadomasochistischen Neigungen bekennt, derentwegen er nach New York ausgewandert ist, sondern auch über seine Kindheit in seiner Nazi-Familie spricht. Aus diesem Ideologiemorast hat ihn nicht nur ein fürsorglicher Freund gezogen, sondern auch die Musik: "Die Klangwelt von John Cage hat mich fundamental verändert. Mir ist klar geworden: Man kann Schönberg verehren und ein Nazi sein. Das geht. Aber nicht Cage. John Cage ist ein Komponist, für den der Freiheitsbegriff existenziell ist, der mit dem Zufall und mit der Liebe zum Zufall operiert. Cage sagt: 'Wenn ein Stück von mir gespielt wird, und ich erkenne es nicht wieder, dann spricht das für mich.' Wenn man diese Welt betritt, die Welt der non-intentional music, die zulässt und nicht einengt, die umarmt, was klingt, dann lässt sich das nicht mit den reaktionären Anschauungen meines Elternhauses vereinen."

SZler Michael Stallknecht genießt ein Konzert des Pianisten Lucas Debargue, der sich binnen kurzer Zeit - wie auch anhand unserer Kulturrundschauen nachzuvollziehen ist - zum neuen Liebling der Kritik gemausert hat: "Debargue singt Melodiestimmen mit schönem Anschlag in der rechten Hand aus, ohne sentimental zu werden. Bei den Tempi schlägt er dagegen gern kapriziöse Haken. Anhänger der historischen Aufführungspraxis werden an Debargues Zugang nicht allzu viel Freude haben. Hier kreist tatsächlich ein Ich radikal um sich selbst und nimmt sich seine Freiheiten aus dem Moment."

Mit ihrem dritten Album "Baaz" können die Oberammergauer Hausbesetzer-Techno-Blasmusiker Kofelgschroa tazler Steffen Greiner endlich voll überzeugen: "Hier wird endgültig klar, dass es bei Kofelgschroa um popkulturell äußerst versierte Künstler geht, nicht um harmoniebegabte Exoten aus dem Herrgottswinkel." Im aktuellen Video kann man das überprüfen:



Weiteres: Yasmin Polat vom Tagesspiegel besucht die Band Die Höchste Eisenbahn im Studio. In der FR schreibt Stefan Michalzik zum Tod des Jazzschlagzeugers Janusz Maria Stefanski. Für die FAZ hat Eleonore Büning die Badenweiler Musiktage besucht.

Besprochen werden das Album "The Dwarfs of East Agouza" von Bes (Zeit), das Frankfurter Konzert von The Cure (FR), das Berliner Konzert von Wilco (Tagesspiegel) und D.D. Dumbos "Utopia Defeated" (Spex).
Archiv: Musik