Efeu - Die Kulturrundschau

In einem Puppentheater der Gedanken

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27.02.2018. Der Guardian erlebt in der Tate Britain vor den Bildern Lucian Freuds den Schock der Wirklichkeit. Die SZ bewundert die knochigen Leiber des Egon Schiele. In der Berliner Zeitung spricht Hans Neuenfels über Salome und ihre Radikalität ohne Zukunft.  Die NZZ schürft nach literarischen Nuggets. Und in der FR  berichtet der Regisseur Klaus Gietinger von den immer tristeren Arbeitsbedingungen bei den Öffentlich-Rechtlichen. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2018 finden Sie hier

Kunst


Lucian Freud: Girl With a White Dog, 1950-51. Tate Britain

Brillant, überwältigend und mutig findet Jonathan Jones im Guardian die große Schau "All Too Human" in der Londoner Zate, die den Menschen in der modernen Malerei betrachtet. Besonders bei Lucian Freuds Bildern erlebte er reine Sinnlichkeit und Ehrlichkeit: "Freud ist ein Künstler, der - wie Caravaggio - den Schock des Wirklichen bereithält, das verstörende Gefühl, dass man in seinen Bildern das Leben sieht, nicht die Kunst. Die Intimität dieses seltsamen, liebenswerten Porträts wird in späteren Arbeiten noch entwaffnender. Von den monumentalen Gemälden, die Freud in den späten Neunzigern malte, haben die Kuratoren eines ausgewählt, auf dem Freud sich zwei überragenden Charakteren widmet: dem  Performance-Künstler Leigh Bowery und Benefits Supervisor Sue Tilley. Tilley schlummert in einem Sessel, während der Künstler ihre schlafende Fülle beobachtet. Bowery ist auch in seinen Träumen ertappt, sein großer rasierter Schädel liegt zart auf seinen weichen Schuldern. Diese Bilder machen die Menschen in ihnen nicht nur unmittelbar für uns, sondern ungeheuer fesselnd: so dringlich, nah und bizarr wie das eigene Gesicht im Spiegel."


Egon Schiele: Sitzender Männerakt (Selbstdarstellung), 1910 © Leopold Museum, Wien

Zum hundersten Todestag widmet das Wiener Leopold Museum dem Maler Egon Schiele eine große Jubiläumsschau, in der SZ kann sich Gottfried Knapp gar nicht satt sehen, an Schieles knochigen Leibern mit den eckigen Gesten: "Immer wieder ist es der eigene abgezehrte Körper, der die heftigsten Signale aussendet. Seine Gelenke bohren sich durch die empfindliche Haut; sein Geschlecht ist zu einem roten Knoten geschrumpft; seine Arme und Beine sind nicht nur im Wortsinne Extremitäten, sie verhaken sich tatsächlich zu extremen Formen; und das Gesicht wird zum Schlachtfeld der Farben, ist zu Grimassen verzerrt oder vom Bildrand brutal überschnitten. Es ist, als müssten alle Formen von Ekstase, Schmerz, Wut, Lust oder Verzweiflung auf das Papier oder auf die Leinwand geschrieben oder geschrien werden. Mal ist das Fleisch blutig rot unterlaufen, mal mutiert es in faulige Grüntöne hinüber. Mal fehlen ganze Teile der angedeuteten Anatomie. Mal bleibt von einem Körper nur der Kopf übrig und der Unterarm, der das Kinn stützt, aber so aussieht, als sei er abgehackt worden."

Weiteres: NZZ-Kritiker Michael Diers lernt in einer Schau über den Ausstellungsmacher Harald Szeemann im Getty Reseach Institute in Los Angeles, wie mit Szeemann erstmals der Kurator all jene Attacken auf sich zog, die sonst den Künstlern galten.
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Bühne

Im Interview mit Irene Bazinger spricht Regisseur Hans Neuenfels in der Berliner Zeitung über seine anstehende "Salome"-Premiere an der Berliner Staatsoper, das Grenzüberschreiten und die Frage, ob es frauenfeindlich sei, dass Salome sterben muss, die für ihren Tanz den Kopf des Täufers Johannes gefordert hat: "Salome muss umgebracht werden! Denn ihre Form der Radikalität ist zukunftslos. Ein Leuchtfeuer, das schnell wieder verlischt! Sie ist auch ohne jeden Hauch von Versöhnung. Im Sinne von Oscar Wilde wäre das nämlich christlich und hieße einlenken - das geht aber für sie nicht ... Nach meiner Meinung ist es weder frauen-, noch männer-, noch menschenfeindlich oder -freundlich. Oscar Wildes Drama stellt auf jeden Fall die radikale Haltung einer Frau in den Mittelpunkt, die ihre eigene Lust rigoros verteidigt. Für Wilde war das auch ein Protest gegen die strengen Gesetze seiner viktorianischen Zeit."

Besprochen werden Ferdinand Schmalz' Neudichtung des "Jedermann" am Wiener Burgtheater (die sich laut Margarete Affenzeller im Standard gekonnt die Bigotterie vom Leib hält), Tschaikowskis "Eugen Onegin" an der Wiener Staatsoper (Standard), Claus Guths Inszenierung von Händels Oratorium "Saul" am Theater an der Wien (NMZ), Glucks "Orphée et Euridice" an der Mailänder Scala mit Juan Diego Flórez (NZZ), Claus Peymanns Rückkehr ans Schauspiel Stuttgart mit Shakespeares "König Lear" (FR), Heiner Müllers aktualisierte "Hamletmaschine" von Sebastian Nübling und dem Exil Ensemble am Maxim Gorki Theater Berlin (Tagesspiegel), die Schauspielerproduktion von David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß" in den Berliner Sophiensälen (SZ), Albert Serras schon weidlich zerrupfte Huldigung der Libertinage an der Berliner Volksbühne "Liberté" (taz, FAZ).
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Film

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist fürstlich ausgestattet, spart sich aber gerade dort kaputt, wo es eigentlich punkten könnte: An der Qualität des Programms. Das zumindest erfährt man am Rande in dem FR-Gespräch, das Claus-Jürgen Göpfert mit Regisseur Klaus Gietinger geführt hat. Der berichtet von immer tristeren Arbeitsbedingungen: "Als Gietinger anfing, durfte so eine Fernseharbeit 35 Drehtage haben, 'heute sind es nur noch 19'. Der wirtschaftliche Druck auf die Regisseure, auf das ganze Team nehme immer weiter zu, die Kreativität leide darunter, 'die Überlastung führt hin bis zum Burn-out'. Gietinger schaut grimmig, wie nur er es kann, und sagt mit seiner dunklen Stimme: 'Jetzt ist eine Grenze erreicht.'"


Lyrische Zombies: Szene aus "The Walking Dead" (AMC)


An eine langfristige Erfolgsserie wie die AMC-Produktion "The Walking Dead" ist unter solchen Produktionsbedingungen natürlich nicht einmal im Traum zu denken. Auf ZeitOnline schreibt Georg Seeßlen sichtlich fasziniert über die postapokalyptische Zombie-Serie, die mittlerweile in die neunte Staffel geht. Die Serie verbinde gekonnt mehrere Genres miteinander, was "eine besondere Struktur ergibt; im Gegensatz zu einem reinen Fortsetzungsgeschehen wird immer wieder ein wenig neu angesetzt. Das Epische und das Episodische entsprechen einander." Damit könne "auch dem Lyrischen, ein breiter Raum gegeben werden. Schon in der ersten Episode, dem Piloten, erreicht dieser melancholische Lyrismus mit seinen Kameraschwenks über die Spielsachen der von Zombies ermordeten Kinder, die 'toten' Automobile, die weiten, leeren Räume der einstigen Zivilisation (...) einen Höhepunkt. Die Erzählung selbst hat die klassische Wellenform eines Western, auf die Phasen der gewalttätigen Aktion folgen solche der Ruhe und der Kontemplation."

Weitere Artikel: Für ZeitOnline führt Carolin Würfel ein Gespräch mit Regisseur Lars Kraume über dessen "Das schweigende Klassenzimmer", in dem er sich mit einer DDR-Schulklasse befasst, die im Jahr 1956 eine Schweigeminute für Opfer des Ungarnaufstands abhielt, wofür die Schüler mit Repressalien drangsaliert wurden. Im Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit Filmemacherin Hélène Angel über deren Film "Die Grundschaule". Besprochen wird Jean-Claude Carrières Buch "Buñuels Erwachen" (SZ).
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Literatur

Als digitale Literatur galt mal, wenn etwas auf einem Monitor zu lesen war und einen Link aufwies - diese Zeiten sind vorbei, schreibt Hannes Bajohr in der NZZ: Wenn heute von Algorithmen angetriebene Computer das Netz als Wortspeicher auffassen, dann ist die einst erträumte écriture automatique zum Greifen nah: Bots wie @pentametron und @censusAmericans plündern den Online-Textwust und machen daraus literarische Nuggets. Was Folgen für das Konzept des Autors hat: "Nicht nur ist der Autor kein Originalgenie mehr und wird Kurator des schon Existierenden; auch der Schöpfungsprozess verschiebt sich auf eine sekundäre Ebene: Es wird geschrieben, um dann schreiben zu lassen, denn es ist der vom Autor konstruierte Code, nicht mehr der Autor unmittelbar selbst, der den Text hervorbringt."

