Efeu - Die Kulturrundschau

Eingesperrt zwischen Käse und Freiheit

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14.11.2018. Das Lüders-Haus im Regierungsviertel sollte an die athenische Demokratie erinnern, aber es bleibt wohl eher ein Wahrzeichen Berliner Baukultur,  fürchtet die FAZ. Ähnliches sieht die taz  für das neue Bauhaus-Museum in Weimar, das keine Fassade aus Glas, sondern aus Beton bekommt. ZeitOnline hört bewegt, aber natürlich ganz unöffentlich "Female Voices of Iran". Und in der NZZ beobachtet Felicitas Hoppe das Schwanken der Literatur zwischen Welt und Feuilleton.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.11.2018 finden Sie hier

Architektur

Stephan Braunfels' Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Foto: Wikimedia / Ansgar Koreng, CC-BY


Mit seiner Rotunde und seiner großen Freitreppe sollte Stephan Braunfels' wunderschönes Lüders-Haus an die athenische Demokratie erinnern, aber er bleibt durch und durch Berlin. Weil Wasser einsickert, kann der Abgeordneten-Bau nicht fertiggestellt werden, vielleicht muss er sogar abgerissen werden. In der FAZ macht Niklas Maak aber noch eine weitere Beobachtung: "Der Ton wird rauher, auch gegenüber Häusern. Die Abstände zwischen der Fertigstellung eines Gebäudes und den ersten Forderungen nach seinem Abriss werden immer kürzer. Der Palast der Republik brachte es immerhin auf fast dreißig Jahre Lebensdauer, das Technische Rathaus in Frankfurt sogar auf 35 Jahre, bei der Rotunde der 1986 fertiggestellten Frankfurter Schirn forderte der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler aber schon gut zwanzig Jahre später einen Teilabriss, weil sie der neuen Altstadt im Weg sei."

Korrigiert: Zum hundertsten Bauhaus-Jubiläum wird nicht nur in Dessau, sondern auch in Weimar ein neues Bauhaus-Museum eröffnet. Das Gebäude steht am Rand des ehemaligen "Gauforums" und hätte mit der geplanten Glasverkleidung den alten Nazi-Bau gespiegelt. Deswegen, und natürlich weil es billiger ist, gibt es eine Betonfassade, wie Ronald Berg in der taz berichtet: "Jetzt sieht der 22,6 Millionen Euro teure, von Bund und Land bezahlte Klotz allerdings fast so aus, als würde er als Luftschutzbunker aus der Bauzeit des 'Gauforums' stammen. Details wie ein angedeuteter Sockel und mächtige Tür- und Fenstergesimse sprechen die Sprache trutzig-monumentalen Bauens." Irritierend, was Berg weiter ausführt: "Der Bauplatz des Bauhaus-Museums liefert eine dezidiert politische Aussage: Die Moderne war eine umkämpfte Angelegenheit und hatte 'Beziehungen zum extremistischen Lager', so formuliert es Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung Weimar, die das neue Bauhaus-Museum unter ihre Fittiche nehmen wird."

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Literatur

Die Literatur macht große Gesten zum Status der Welt, bleibt aber im wesentlichen unter sich, erklärt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrer von der NZZ dokumentierten Eröffnungsrede zum Literaturfestival Buch Basel: "Die Literatur, das ist nun einmal ihr Schicksal, pendelt seit je zwischen einem Überschuss an poetischer Selbstreferenz und dem Versuch, an etwas Anschluss zu finden, von dem sie selbst nicht genau weiß, was es wirklich ist. Sie schwankt zwischen Aufklärung und Nostalgie, zwischen Belehrung und Anbiederung, zwischen Widerstand und Parteinahme; sie will glänzend bei sich sein und dabei trotzdem ganz ihren Lesern gehören, denn sie will immer beides: Sie will in die Welt und ins Feuilleton, sie will provozieren und gefallen zugleich. ... Wir leben wirklich in einer interessanten Zeit, eingesperrt zwischen Käse und Freiheit und flankiert von der Angst, schreibend von unserem größten Wunsch zu erzählen, eines Tages womöglich tatsächlich zu handeln."

