Efeu - Die Kulturrundschau

Die Rücksichtslosigkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2017. Die FAZ beobachtet das Werden einer Schreckenssiedlung nördlich der A5. Die NZZ sieht die USA mit der Debatte um Balthus zwischen Prüderie, Pornografie und Hysterie taumeln. Die FR folgt Yves Tanguy ins "Reich der Misteldruiden". Die SZ besucht in Saarbrücken einen Museumsneubau, dem die eigene Beliebtheit eingeschrieben ist. Und die Filmkritik folgt den Sternenflottenstreber des achten Star-Wars-Films an den Rand des Burn-outs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.12.2017 finden Sie hier

Architektur


Der Erweiterungsbau der Modernen Galerie Saarbrücken. Foto: Stiftung Saarländischer Kulturbesitz

Die Moderne Galerie Saarbrücken gehört zu den schönsten Sammlungen in Deutschland, schreibt Catrin Lorch in der SZ und berichtet, dass nach etlichen Kontroversen und Baustopps der Erweiterungsbau - mit einer recht heiteren Vernissage von Pae White - doch noch eröffnet werden konnte. Lorch konnte gleich sehen, wie gut der Bau ankam: "Schriftbänder ziehen sich über die Fassade. Es sind Zitate: gewundene Erklärungen, harsche Beschimpfungen, Ausrufe. 'Der fensterlose Bau an der Karlstraße' kann man lesen, 'die Wucht' und 'die Rücksichtslosigkeit'. Offensichtlich sind das Fragmente einer Diskussion, die aussehen, als hätte man das Protokoll davon in Streifen geschnitten und diese - enorm vergrößert - auf den Bau gekleistert. Die Buchstaben kriechen die Mauern hinunter und über den Vorplatz."

Verdichteter Geschosswohnungsbau war bisher die bürokratische Bezeichnung für die Schreckenssiedlungen der Pariser Banlieue und der Neuen Heimat. Dass jetzt Frankfurt nördlich der A5 eine solche Neubausiedlung errichten will, wundert Niklas Maak irgendwie nicht: "Man muss den Begriff des Organischen sehr weit dehnen, um auch benzinfressende Blechpflanzen darin einzugemeinden, und man muss kein studierter Stadtplaner sein, um sich zu fragen, wie 'organisch' ein Stadtteil sein kann, den eine achtspurige, stark befahrene Autobahn in zwei Teile schneidet." Als Alternative sieht Maak die Gegend um den Rebstock-Park.
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Film

Daisy Ridley in der Star-Wars-Episode "The Last Jedi" (2017)

Die Filmkritik begibt sich mit dem nunmehr achten Teil der "Star Wars"-Saga um den Skywalker-Clan einmal mehr in eine "weit, weit entfernte Galaxis". Die Reiseberichte fallen jedoch uneins aus. Regisseur und Drehbuchautor Rian Johnson hat viel richtig gemacht, schreibt sehr zufrieden Andreas Busche im Tagesspiegel. Zu sehen gebe es "mehr reale, also realistischere Action, weniger computergenerierte Bilder, ein ausgezeichnetes Timing, eine durchweg gute Chemie zwischen den Figuren, das richtige dramaturgische Verhältnis zwischen persönlichen Konflikten und Schlachtszenen." Peter Huth gibt sich in der Welt als Fan der ersten Stunde zu erkennen, doch der neue Film ist ihm zu brav: "Jede Fernsehserie geht mittlerweile schonungsloser und dadurch liebevoller mit den Hauptfiguren um, selbst wenn sie in den Tod geschickt werden." Juliane Liebert von der SZ vermisst unterdessen die Utopie in diesem und anderen SF-Filmen: "Die glatten Sternenflottenstreber wirken genauso Burn-out-gefährdet wie ein durchschnittlicher BWL-Student."

Auf kino-zeit.de kommt Rajko Burchardt auf einen unschönen Aspekt der Sache zu sprechen: Disney, wo "Star Wars" seit dem Franchise-Neustart produziert wird, bringt den Film nämlich ziemlich rüpelhaft ins Kino: Mit erhöhten Abgabeforderungen und einer Mindestspielzeit-Dauer nämlich, denen sich die Kinos schlicht beugen müssen, um an der Sache überhaupt mitverdienen zu können. "Wer das erpresserische Spiel mit der Verlängerungsklausel, den Abgabeerhöhungen und Strafgebühren nicht mitspielen will, hat schlicht und ergreifend Pech gehabt. ... So schreibt der Konzern die besten Zahlen seiner Firmengeschichte und leistet zugleich einen widersprüchlichen Beitrag zum Kinosterben. 121 Millionen Besucher verzeichneten deutsche Filmtheater im letzten Jahr. Es war der niedrigste Wert seit 1992."

Außerdem: Im Freitag portätiert Rebecca Nicholson die Sängerin Mary J. Blige, die jetzt bei Netflix ihr Debüt als Schauspielerin gibt (hier der im Guardian veröffentlichte Text im Original).

Besprochen werden die auf Geschichten von Philip K. Dick basierende Anthologie-Serie "Electric Dreams", die FR-Kritiker Karsten Essen eher enttäuscht, und Claire Denis' "Meine schöne Sonne" (Welt, FAZ).
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Musik

Mit der Elektro-Band Schiller tritt erstmals seit 1979 wieder eine westliche Popband in Teheran auf, berichtet Gudrun Harrer im Standard, die damit Saudi-Arabien und Iran ein Wettrennen in Sachen zaghafter Öffnung bescheinigt. Julian Weber berichtet in der taz vom Transmusicales-Festival in Rennes, wo ihn erst die relativ spät auftretenden Acts Le Group Obscur und Shelmi mit dem Programm versöhnen können. Für die taz stattet Andreas Hartmann dem in einem Berlin-Kreuzberger Hinterhof gelegenen Exploratorium einen Besuch ab, wo seit 13 Jahren der moderne Jazz gepflegt wird.