Für die SZ hat Oliver Meiler Andrea Camilleri in Italien besucht und mit dem 92-jährigen, fast erblindeten, aber immer noch gerne rauchenden Krimi-Autor ein sehr schönes, großes Gespräch geführt - schade, dass die Zeitung es nicht frei zugänglich ins Netz gestellt hat. Seine Romane diktiert Camilleri mittlerweile. Für den Schreibprozess bedeutet dies eine gewisse Umstellung: "Mir hilft jetzt, dass ich früher Theaterregisseur war. Wenn ich an eine Szene denke, dann stelle ich mir alles wie in einem Puppentheater der Gedanken vor und platziere darin meine Figuren." Auf die Erblindung habe sein "Körper wunderbar reagiert, er hilft mir mit den anderen Sinnen, sie kompensieren das, was ich verloren habe. Zum Beispiel ist das Gedächtnis bei mir im Alter plötzlich so klar, dass mir Erlebnisse aus der Kindheit begegnen, als wären sie gestern passiert, mit fantastischen Details. Auch das unmittelbar Erlebte ist ganz da. Für das Schreiben ist das sehr wichtig. Die Sätze, die ich formuliere, sind wie ins Gedächtnis gestanzt."

Im Logbuch Suhrkamp erklärt die Krimi-Autorin Simone Buchholz, was sie an Bars reizt: "Eine gute Bar ist ein Ort, an dem alles möglich ist. Konzentration. Zerstreuung. Glück. Ein Tanz, ein Streit, ein Kuss. Gespräche über Fußball, über Kunst, über Politik und über gebrochene Herzen. In einer guten Bar sind Menschen, mit denen all diese Dinge besser gehen als mit anderen Menschen. Weil die meisten alleine kommen, aber nicht alleine bleiben wollen." Wie es mit der Weltlage allgemein besser werden könnte, erklärt unterdessen ebenfalls im Logbuch Suhrkamp die Schriftstellerin Emma Braslavsky.

Besprochen werden Norbert Gstreins "Die kommenden Jahre" (taz), Anja Kampmanns Debüt "Wie hoch die Wasser steigen" (Zeit), J. M. Coetzees "Die Schulzeit Jesu" (NZZ), Georg Kleins "Miakro" (Tagesspiegel), neue Prosabände von Oswald Egger (SZ) und Jon McGregors "Speicher 13" (FAZ).
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Musik

In der SZ-Jazzkolumne freut sich Andrian Kreye nicht nur über Ryan Porters bereits 2008 im Keller von Kamasi Washingtons Eltern aufgenommenes, jetzt veröffentlichtes Album "The Optimist", das man online auf Bandcamp hören kann, sondern begeistert sich auch für die Arbeiten des südafrikanischen Pianisten Nduduzo Makhathini, dessen Alben hier nicht erhältlich sind, was im Zeitalter von Youtube-Videos (mit diesem ist Kreye auf Makhathini gestoßen) und Streamingdiensten zum Glück kein Problem mehr darstellt: Makhathinis "Gabe, die oft liebliche Melodik Südafrikas mit ganz leichten Blue Notes in den Jazz zu melancholisieren, treibt er auf 'Ikhambi' mit großen Ensemble auf die Spitze. Auch weil er sich der Elemente des Spiritual Jazz bedient, der Chöre und fast schon klassischen Gesanglinien, der durchkomponierten Suiten-Formen und dem unbedingten Willen, eine Avantgarde zu formulieren, die mit dem atonalen Fortschrittsverständnis des Modern Jazz wenig zu tun hat." Hier ein halbstündiges Live-Video von 2017:



Weitere Artikel: Für Electronic Beats spricht Daniel Melfi mit dem Berliner Plattenladenbetreiber Christian Pannenborg darüber, was für ein Segen es im Nachhinein war, vom Kottbuser Tor mit seinem Laden The Record Loft aus Gentrifzierungsgründen vertrieben worden zu sein, um sich in Neukölln neu positionieren und erfinden zu können. Im Tagesspiegel stimmt Detlef Giese auf das Berliner Kammermusik-Festival "intonations" ein. Mit dessen Gründerin Elena Bashkirova spricht Udo Badelt. Wenn Jay-Z auf Instagram mit dicken Champagnerrechnungen protzt, ist das ehrlicher, als wenn Drake für seine Musikvideos Geld an Arme verschenkt, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Für die FR resümiert Tim Gorbauch das Just Music Beyond Jazz Festival in Wiesbaden. Max Nyfeller berichtet in der FAZ von der "Avant Première", der Berliner Fachmesse für Musikfilmproduzenten.

Besprochen werden ein Konzert von Jamila Woods (taz), ein Konzert der Geigerin Julia Fischer und des Dirigenten Lahav Shani in der Münchner Philharmonie (SZ) und das Discovery Project des hr-Sinfonieorchesters (FR), das vom Orchester auch online gestellt wurde:

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