Efeu - Die Kulturrundschau

Schockwellen der Erkenntnis

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17.07.2017. Im Standard ermuntert Peter Truschner Frauen im Kunstbetrieb, auch mal unangenehm aufzufallen. Die taz stellt fest: Bilder von Autos werden viel schöner, wenn Frauen am Steuer sitzen und nicht auf der Motorhaube liegen. Die taz berichtet auch, dass beim Filmfestival im armenischen Eriwan keine LGBT-Filme mehr gezeigt werden. In der NZZ besingt Alberto Nessi die Provinz als wahre Heimat der Literatur. Au revoir Colette, seufzt die SZ, die jetzt wieder nach Mailand zum Einkaufen fahren muss.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.07.2017 finden Sie hier

Kunst


Schön ikonisch: Jacques Henri Lartigue, Grand Prix de l'ACF, Automobile Delage, Circuit de Dieppe, 26 juin 1912. Ministère de la Culture, France.

Brigitte Werneburg besucht in Paris die Ausstellung "Autophoto" in der Fondation Cartier und macht eine Entdeckung: Je männlicher Blick auf das Auto, umso schrecklicher. "Die grauenhaftesten Bilder der Ausstellung sind deshalb die Fotos, die Bill Rauhauser um 1975 auf der Automesse von Detroit aufgenommen hat und die neben jedem neuem Automodell eine sexy junge Frau zeigen. Das Arrangement bezeichnet das Auto wie die Frau als zentrale Waren der patriarchalen Gesellschaft. Übertroffen wird das Grauen nur noch von den Bildern, die Jacqueline Hassink auf den entsprechenden Autosalons in Genf, Frankfurt am Main, Paris, Tokyo und Schanghai aufgenommen hat. Zwischen 2002 und 2008! Wann hatte Edward Quinn Françoise Sagan, die sich, wie sie sagte, nur im Auto als Handelnde sah, am Steuer eines Jaguar XK120 fotografiert?! 1954."

Im Standard überlegt der Autor und Fotograf Peter Truschner, warum sich Frauen im Kunstbetrieb so schwer durchsetzen können. Frauen wollen nicht unangenehm auffallen, glaubt er zum Beispiel, und sie selbst mögen auch keine Frauen, die unangenehm auffallen. Ein anderer Grund: "Der Irrtum liegt darin, dass die Leute glauben, 'Frauenförderung' bedeute, dass Frauen gefördert werden. 'Frauenförderung' bedeutet in Wahrheit, dass Fördergeld zur Verfügung steht - in den USA über universitäre und andere private Stiftungen ein vielfaches Millionenvermögen. Die primäre Aufgabe US-amerikanischer Kunstinstitutionen ist, so viel wie möglich von diesem Geld einzustreichen - genau das ist es auch, worum sich Geschäftsführerinnen und Kuratorinnen hauptsächlich kümmern. Die Förderungen betreffen dabei wie üblich die 18- bis 35-Jährigen. Danach nehmen sowohl die Förderungen als auch das Interesse der Kuratorinnen an den Künstlerinnen drastisch ab."

Begeistert, aber auch leicht entsetzt kommt Welt-Kritikerin Stefanie Bolzen aus der Londoner Tate Modern, die mit der Ausstellung "Soul of a Nation" an die amerikanische Kunst von Bürgerrechtsbewegung und Black Power erinnert: "Während der kreative Ausfluss der schwarzen Künstler gewaltig ist, erfuhren sie in diesen Jahren - wenig überraschend - auch in ihrer nächsten Umgebung weiterhin krasse Formen von Diskriminierung. Für eine Sonderausgabe des Time Magazine recherchierten Reporter, dass etwa im Whitney Museum seinerzeit gerade einmal 15 von 1100 Werken von schwarzen Künstlern waren. Im MoMa waren es zwölf von 450." (Bild: Barkley L. Hendricks "Icon for My Man Superman (Superman Never Saved any Black People - Bobby Seale)" 1969. Tate Modern.)

Weitere Artikel: In der NZZ feiert Maria Becker die große Ausstellung über den visionären Maler Otto Freundlich, die das Kunstmuseum Basel vom Kölner Museum Ludwig übernommen hat. Für die SZ trifft Jürgen Schmider den rechten amerikanischen Straßenkünstler Sabo, der in seinen Aktionen beschwört, was er bei den Marines gelernt hat. Trump findet er natürlich großartig: "Mir gefällt vor allem, wie er den Linken in die Fresse tritt."

Besprochen werden die dem Kreis um Sigmar Polke gewidmete Ausstellung "Singular/Plural" in der Düsseldorfer Kunsthalle (SZ) und die Schau "Renaissance Venice" im Museum ThyssenBornemisza in Madrid (FAZ).
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Musik

Das neue Album von Haim möchte Nadine Lange vom Tagesspiegel am liebsten "an einem Sommertag in einem offenen Cabrio" hören.

