Efeu - Die Kulturrundschau

Sie besingen alle das Und

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2017. Den Kritikern des Standard klebt nach den Wiener Festwochen noch immer furchtbar viel Diskurswatte im Mund. Winckelmanns Liebe zu Griechenland war eine zu nackten Männern. Der Tagesspiegel besucht die Film-Guerilla, die im Berliner Wedding operiert und für die Bewahrung von klassischem Filmmaterial kämpft. Und Salman Rushdie wird siebzig: Die Berliner Zeitung feiert seine Romane, die kein Entweder-Oder kennen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2017 finden Sie hier

Bühne


Lois Selasie Arde-Acquahs Performance "Free Slave?" bei den Festwochen gilt den Standard-Kritikern als eine der stärksten Arbeiten

In einem gemeinsam verfassten Editorial bilanzieren die Kritiker des Standards die erste Saison der Wiener Festwochen unter dem neuen Leiter Tomas Zierhofer-Kin: Sein Programm war vielseitig, doch die einzelnen Produktionen hinterließen kaum einen starken Eindruck. monieren die Kritiker und sehen darin ein grundsätzliches Problem: "Kaum jemals zuvor war das Programm von Wiens Vorzeigefestival in eine dickere, undurchdringlichere Diskurswatte eingepackt. Längst dürfen Artefakte und Kunstpraktiken nicht mehr für sich allein bestehen. Sie werden unermüdlich besachwaltet. Die europäische Kunstverwertung hat sich bis an die Zähne mit 'postkolonialen' Redensarten bewaffnet. Ihre Sprecher überziehen das Tun und Lassen anderer, häufig nichteuropäischer Künstler mit Zeugnissen einer leerlaufenden Hypereloquenz. Kein Wunder, dass die Aufführungen darunter oft schmächtig wirken."

Weiteres: In der taz lässt sich Kriss Rudolph von Regisseur Stefan Otteni erzählen, wie er in der nordirakischen Stadt Suleimania mit Flüchtlingen aus Syrien den Sufi-Klassiker "Die Konferenz der vögel" probt. Katrin Bettina Müller stellt in der taz die Theaterautorin Anne Lepper vor, die am Wochenende mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde. Wie vergiftet die Atmosphäre in den USA derzeit ist, erkennt Andrea Köhler in der NZZ an der Aufregung um die New Yorker Shakespeare-Inszenierung auf, bei der Julius Caesar mit karottenfarbigem Haar auftritt. FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster hat in Amsterdam Alexei Ratmanskys "Shostakovich Trilogy" mit dem Dutch National Ballett und als grandioses ästhetisches Manifest erlebt, als Rettung des klassischen Tanzes in die Zukunft. SZ-Kritiker Jürgen Berger kommt bekehrt von den Mannheimer Schillertagen, die das Kollektiv Signa mit dem Endzeitszenario "Heuvolk" eröffnete.

Besprochen werden die Nummernrevue "Crisi di Nervi" des Zürcher Theater Neumarkt (NZZ), Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Bulgakows "Meister und Margarita" am Staatstheater Mainz (Nachtkritik) und Modest Mussorgskys "Boris Godunow" an der Deutschen Oper Berlin (Berliner Zeitung, SZ).
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Literatur

Wenn Ayatollah Khomeini das noch hätte erleben dürfen: Salman Rushdie wird 70 Jahre alt. "Seine Bücher zu lesen, ist eine Lust", schreibt Arno Widmann in der Berliner Zeitung: "Er liebt es, seinen Assoziationen zu folgen, auch die absurdesten noch plausibel zu machen und die Plausibilität zu zerstören. Es gibt in Rushdies Romanen kein Entweder-Oder. Sie besingen alle das Und."

In der FAZ feiert Dietmar Dath den Jubilar als Meister der Fantastik von hochliterarischen Weihen. Rushdie wolle "den Menschen lieber in die interessanten Gesichter sehen als in die gläubigen Köpfe ... Danach giert er nicht als reiner Protokollonkel und Abbildhandwerker, sondern als Lügner, eben Geschichtenspinner, weil nun mal das Einzige, was die einander entfremdeten und oft genug einander feindlichen Erlebniskreise der Menschen (...) wirklich verbindet, die Tatsache ist, dass sie das Vergangene über Mythen und das Künftige über Spekulation zu verstehen suchen." Weitere Geburtstagsgrüße entsenden Thomas Steinfeld (SZ) und Angela Schader (NZZ).