Besprochen werden die neuen Soloalben der legendär zerstrittenen Oasis-Brüder Noel und Liam Gallagher (Standard), Sharon Jones' postum veröffentlichtes Album "Soul of a Woman" (NZZ), ein Eötvös-Konzert des HR-Sinfonieorchesters (FR) und Narek Hakhnazaryans Wiener Cellokonzert (Standard).

The Quietus kürt die besten Wiederveröffentlichungen des Jahres. Auf Platz Eins ist Alice Coltrane, mit einem Album, das man sich auf Bandcamp online anhören kann. Origineller und entlegener ist jedoch die Position Nummer Zwei: Eine ebenfalls online zugängliche Compilation mit Funk, Disco und Tanzmusik aus dem Kamerun der 70er-Jahre.

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Literatur

Die ladinische Dichterin Roberta Dapunt lebt zwar auf einem entlegenen Bauernhof in den Bergen, ein Idyll beschreiben ihre Gedichte aber nicht. Vielmehr entwerfen sie eine Ästhetik der Kargheit, schreibt Birgit Veit in der NZZ: "Dapunts Landschaft will kein zweckfreies Wohlgefallen hervorrufen. Es geht um Geborenwerden und Sterben, um Existenz in begrenzter Zeit: 'Alles ist da. Da ist was wird, / da ist die Zeit die geht und der Tod der kommt'." Bereits vor längerem schrieb auch unsere Lyrik-Kolumnistin Marie Luise Knott über Dapunt: "Ihre Verse schweben zwischen Wort und Schweigen, sie sind einfach und wissend, ein Gespräch zwischen dem Heiligen, dem Profanen, und dem, wie sich das Heilige im Profanen manifestiert."

Außerdem: Im Tagesspiegel spricht Leonard Hillmann mit Ulrich Schröder, der zu den wenigen deutschen Disney-Comic-Zeichnern zählt.  Zum 80. Geburtstag von Paul Maar sprechen Andrea Herdegen (Tagesspiegel), Wieland Freund (Welt) und Roswitha Budeus-Budde (SZ) mit dem "Sams"-Erfinder. In der taz gratuliert Malte Kreutzfeld.

Besprochen werden Petra Morsbachs "Justizpalast" (Tagesspiegel), Philip Kerrs "Friedrich der große Detektiv" (Tagesspiegel), Melinda Nadj Abonjis "Schildkrötensoldat" (SZ), Frank Witzels "Direkt danach und kurz davor" (Zeit), Harriet Cummings' "Eine von uns" (FR), die erstmals auf Deutsch vorliegende Fortsetzung zu Héctor Germán Oesterhelds Comicklassiker "Der Eternaut" (Standard) und Thomas Zimmers "Erwachen aus dem Koma?" über chinesische Literatur (FAZ).
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Kunst

Sehr suggestiv findet Ingeborg Ruthe in der FR die Ausstellung des Surrealisten Yves Tanguy in der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg mit dem verheißenden Titel "Im Reich der Misteldruiden": "Die Mistel, das Hexenkraut, wuchert, brennt, raucht, räuchert förmlich durch Tanguys Werk. Mit matissehaftem Schalk lässt er sich ein auf die Mistelverehrung keltischer Druiden. Überliefert von dem Naturhistoriker Plinius dem Älteren. Bildlich gesprochen, war diese Überlieferung ein Fressen für Surrealisten wie Tanguy."

Dass die USA jetzt auch noch ernsthaft darüber diskutieren, ob sie Balthus abhängen sollen, entlockt Andrea Köhler nur noch fassungsloses Kopfschütteln: "Wie immer in den USA, dieser zwischen Prüderie und Pornografie, Gleichgültigkeit und Hysterie schwankenden Nation, gerät dabei der Common Sense, genauer: der rationale Diskurs, schnell aus dem Blick. Die Überreaktion ist programmiert."

Weiteres: Im Standard anaylsiert Gudrun Harper die Meldung der New York Times, derzufolge der Leonardo da Vinci zugeschriebene "Salvator Mundi" von einem saudischen Prinzen für den Louvre Abu Dhabi gekauft wurde.
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Bühne


Apichatpong Weerasethakuls Installation "Fever Room" in der Berliner Volksbühne.

Patrick Wildermann kommentiert im Tagesspiegel recht böse die Berliner Bühnenpremiere des thailandischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul, den er eigentlich für seine traumschönen Filme voller Geister und wandernden Seelen schätzt: "Wie weit 'Fever Room' davon entfernt ist, wird spätestens klar, wenn Weerasethakul nach ungefähr einer Stunde die Leinwände hochfahren und die Vorhang sich öffnen lässt - für eine nicht enden wollende, esoterisch wabernde Licht- und Nebel-Show mit düster umdröhnter Rauchspirale. Vielleicht soll eine Art Nahtoderfahrung suggeriert werden? Das Ganze sieht aber mehr aus wie die unseligen Lasershows im alten Zoopalast, falls sich jemand erinnert. Eine Effekte-Kirmes jedenfalls, das Gegenteil von Poesie."

Weiteres: Egbert Tholl meldet in der SZ erfreut, dass der Basler Intendant Andreas Beck 2019 die Leitung des Bayerischen Staatsschauspiels übernehmen wird. Dirk Pilz gratuliert in der Beliner Zeitung der Schauspielerin Jutta Lampe zum Achtzigsten.
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