Efeu - Die Kulturrundschau

Surrealisierung des Alltags

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2018. Blutiger Slapstick, Abziehbilder der Trivialpsychologie, angepinselte kunstreligiöse Weltabgewandtheit, entlarvte Machtgier - die Theaterkritiker kauen am Ergebnis eines Macbeth, an dem Shakespeare, Heiner Müller und Michael Thalheimer feilten. Die NZZ studiert die Kunst der Blöße im antiken Griechenland. Die taz porträtiert den japanischen Synthie-Folk Komponisten Haruomi Hosono. Die FAZ denkt über die neunziger Jahre in der russischen Literatur nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2018 finden Sie hier

Bühne

Macbeth in Fahrt. Foto: Matthias Horn


Blutige Machtkriegspolitik kann man in Michael Thalheimers Inszenierung des - von Heiner Müller bearbeiteten - "Macbeth" am Berliner Ensemble studieren. "Apocalypse now and ever" ist Müllers Schlag- und Schlachtwort, notiert Peter von Becker im Tagesspiegel, von Bearbeitung wie Inszenierung herzlich unbeeindruckt: "Thalheimer folgt gleichermaßen Shakespeare-Müllers Macho-Ästhetik wie den Abziehbildern der Trivialpsychologie. Zudem wird hier von Frauen offenbar gerne Männerblut geleckt, und alle schnippeln und metzgern immer wieder an den abgeschnittenen Gummipimmeln der diversen Macbeth-Opfer. Was aber tragen die Mörder, unterhalb der Königsklasse? Blutige Gummischürzen wie aus der Bühnenfleischerinnung (Kostüme Nehle Balkhausen). Selten also wirkte eine Thalheimer-Inszenierung einfältiger."

Für den erfreuten SZ-Kritiker Peter Laudenbach hat das Herrentrio Shakespeare, Müller, Thalheimer ganze Arbeit geleistet, die Folgen der Machtgier bloßzustellen: "Statt den Todesreigen der Machtelite mit erhabenen Momenten zu veredeln, ist Müllers Blick nicht frei von Schadenfreude. Einzig den Hexen, die Macbeth mit der sich selbst erfüllenden Prophezeiung der ihm zukommenden Königswürde auf den Thron und damit ins Verderben stürzen, gilt seine ungeteilte Sympathie, weil sie, so der Dramatiker in einem Interview, 'ausnahmslos alle Mächtigen zerstören'. Michael Thalheimer unterstreicht in seiner ungemein dichten 'Macbeth'-Inszenierung am Berliner Ensemble genau diese Mechanik des leer laufenden Machtkampfs, die auf die beruhigende Wirkung moralischer Wertungen ausdrücklich verzichtet."

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung sieht vor allem blutigen Slapstick. Und: "Dieser aufgepumpte und zerdehnte Abend trägt seine laute, schwarz angepinselte kunstreligiöse Weltabgewandtheit vor sich her. Seine aufgesetzte Langsamkeit ist der gemeinste und zugleich wirkungsvollste Effekt. Als würde jemand zugleich Vollgas geben und mit großer Unerschütterlichkeit auf den Klötzern stehen. Nervt." Das sind "zwei Stunden, die nicht leicht vergehen, aber drängend im Gedächtnis bleiben", schreibt FAZ-Kritiker Simon Strauß, auch wenn die starke Stilisierung hier alles "starr stellt". Nachtkritiker Michael Wolff ist das ausgestellte Menschenbild etwas zu simpel: "Wenn sich das Theater hier eine Sekunde lang vergäße, könnte es in Zweifel geraten, ob die Welt wirklich so schlecht ist. Ob der Mensch dieses Bildnis seiner selbst wirklich verdient." Hannah Lühmann (Welt) ist am Ende "gut gelaunt, ohne so richtig zu wissen, warum".

Weitere Artikel: Die Postkolonialismusdebatte hat längst auch das Theater erreicht, schreibt Anne Katrin Fessler im Standard und bringt uns auf den neuesten Stand. Im Tagesspiegel schreibt Gregor Dotzauer eine Hommage auf die chinesische Kunqu-Oper, die heute und morgen im Haus der Berliner Festspiele von der Shanghai Kunqu Opera Company dargeboten wird. Anlässlich der Barocktage an der Berliner Staatsoper unterhält sich Eleonore Büning für den Tagesspiegel mit dem Dirigenten Christophe Rousset über französische Barockmusik.

Besprochen werden außerdem Nikolaus Habjanas Inszenierung von Werner Schwabs Radikalkomödie "Volksvernichtung" am Wiener Akademietheater (Presse, nachtkritik) und Felix Rothenhäuslers Adaption von Jonathan Safran Foers Roman "Hier bin ich" am Theater Bremen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Praxiteles, Aphrodite von Knidos, um 430 v. Chr.. Foto: Marie-Lan Nguyen
Das auch im freizügigen antiken Griechenland Nacktheit nicht gleich Nacktheit war, lernt NZZ-Kritiker Thomas Risi in einer Ausstellung des Antikenmuseums Basel: "Nackt! Die Kunst der Blöße". Es kam wie immer auf den Kontext an. "Männliche Figuren waren seit der archaischen Zeit im 7. Jahrhundert v. Chr. nackt. Doch bis ein Künstler es wagte, eine weibliche Figur so darzustellen, vergingen ein paar Jahrhunderte. Das Standbild der Aphrodite, das der Bildhauer Praxiteles für ein Heiligtum in Knidos in Kleinasien schuf, war das erste, das eine weibliche Figur ganz ohne Bekleidung zeigte. ... Die Statue war zu ihrer Zeit, Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., ein Skandal. Und im Grunde ist sie es noch heute: weil sie den Betrachter zum Voyeur macht. Die Göttin blickt erschreckt auf, und wir sind uns bewusst, dass wir etwas sehen, was wir eigentlich nicht sehen dürften."

Weitere Artikel: Die Presse stellt das Projekt "Inside Bruegel" vor, bei dem man mit Hilfe eines von der TU Wien entwickelten Kamerasystems noch unter die sichtbaren Farbschichten in die Bilder Bruegels eintauchen kann. Zum Tod des amerikanischen Minimal-Art-Pioniers Robert Morris schreiben Christiane Meixner im Tagesspiegel und Anne Katrin Fessler im Standard.

Besprochen werden die Füssli-Ausstellung im Kunstmuseum Basel (NZZ), "Meisterwerke" des Fotografen August Sander im Kölner Mediapark (Tagesspiegel), eine Klimt-Ausstellung im Museum Moritzburg in Halle (FR), die Ausstellung "Es war einmal in Amerika" im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (SZ), die Ausstellung "Bodys Isek Kingelez: City Dreams" im Moma in New York (FAZ) und eine Ausstellung mit Schätzen der mykenischen Kultur im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe ("Vieles ist erstmals außerhalb Griechenlands zu sehen - oder wurde überhaupt noch nie gezeigt - und ist nun in konziser Weise dargeboten", freut sich Tilman Spreckelsen in der FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

In der Literarischen Welt winkt Marc Reichwein ab, was den Versuch der FAZ betrifft, eine neue Auschwitz-Debatte um Martin Walser loszutreten (mehr dazu hier und hier). Die Reihung Golgatha, Verdun, Auschwitz und Hué in dem im Original 1968 erschienenen, im neuen Band "Spätdienst" wieder ans Tageslicht gekommenen Walser-Gedicht verortet er vor dem zeithistorischen Hintergrund: "Auschwitz- und Völkermord-Vergleiche waren im Protestmilieu gegen den 'faschistisch-imperialistischen' Vietnamkrieg damals an der Tagesordnung. Gerade diejenigen, die sich wie Walser intensiv mit den Nazi-Verbrechen auseinandersetzten ('Unser Auschwitz' heißt sein Aufsatz zu den Prozessen von 1965), hatten dieses Anliegen. Sie deuteten das Schweigen der Bundesregierung zum Vietnamkrieg als Zeichen einer mangelnden Aufrichtigkeit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. ... Kein neuer Walser-Skandal also; eher eine Zeitkapsel aus der Realität der Bonner Republik."