Weitere Artikel: Ralph Trommer (taz), Wenke Husmanns (ZeitOnline) und Andreas Platthaus (FAZ) schreiben zum Tod von Comicautor Stan Lee. Besprochen werden Ulla Berkéwiczs Essay "Über die Schrift hinaus" (Freitag), A.L. Kennedys und Gemma Corrells Kinderbuch "Onkel Stan und Dan und das fast ganz ungeplante Abenteuer" (Tagesspiegel), Adam Zamoyskis Napoleon-Biografie (SZ) sowie Roswitha Quadfliegs und Burkhart Veigels "Frei" (FAZ).

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Film


Paolo
Sorrentinos Berlusconi-Drama "Loro - Die Verführten" ist wenig aufschlussreich, seufzt Fabian Tietke in der taz: Der Regisseur ackert sich auch in diesem Film bloß wieder an seinem Motiv des lüsternen alten Mann ab, der jungen Frauen nachsteigt, "ohne daraus wirklichen Mehrwert für den jeweiligen Film entwickeln zu können und ohne dass es darin Analysezugänge oder Brechungen gab. In 'Loro' kommt die erhebliche Schwäche hinzu, dass es zwar durchaus Spaß macht, Toni Servillo dabei zuzusehen, wie er Berlusconi spielt, der Film aber nie über den Allgemeinplatz von Berlusconis System der persönlichen Abhängigkeiten als politisches Herrschaftskonstrukt hinauskommt."

Dakota Johnson in Luca Guadagninos "Suspiria"

Sein Remake von Dario Argentos Horrorklassiker "Suspiria" - prominent besetzt mit Tilda Swinton, Dakota Johnson, Ingrid Caven und Angela Winkler - hat Luca Guadagnino in einer Ballettschule im West-Berlin des Jahres 1977, vor der Kulisse des Deutschen Herbsts angesiedelt. Eine sinnfällige Entscheidung, meint Philipp Stadelmaier in der SZ: "Es geht um die zerstörerischen Kräfte in Kollektiven, in einem Land ebenso wie in einer Tanzgruppe. So tanzen die okkulten Kräfte im neuen 'Suspiria' auf dem Abgrund der deutschen Geschichte, aus dem alte Gewalt und alter Schmerz in die Gegenwart zurückkehren."

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh (Standard) und Bert Rebhandl (FAZ) berichten von der Duisburger Filmwoche. Ein "veritabler Schatz" ist es, dass die Filmwoche ihre Filmgesprächsprotokolle online veröffentlicht, schreibt Rebhandl, der weiterhin Kristina Konrads "Unas Preguntas" und Andreas Goldsteins Klaus-Gysi-Porträt "Der Funktionär" als Entdeckungen des Festivals preist. Im Tagesspiegel empfiehlt Jan-Philipp Kohlmann das Festival "Afrikamera" im Berliner Kino Arsenal. 2018 ist ein hervorragendes Jahr für den Horrorfilm, meint Mat Colegate auf The Quietus.

Besprochen werden  der zweite Teil der "Phantastischen Tierwesen" (ZeitOnline) und die TV-Adaption von Patrick Süskinds "Das Parfüm", die vom ZDF zwar breit lanciert und von den Medien breit besprochen wird, dabei aber im wesentlichen auf mäßige Resonanz stößt  (NZZ, taz, SpOn).
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Kunst

Paula Modersohn-Becker: Sitzende Mutter mit Kind, 1906, Von-der-Heydt-Museum Wuppertal. Foto: Antje Zeis-Loi
Die Ausstellung "Zwischen Worpswede und Paris" zu Paula Modersohn-Becker im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum zeigt SZ-Kritiker Alexander Menden sehr schön, wie die Malerin von ihren französischen Kollegen lernte: Es kommt nicht darauf an, was man in der Natur sieht, sondern was man dabei empfindet. Wofür ihr Mann, der Maler Otto Modersohn, sie verspottete. Modersohn-Becker "besuchte kunsthistorische Vorlesungen an der Sorbonne und belegte Zeichenkurse an der École des Beaux-Arts und der Académie Colarossi. In Paris sah sie auch zum ersten Mal Werke des damals in Deutschland noch weitgehend unbekannten Paul Cézanne, die auf sie wirkten 'wie ein Gewitter oder ein großes Ereignis'. Der flächige Gestus ihrer Stillleben weist deutlich Cézannes Einfluss auf, möglicherweise auch den Paul Gaugins, obwohl nicht klar ist, ob sie dessen Werke tatsächlich sah. Überzeugend auch die Nebeneinanderstellung von einem 'Selbstbildnis mit Kette' (1903) und einem als Porträt gestalteten Deckel eines Sarkophags - die Übernahme jener reduzierten Darstellungsform, die sie an antiker Kunst so bewunderte, ist hier klar erkennbar."

Weiteres: Christian Thomas freut sich in der FR über die Wiederentdeckung des Malers Walter Ophey, dem der Düsseldorfer Kunstpalast eine Ausstellung widmet. Rolf Brockschmidt porträtiert im Tagesspiegel den syrischen Maler Khaled Al Saai, der zur Zeit als Artist in Residence im Museum für Islamische Kunst gastiert. Besprochen wird die Ausstellung "Berlin in der Revolution" im Museum für Fotografie (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst

Bühne

Besprochen werden Karin Henkels Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" in männlicher Besetzung am Deutschen Theater in Berlin (Berliner Zeitung, Nachtkritik, SZ) und Marco Štormans Neuinszenierung von Mozarts "La clemenza di Tito" am Klagenfurter Stadttheater (Standard).
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Musik

Zum zweiten Mal fand in Berlin das "Female Voice of Iran"-Festival statt, bei dem Frauen aus dem Iran auf der Bühne das tun, was ihnen zu Hause verboten ist: öffentlich singen. Christoph Dieckmann berichtet auf ZeitOnline sehr beeindruckt von den Abenden und hat dabei auch in Erfahrung gebracht, wie die Künstlerinnen das rigorose Reglement in ihrer Heimat umgehen: "Musik begleitet im Iran das ganze Leben - seit frühester Kindheit: als Schlaflied. Gesungen wird bei Hochzeit und Beerdigung, bei Saat und Ernte, beim Weben und beim Melken, auf der nomadischen Wanderung … Was das Regime öffentlich untersagt, ist privat erlaubt. Der Garten zählt zum Haus; dort musiziert man (frau) nach Belieben, selbst wenn 200 Freunde eingeladen sind. Vielleicht hat jemand ein Handy dabei. Möglicherweise findet, was er vernimmt, weitere Freunde, auf Instagram. Orientalische Logik wirkt nicht strikt. Verbindlich ist die kulturgemeinschaftliche Tradition. Die Gegenwelt der Diktatur heißt Häuslichkeit." Auf Vimeo kann man sich die Auftritte aus dem vergangenen Jahr ansehen - laut Dieckmann sollen hier auch bald die Konzerte des aktuellen Jahrgangs zu finden sein.

Weitere Artikel: Gerhard Felber schreibt in der FAZ über die logistische Anstrengung der morgigen Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" in Berlin, für die sich Ensembles aus Vorpommern, Stettin und Klaipeda zusammengetan haben, um an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zu erinnern. Josef Engels plaudert in der Welt mit Jeff Goldblum über dessen Jazzdebüt. Jürgen Moises freut sich in der SZ auf das heutige Münchner Konzert von Gewalt. In der SZ porträtiert Michael Stallknecht den Schlagzeuger Simone Rubino.

Besprochen werden die Deluxe-Neuausgabe des "White Albums" der Beatles (Standard), ein Konzert der Geigerin Patricia Kopatchinskaja (NZZ), David Lynchs und Angelo Badalamentis Album "Thought Gang" (Pitchfork), neue Rossini-Editionen (online nachgereicht von der FAZ), eine BR-Doku über Georg Ringsgwandl, der morgen 70 wird (FAZ), das neue Karies-Album "Alice" (Jungle World), der Berliner Auftritt von Human League (Tagesspiegel), das Frankfurter Konzert von Vijay Iyer und Nik Bärtsch (FR) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das Comeback der Smashing Pumpkins (SZ). Daraus ein aktuelles Video:

Archiv: Musik