Efeu - Die Kulturrundschau

In diesem Film ist Gott erschienen

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15.05.2018. Der Standard stürzt sich in Graz mit Ashley Hans Scheirl in einen erotisch-psychedelischen Farbenrausch. Die Welt verfolgt in Leipzig, wie sich Arno Rink vom sozialistischen Realismus emanzipierte. Die NZZ erlebt mit Renato Guttuso in Turin noch einmal eine wahre Kundgebung der Italianità. In Cannes haben Tagesspiegel und Standard ein erstes Meisterwerk gesehen: Alice Rohrwachers  "Happy as Lazzaro".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2018 finden Sie hier

Kunst


Ashley Hans Scheirl, Hairy Deals, 2016. Künstlerhaus Graz

Im Standard porträtiert Roman Gerold die österreichische Transgender-Künstlerin Ashley Hans Scheirl, die von Maria Lassnig gelernt hat, dass Kunst immer auch die Erkundung des eigenen Körpers bedeutet, und der das Künstlerhaus Graz gerade eine Personale widmet. Besonders grandios findet Gerold ihren Film "Dandy Dust" von 1998, in dem sich ein Cyborg mit multipler Persönlichkeit auf Zeitreise begibt: "Zugegeben, für ein richtiges Märchen fehlt hier noch einiges. So oder so ähnlich könnte man aber den Film 'Dandy Dust' der Künstlerin Ashley Hans Scheirl zusammenfassen. Gerecht wird man diesem queeren Experimentalfilm mit Kategorien wie Handlung oder Figuren aber damit ohnehin nur bedingt. Man muss ihn am eigenen Leib erlebt haben, diesen 90-minütigen Aberwitz, anzusiedeln irgendwo zwischen Splatter, Cyberpunk und (Adams-)Kostümfest. Im erotisch aufgeladenen, psychedelischen Farbenrausch wird man die zentrale Botschaft mehr spüren als begreifen: Alles fließt."


Arno Rink: Terror II, 1978/79. MbK Leipzig

Als Hochschulrektor war Arno Rink der große Mentor der Neuen Leipziger Schule, in einer großen Retrospektive im Museum der Bildenden Künste in Leipzig lernt Welt-Kritiker Marc Reichwein ihn jetzt auch als Maler kennen, der sich nach und nach vom sozialistischen Realismus emanzipierte: "Rinks Frühphase - inklusive seiner eigenen Diplomarbeit, dem Gemälde 'Lied vom Oktober II' zur Russischen Revolution 1917 - bedient noch ganz das, was vom System gewollt und gefragt war. Die politischen Sujets setzen sich mit 'Canto Libre' (Pablo Neruda im Kuba- und Chile-Kontext) fort und führen über erotisch-mythologische Motive zu Rinks besonderer Vorliebe für komplexen Bildaufbau. Leitern, manchmal aber auch nur nicht getilgte Hilfsstriche regieren Rinks Kompositionen der frühen 80er-Jahre, während er später immer düsterer und dunkler wird. In 'Die Nacht' oder 'Die Höhle' sieht die Persönlichkeit psychisch schon sehr mitgenommen aus."

Weiteres: Kaum etwas vermisst man so schmerzhaft wie die alte Italianità. NZZ-Kritikerin Caroline Kesser hat noch einmal einen Hauch von ihr in Turin zu spüren bekommen, wo die Galleria Civica das Werk des Malers und kommunistischen Aktivisten Renato Guttuso zeigt.
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Bühne

Uwe Mattheiss denkt, angeregt von Dries Verhoevens Performance "Phobiarama", in der taz darüber nach, wie das Theater reagieren kann, wenn der Populismus die Politik zu einer Arena aus Bildern und Affekten macht, wenn an die Stelle der Fakten die Magie der inneren Überzeugung tritt? "Seit der Antike wollte es so aus Zuschauern bessere Bürger machen. Bürger, die autonom, rational und ethisch begründet handeln. ... Die Klaviatur der Emotionen, auf der das Theater über Jahrhunderte so virtuos spielte, ist verbrannt, endgültig. Seine Aufgaben sind nun andere: Räume des Handelns und Verhandelns vorwegnehmen, die das Gespräch in einer Gemeinschaft der Verschiedenen ermöglichen; ein Ort sein, der permanent die Neugründung von Gesellschaft vorstellt.

Mit Dimitris Papaioannous Stück "Seit Sie" erlebt Dorion Weickmann in Wuppertal die Wiedergeburt des Tanztheaters aus dem Geist der Pina Bausch. Hier tut sich Zukunft meint sie, nur die Geschlechterbilder findet sie etwas porös: "Vielleicht hat die Post-Pina-Gemeinde in Wuppertal noch nicht registriert, dass der bürgerliche Geschlechterkampf sich in der Phase seiner historischen Abwicklung befindet." In der FR vermisst Sylvia Staude trotz aller Schönheit der Bilder die Bewegung.

Weitere Artikel: Auf der ganzen ersten Seiten des FAZ-Feuilletons trauert Gerhard Stadelmaier um Karl-Ernst Herrmann, den "Zauberkönig der Bühnenbildner", im Tagesspiegel schreibt Peter von Becker den Nachruf auf den Schaubühnen-Mitbegründer und "Weltraumkünstler". Eva Birringer porträtiert in der Welt die Theaterautorin Dea Loher, die nicht viel von politischem Theater oder Femenismus hält: "Feminist/in nennt sich doch jede/r, das heißt gar nichts. MeToo ist längst überfällig, wird aber nicht viel bringen, weil unsere Gesellschaft zu schizophren-verlogen ist."
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Musik

Reiner Wandler meldet in der taz, dass der spanische Rapper Josep Miguel Arenas allein wegen seiner Liedtexte zu einer Gefängnisstrafe von über drei Jahren verurteilt wurde: Vorgeworfen wurde ihm, Terrorismus verherrlicht sowie König Juan Carlos I. und Regierungschef Mariano Rajoy.beleidigt zu haben. Im New Statesman würdigt John Harris Can und den deutschen Progrock, dem Harris einen "wunderbar deutschen Mix aus Sinnlichkeit und Praktikabilität" abgewinnt. Dazu passend hat sich der Hosenhersteller Carhartt zwecks Bewerbung einer neuen Merch-Linie ausführlich und anekdotenreich mit Michael Rother von Neu! unterhalten.

Christian Schröder (Tagesspiegel) und Jan Ulrich Welke (Stuttgarter Zeitung) gratulieren Brian Eno zum 70. Geburtstag. Für Deutschlandfunk Kultur hat sich Marcel Anders aus diesem Anlass mit dem Ambient-Komponisten unterhalten. Mit "Music for Installations" gibt es außerdem ein neues Boxset, daraus ein Auszug:



Besprochen werden Ry Cooders neues Album "The Prodigal Son" (Tagesspiegel), ein Auftritt von Kreisky (Tagesspiegel) und ein Konzert von Jonas Kaufmann (Standard).
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Literatur

Gut gelaunt berichtet Roman Bucheli in der NZZ von den Solothurner Literaturtagen, wo er zudem mit der Schriftstellerin Margriet de Moor spazieren gegangen ist. Joseph Hanimann schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Literaturwissenschaftler Gérard Genette.

Besprochen werden unter anderem Lydia Davis' Erzählungsband "Samuel Johnson ist ungehalten" (SZ), Michiko Flašars "Herr Katō spielt Familie" (taz), Elfriede Jelineks unverfilmt gebliebenes Drehbuch "Eine Partie Dame" (NZZ), George Saunders' "Lincoln im Bardo" (Welt), Edward Docx' "Am Ende der Reise" (FAZ) sowie die Neuübersetzungen von Ismail Kadares Romanen "Die Dämmerung der Steppengötter" und "Die Verbannte" (NZZ).
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Architektur

Zurückhaltend und sensationell in einem findet Marion Löhndorf den Umbau der Londoner Royal Academy of Arts durch Architekt David Chipperfield: "Zuvor brachliegende, jahrelang ungenutzte Museumsräume wurden in der Folge neu belebt, ganze Fluchten von Ausstellungs- und Lehrsälen hinzugefügt, so dass sich die nutzbare Gesamtfläche des Hauses um 70 Prozent erhöhte.Die neuen Zimmer im betagten Bau strahlen heitere Gelassenheit aus. Chipperfield produzierte, was ihm auch schon im Neuen Museum in Berlin gelang: eine fast nahtlose Fusion von alter Substanz und Erneuerung."
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Film