Christiane Pöhlmann hat für den literarischen Wochenend-Essay der FAZ nachgelesen, wie sich das Jahr 1993, als Panzer durch Moskau rollten, und generell die neunziger Jahre in der russischen Literatur niedergeschlagen haben: "Es folgt die Dekade des wilden Kapitalismus. Nichts ist mehr sicher, sogar Vernehmungsakten des KGB werden verscherbelt. Maßlose Korruption und Kleptokratie, ausstehende Gehälter, Prostitution und Drogenhandel, Gewalt und Kriege prägen den Alltag. Die Restauration lässt nicht lange auf sich warten. Zeugnisse dazu lesen sich wie grausame Krankenakten. Es gibt nur noch den Kampf ums nackte Überleben. Bis auf den Maßstab war jedoch all das nicht neu. Sergej Lebedew, Jahrgang 1981, beschreibt in seinem Roman 'Menschen im August' das Umschlagen einer quantitativen Veränderung in eine qualitative als Surrealisierung des Alltags."

Weitere Artikel: Läuft bei Suhrkamp, stellt Gerrit Bartels im Tagesspiegel fest. Beim Besuch in Norwegen staunt SZ-Kritikerin Christine Dössel nicht nur darüber, dass sich der Autor Matias Faldbaken in seinem neuen Roman "The Hills" vom derb-säuischen Stil seiner früheren Bücher verabschiedet hat und in der Begegnung ein ausgesprochen zurückhaltender und freundlicher Mensch ist. Uta Rüenauver befasst sich im Dlfkultur-Feature mit Müdigkeit in der Literatur. Im Dlf-Feature nehmen derweil Jane Tversted und Martin Zähringer den Klimawandel in der Literatur in den Blick. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um James Joyce' "Ulysses". Die Literarische Welt dokumentiert Wolf Biermanns Dankesrede zum Ernst-Toller-Preis. In der FAZ gratuliert Jan Wiele Schriftsteller T.C. Boyle zu dessen morgigen 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (taz), Maruan Paschens "Weihnachten" (ZeitOnline),Guillermo Arriagas "Der Wilde" (taz), Heinz Helles "Die Überwindung der Schwerkraft" (Welt), Paul Beattys "Der Verräter" (Intellectures), Chinelo Okparantas "Unter den Udala Bäumen" (Freitag), Tom Rachmans "Die Gesichter" (NZZ), Bettany Hughes' "Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt" (NZZ), zwei neue Romane von Gabriela Adameşteanu (FAZ) und Esther Kinskys neuer Lyrikband "kő növény kökény" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Zunahme von Kompexität: Steve McQueens "Widows"
Interessant irritierend findet taz-lerin Barbara Schweizerhof es, wie Steve McQueen in seinem neuen, mit Frauen besetzten Film "Widows" mit den Mechanismen des Heist-Movies umgeht: "Es ist gar nicht leicht zu beschreiben, welche Strategie McQueen hier verfolgt: Unterwandert er das Genre, indem er es feminisiert? Stellt er es vom Kopf auf die Füße, indem er einen präzisen soziologischen Boden einzieht, der Geschlechter- und Rassenverhältnisse in den heutigen USA zentral setzt? Jede Verallgemeinerung geht vorbei an der Fülle der Details, mit denen McQueen aus 'Widows' so viel mehr macht als nur eine Version eines Heist-Movie 'mit Frauen'. Was immer wieder wie irritierende Abwege vom Pfad des Genrefilms erscheint, (...) erweist sich ein ums andere Mal als Zunahme von Komplexität - und damit von Dingen, die es noch zu begreifen gilt."

2019 wird das Jahr der "Streaming Wars", wenn die ersten großen Hollywood-Studios ihre Backkataloge nicht mehr via Netflix und Konsorten, sondern exklusiv über eigene Streamingportale auswerten. In der SZ umreißt David Steinitz die Grundlagen, Konstellationen und Risiken dieses Konflikts - und spricht nicht zuletzt von großen Herausforderungen für die Studios. Denn: "Hollywoodstudios wie Warner und Disney haben mit Zweitverwertungen für DVD- oder TV-Rechte immer viel Geld verdient. Allein beim Comic-Blockbuster 'Black Panther' hat Disney durch den Verkauf der Post-Kino-Rechte laut Hollywood Reporter mehr als 150 Millionen Dollar eingenommen. Diese Einnahmen fallen aber weg, sobald die Studios ihre Filme nur noch hausintern für ihre Streamingdienste verwenden. Um auf die alten Summen zu kommen, werden sie viele Abos verkaufen müssen."

In diesem Zusammenhang nicht uninteressant: Dieses rund einen Monat alte Video von Funk, in dem Rayk Anders sehr plausibel darlegt, warum das Versprechen der niedrigschwelligen Allverfügbarkeit "aller" Filme sich auch weiterhin nicht erfüllen wird, sondern wir einfach nur einer Zukunft eingehegter Gärten entgegen sehen, die allesamt individuell Eintritt verlangen (die Schmonzetten aus den Anstalten gibt's natürlich auch nicht umsonst):



Weitere Artikel: Im Cargo-Blog setzt Bert Rebhandl seine Reihe mit Lektüren der Zeitschrift Filmkritik fort. Besprochen werden Camille Vidal-Naquets "Sauvage" (critic.de, mehr dazu hier), Christian Froschs "Murer - Anatomie eines Prozesses" (Freitag), Eva Trobischs "Alles ist gut" (Standard), Marcelo Martinessis "Die Erbinnen" (Freitag) und der Kino-Dokumentarfilm über den Modedesigner Alexander McQueen (FR, mehr dazu hier und hier).
Archiv: Film

Musik

In der taz erzählt Detlef Diederichsen den Werdegang des japanischen Produzenten und Komponisten Haruomi Hosono, dessen frühe Alben in einer Box wiederveröffentlicht wurden: Im Kern dreht sich Hosonos Werk um den fremden Blick auf den Sehnsuchtsort USA, erfahren wir: Auf seinen erst folkig angehauchten, später mit Synthesizern eingespielten Soloalben "treibt er mit schwül-bunten Covergemälden und milchig-verschwommenen Songs aus einer tropisch-träumerischen Unwirklichkeit seine Selbstinszenierung als Fremder in einer fremden Welt voran, die bei näherem Hinhören bewusst und intelligent mehrfach gebrochen ist. Da ist eine Ahnung jungfräulicher pazifischer Traumstrände, aber an Japans Küsten dürfte man sie kaum verorten. Stattdessen durchzieht diese Lieder ein Dauer-Feedback der US-Fernost-Sehnsüchte, deren Erfüllung ihm als Japaner genauso unmöglich ist wie ihm als denkenden Menschen. ... Abgeschmackte, rassistische Japanklischees werden umarmt wie ein verhasster, aber nun im Sterben liegender Feind."



Weitere Artikel: Eleonore Büning spricht für den Tagesspiegel mit Dirigent Christophe Rousset. In der NZZ gratuliert Marco Frei dem Orchestre de la Suisse Romande zum 100jährigen Bestehen. Im Podcast Red Scare erinnert sich Pophistoriker Simon Reynolds an den 2017 verstorbenen Poptheoretiker Mark Fisher:



Besprochen werden das neue Album von Anderson .Paak (FAZ, mehr dazu hier), das neue Album von Cat Power (FR) sowie Jerry Schatzbergs und Jonathan Lethems Bildband über Bob Dylan (FAZ).

Im Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meinecke die 62. Folge seiner "Clip//Schule ohne Worte".

Archiv: Musik