Weiteres: In einem großen NZZ-Essay würdigt Beatrice von Matt William Faulkner, von dem gerade auch frühe, von Arno Schmidt übersetzte Texte erschienen sind (hier besprochen in der NZZ). Ebenfalls in der NZZ, ebenfalls sehr ausführlich schreibt Tobias Amslinger über Hans Magnus Enzensberger als Literaturvermittler. Hans-Peter Kunisch berichtet in der SZ vom 18. Berliner Poesiefestival. Deutschlandfunk Kultur bringt Nadja Küchenmeisters Feature über Schriftsteller und Ortswechsel.

Besprochen werden eine Emmanuel Bove gewidmete Ausstellung in der Universitäts- und Landesbibliothek in Darmstadt (SZ), J. M. Coetzees Ein Haus in Spanien" (Welt), Zerocalcares Comic "Kopane Calling" (Jungle World), Szilárd Borbélys "Kafkas Sohn" (Tagesspiegel), Jochen Beyses "Fremd wie das Licht in den Träumen der Menschen" (Zeit), und neue Hörbücher, darunter eine von Michael Krüger eingelesene Version von W.G. Sebalds Roman "Austerlitz" (FAZ).
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Musik

In der Welt porträtiert Felix Zwinzscher die Sängerin Lorde, die von David Bowie vor wenigen Jahren als die "Zukunft der Musik" ausgerufe wurde. Ralf Hütter von Kraftwerk hat dem Guardian eines seiner seltenen Interviews gegeben. Thomas Stillbauer gratuliert Paul McCartney in der FR zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Monteverdi-Aufführungen durch das Ensemble Corund (NZZ), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Mariss Jansons (von einem "Besuch in der Wohlfühloase" spricht Stefan Ender im Standard), das neue Album von Miraculous Mule (FR), das neue Album des Trompeters Avishai Cohen (SZ) und ein Konzert von Arcade Fire (FAZ).
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Kunst

In der Welt jubelt Tilman Krause über eine  Ausstellung im Schwulen Museum, die Winckelmann und den Klassizismus "aus dem Geist der Männerliebe" erklärt: "Männliche Schönheit. Männliche Körper. Und zwar nackt. Das ist eine unziemliche Trivialisierung von Forscherdrang und Wissenschaftsfleiß? Mitnichten! Das ist eine Rückführung auf die Erotik als elementare Grundlage aller Leidenschaften, auch der intellektuellen."

Besprochen werden die Max-Pechstein-Ausstellung im Hamburger Bucerius Forum (FAZ), die Frank-Lloyd-Wright-Ausstellung  Unpacking the Archive" im New Yorker Moma (SZ) und die Ausstellung "Von Hopper bis Rothko. Amerikas Weg in die Moderne" im Museum Barberini in Potsdam (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

In einem Gewerbehof im Berliner Wedding wird das Filmerbe ganz pragmatisch hinsichtlich seiner Aufführungs- und Produktionstechnik am Leben gehalten, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: Der Verein Labor Berlin, eine Initiative von Filmemachern und Künstlern, sammelt und bewahrt dort Technik zur Herstellung und Vorführung von klassischem Filmmaterial - und damit auch das Wissen, das es zur Bedienung dieser vom kommerziellen Betrieb für obsolet erklärten Medientechnik braucht. Der Verein erinnert Busche "an eine Film-Guerilla, die außerhalb der Industrie operiert. ... Man versteht sich als Kollektiv, das Wissen ausgräbt und weitergibt. Für viele Filmemacherinnen und Filmemacher in der Gruppe war die Beschäftigung mit den Maschinen zudem ein wichtiger Schritt, um erstmals die gestalterischen Möglichkeiten der Technik verstehen zu lernen. 'Plötzlich merkt man', sagt Arne Hector, 'dass der fotochemische Prozess Experimente zulässt, die in kommerziellen Kopierwerken nie jemand versucht hätte.'" Aber man ist auch international vernetzt: "Vor einigen Jahren half man gemeinsam mit einem Labor in Athen einer Gruppe ägyptischer Filmemacher, ein Kopierwerk in Kairo aufzubauen"

Weiteres: Für den Standard spricht Michael Pekler mit der Regisseurin Anne Fontaine über deren Nonnenfilm "Agnus Dei". Auf ZeitOnline berichtet Monika Ermert von den Kontroversen hinter den Kulissen rund um Laura Poitras' Dokumentarfilm "Risk" über Wikileaks-Aushängeschild Julian Assange. Ulrich Lössl spricht in der Berliner Zeitung mit Robin Wright, die gerade im Superheldinnenfilm "Wonder Woman" in einer Nebenrolle zu sehen ist. Außerdem schreibt Sarah Khan im Freitag über die Probleme, die sie mit der neuen Staffel von "House of Cards" hat.
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