Besprochen werden das neue Album "Also sprach Zarathustra" von Laibach (Spex), ein Konzert von Fury in the Slaughterhouse (Welt), ein Konzert von Fabio Luisi und der Philharmonia Zürich (NZZ), ein Konzert von  Tomasz Stanko und Enrico Rava (Standard) und das neue Album von Broken Social Scene (SZ).
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Stichwörter: Laibach, Luisi, Fabio, Cabrio

Film

Nach Protesten konservativer und christlicher Kräfte sind beim 14. Internationalen Kinofestival im armenischen Jerewan zwei LGBT-Filme aus dem Programm genommen worden, berichtet Aren Melikyan in der taz. Insbesondere der Protest der Armenischen Apostolischen Kirche gegen "gotteslästerliche Erscheinungen" sei ausschlaggebend gewesen. "Die Stellungnahme der Kirche stieß nicht bei allen auf Zustimmung. 'Wir sind laizistisch, die Kirche ist vom Staat getrennt. Tatsächlich aber sehen wir, dass sich die Kirche in alle Bereiche einmischt. Ein Grund dafür ist, dass Menschenrechte hier keine Priorität haben. Wenn der Staat etwas durchsetzen will, tut er das über die Kirche. Wenn etwas verboten werden soll, heißt es, die Kirche sei dagegen', sagt der Menschenrechtler Zaruhi Hovhannisyan."

Regisseur Ken Loach, der Musiker wie Radiohead gerne und lautstark dazu auffordert, keine Konzerte in Israel zu spielen, nimmt es offenbar selbst nicht ganz so genau, wenn es um die eigene Bilanz geht: Zumindest hat eine Recherche des Guardian ergeben, dass Loachs aktueller Film "I, Daniel Blake" derzeit in den israelischen Kinos zu sehen ist. Angeblich sei der Film im Trubel von Cannes "zufällig" an den israelischen Verleiher verkauft worden, lässt Loachs Managment verlauten. Der israelische Verleiher stellt die Lage anders dar: "Guy Shani sagte dem Guardian, dass er Loach und dessen Produzenten seit Jahren kennt, man ihnen 'jedes Jahr' Geld bezahle und bislang keine Widerspüre laut wurden. 'Seit 1993, als wir 'Raining Stones' gekauft haben, haben wir mit Ausnahme von zwei Filmen jeden von Loachs Filmen gekauft. Beim Ankauf hat es nie Probleme gegeben.'"

Weiteres: Für den Tagesspiegel plaudert Christof Bock mit dem Filmemacher Luc Besson über dessen Adaption des französischen Science-Fiction-Comics "Valerian und Laureline" (mehr dazu in unserer Magazinrundschau). George Sluizers in den 90er Jahren entstandener, unvollendet gebliebener Film "Dark Blood", in dem River Phoenix seinen letzten Auftritt hatte, kommt nun in einer Rekonstruktion in die Kinos, meldet Sofia Glasl in der SZ. Gedanken zum Start der siebten Staffel der Serie "Game of Thrones" machen sich Anne Burgmer (Berliner Zeitung), Claudia Schwartz (NZZ), Jan Küveler (Welt), Sonja Thomaser (FR) und Caspar Shaller (Zeit). Außerdem melden die Agenturen den Tod des Schauspielers Martin Landau und des Regisseurs George A. Romero.

Besprochen wird John Maddens "Die Erfindung der Wahrheit" (Freitag).
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Literatur

In der Provinz gedeihen Kultur und Literatur, beobachtet der Schriftsteller Alberto Nessi bei einem Besuch in einem kleinen Dorf, in das es ihn für eine Lesung verschlagen hat. "Die Deutschschweizer verstehen es, Wunder zu vollbringen, wenn sie wollen", schreibt er in der NZZ. "Wir haben über Literatur gesprochen in einem dieser Dörfer, die mehr zuwege bringen als die Städte, sofern da nur die richtigen Leute wohnen. ... Giacomo Leopardi macht in einem seiner 'Opuscula moralia' folgende Beobachtung: Das literarische Volk der großen Städte sei weniger in der Lage, sich eine Meinung von den Büchern zu machen, als etwa jenes der kleinen Städte: 'da nämlich in den großen Städten die Dinge vielfach falsch und flüchtig seien, so sei da auch die Literatur häufig falsch, flüchtig oder oberflächlich'."