Grobes Korn: Alice Rohrwachers "Happy as Lazzaro" ist auf 16mm gedreht

Künstlerisch ist Cannes 2018 ein guter Jahrgang, lautet Dominik Kamalzadehs Zwischeneinschätzung im Standard. Doch erst mit Alice Rohrwachers "Happy as Lazzaro" hat der Wettbewerb sein erstes großes Meisterwerk preisgegeben - gekrönt wurde die Vorführung durch viertelstündigen Applaus, erfahren wir. Der Jubel kam zu Recht für diesen Film, "der sich von allen Zwängen entkoppelt. Er setzt auf die Kraft des Fabulierens, um unter der Oberfläche des Faktischen eine tiefer liegende Realität aufzudecken." Die Regisseurin überhöhe "eine realistische Erzählung mit volkstümlichen Elementen und verbindet auf diese Weise zwei Welten und deren Praxis ökonomischer Ausbeutung. Rohrwachers Held Lazzaro (Adriano Tardiolo) ist eine arglose, reine, ja heilige Figurwie aus einem Film von Pasolini. Er wird zum Wandler zwischen den Zeiten."

Zu Tränen gerührt ist Andreas Busche vom Tagesspiegel: "Es ist schwer in Worte zu fassen, was Rohrwacher mit ihrem dritten Film eigentlich vollbracht hat. ... Rohrwachers Film ist wie aus der Zeit gefallen: Die leicht unscharfen 16-Millimeter-Bilder mit den runden Ecken und den ausgefisselten Bildrändern evozieren eine Epoche, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart parallel zu existieren scheint." Auch Lukas Stern von critic.de. taumelt cinetrunken aus dem Saal und verkündet: "In diesem Film ist Gott erschienen."

Die Macht der Ekstase: Gaspar Noés "Climax"

Gaspar Noé ist auf Skandalfilme abonniert: Auch sein neuer Film "Climax" fühlt sich wieder an wie ein Besuch im schummrigen Sexclub nach Mitternacht, versichert Joachim Kurz auf Kino-Zeit: Es geht um "die Macht der Ekstase und die Schattenseiten des Dionysischen. ... Man spürt den Beat, riecht den Schweiß, meint förmlich das Adrenalin und die Pheromone mit den Händen greifen zu können."

Mit seiner außer Konkurrenz in Cannes gezeigten Doku "Papst Franziskus" lässt Wim Wenders es so richtig krachen, erfahren wir von Tobias Kniebe in der SZ: Der Filmemacher habe "sich offenbar vorgenommen, Papst Franziskus' größter Propagandist zu werden, und bei diesem hehren Ziel kennt er dann wirklich keinerlei Hemmungen." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte bringt zwar ebenfalls durchaus Sympathien für den Pontifex auf, muss sich angesichts der Lobhudeleien des ergebenen Filmemachers allerdings doch fragen, was dieser "kaum von einem PR-Produkt unterscheidbare" Film bei einem Festival wie Cannes verloren hat.

Wenke Husmann schreibt auf ZeitOnline ausführlich über Jean-Luc Godards Experimentalfilm-Essay "Livre d'Image" (mehr dazu hier), der sie "ein wenig an Bücher wie 'Moby Dick' oder 'Ulysses' erinnert, die auch die ganze Welt erzählen." Tim Caspar Boehme (taz) und Beatrice Behn (Kino-Zeit) besprechen Jafar Panahis "Drei Gesichter" (mehr dazu hier). Für den Perlentaucher ist Lutz Meier vor Ort, bei Artechock sendet Rüdiger Suchsland Festivalnotizen und wie immer lohnt der schnelle Blick in den critic.de-Kritikerspiegel für einen raschen Überblick über die Stimmungslage an der Croisette.

Außerdem: Unter anderem der Standard meldet den Tod der Schauspielerin Margot Kidder, die als Lois Lane in den "Superman"-Filmen der 70er und 80er bekannt wurde.
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