In der taz würdigt Renate Kraft Jane Austen zu deren 200. Todestag als "eine Schriftstellerin, die die Lebensverhältnisse ihrer Zeit einer kritischen Prüfung unterzieht, sich dabei zunächst an einem emphatischen Vernunftbegriff orientiert, später jedoch eine Gesellschaftskritik vorträgt, die von romantischen Vorstellungen her operiert. Weit davon entfernt, sich mit den vorgegebenen Lebensmöglichkeiten eines 'zweiten Geschlechts' zu bescheiden, hat sie eine Position der aktiven Zeitgenossenschaft eingenommen."

Die Welt schließt das Sommerloch mit einer Serie über Säulenheilige des Kulturbetriebs, die sie ausnahmsweise mal vom Thron wirft. Heute: Franz Kafka. "Kafka bohrte sich so sehr in die angeblich schicksalshafte Seite seiner Existenz hinein, dass sein gesamtes Weltbild auf die größtmögliche Negation von Merkels Mutmachersatz 'Wir schaffen das' hinauslief. ... So vermochte er kein literarisches Großprojekt, keine partnerschaftliche Beziehung, keine lustvolle, unbeschwerte Sexualität zu entwickeln."

Besprochen werden Theresia Enzensbergers "Blaupause" (Welt, Tagesspiegel), Zoë Becks "Die Lieferantin" (Welt), Sara Stridsbergs "Das große Herz" (SZ), neue Bücher über Henry David Thoreau (Zeit) und neue Hörspiele, darunter eine Bearbeitung von Thomas Manns "Tonio Kröger" (FAZ).

Mehr als eine Besrpechung war Andreas Breitensteins bilanzierender NZZ-Essay über Peter Esterhazy am Samstag, auf den wir darum nochmal eigens hinweisen: "Im Schmerz findet er keine Lehre, und es gibt auch kein wahres Ich, das sich jetzt enthüllen könnte. 'Unendlichkeit' spürt er ebenso wenig wie 'Endlichkeit'. Einzig 'die Schönheit des Lebens', 'seine einmalige, phänomenale usw. usw. Eigenschaft' leuchtet in Momenten der Stille auf."

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über E.E. Cummings' Gedicht "XAIPE / 65":

"ich dank Dir Gott für meist den wundervollen
tag: für dieses sprunghafte baumsein grün wie je;
den klaren wahren traum von himmel; alles
..."
Archiv: Literatur

Design

Au revoir, ruft Tanja Rest in der SZ dem glamourösen Pariser Concept Store Colette zu, der nach achtzehn Jahren in der Rue Saint-Honoré zum Jahresende schließen werde: "Es gab tatsächlich für alle was zu kaufen, was dem Luxus wiederum die Kälte nahm und ihm ein menschliches Antlitz verpasste. Das war zugegebenermaßen nicht ganz neu, sieben Jahre zuvor hatte in Mailand die ehemalige Modejournalistin Carla Sozzani ihre Boutique 10 Corso Como bereits ähnlich bestückt."
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Stichwörter: Luxus

Architektur

Für die taz feiert nun auch Daniel Sylbersztajn Francis Kérés wunderschönen und bereits vielfach besungenen Sommerpavillon der Serpentine Gallery in London: "Leitmotiv des Pavillons wie auch des Architekturstils Kérés ist das Offene."
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Bühne


Hofesh Shechters "Grand Finale" beim Tanzfestival "Colours" in Stuttgart

Als großes aufwühlendes Zivilisationsrequiem erlebt SZ-Kritikerin Dorion Weickmann Hofesh Shechter Choreografie "Grand Finale" beim Tanzfestival Colours in Stuttgart: "Mitte Juni in Paris uraufgeführt, rechnet das Stück mit der Wohlstandsfestung des Westens ab, vor deren Toren andere Weltregionen in Aussichts- und Ausweglosigkeit versinken. Dass das nicht dauerhaft gut gehen kann, wissen alle: Spätestens seit Flüchtlinge ihr eigenes Leben wie das ihrer Kinder riskieren, um das gelobte Land nördlich des Mittelmeers zu erreichen. Shechter ist ein unbarmherziger Beobachter dieser Gegenwart. Vor allem aber ringt er selbst apokalyptischen Szenarien eine Kunst ab, die den Betrachter mit Schönheit fesselt und ihm zugleich Schockwellen der Erkenntnis durchs Gehirn jagt."

Weiteres: In der taz erlebt Uwe Mattheis, wie Jan Fabre beim Impuls-Tanzfestival "der Wiener Moderne Eselsohren macht". In der SZ berichtet Reinhard Brembeck vom Opernfestival in Aix en Provence. In der FAZ zelebriert Gina Thomas die sommerlichen Opernfestival in Englands Gärten.

Besprochen werden Simon Stones "Ibsen Huis" beim Festival d'Avignon (Nachtkritik), Verdis "Der Maskenball" im Palmengarten in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne